Was uns die Beteiligungszahlen heute schon sagen – und was nicht!

Die Beteiligung am kommenden Wochenende wird einen Spitzenwert erreichen; mit weiterhin unsicheren Folgen. Eine Auslegeordnung.

Die politikwissenschaftliche Forschung in der Schweiz kennt das Phänomen seit 25 Jahren. Die Stimmberechtigten der Schweiz können bezogen auf Volksabstimmungen in drei Gruppen unterteilt werden: Die regelmässig Teilnehmenden, die konstant abwesenden und die selektiv Stimmenden. Erstere machen 27 bis 30 Prozent aus; sie ging beispielsweise von einem Jahr, als wir über das Tierseuchengesetz entschieden: Beteiligung 27 Prozent. Nie abstimmen gehen 20-23 Prozent. Nicht einmal bei der EWR-Entscheidung 1992 waren sie dabei; damals nahmen 78 Prozent teil. Alles andere sind selektiv stimmenden BürgerInnen. Vereinfacht gesagt, gehört die Hälfte dazu.

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Nun liegt die mittlere Beteiligung bei eidg. Volksabstimmungen seit längerem bei rund 44 Prozent. Mit anderen Worten: konstant und gelegentlich Teilnehmende mischen sich im Verhältnis von 2:1. Steigt die Beteiligung eindeutig über 50 Prozent ändert sich das Verhältnis bis zu einem Quotienten von 1:1. Mit dieser Verschiebung geht eine wesentliche Verschiebung einher: Es nehmen die parteipolitisch ungebundenen BürgerInnen zu. Abstimmen nach Parteiparolen wird unwichtiger. Entscheidungen in der Sachfrage, aber auch aus Protest nehmen zu. Total: Alles wird unvorhersehbarer. In den USA hat man dafür einen Begriff: “normal vote situations” seien gut einschätzbar, “special or critical vote situations” dagegen nicht. In der Schweiz kommt hinzu, dass man in den letzte 10 Tagen keine Umfragen mehr publizieren darf, um genau solche Situationen analysieren zu können.

Damit es zu einer speziellen Situation kommt, braucht es eine polarisierendes Thema: Am besten eignen sich umstrittene Beitritte zu inter- oder supranationalen Organisationen.,denn sie sich hochgradig werthaltig. Typische Beispiele hierfür waren die Volksabstimmungen über den EWR-Beitritt, den UNO-Beitritt und der (abgelehnten) sofortigen EU-Beitritt. Aber auch die Abkommen von Schengen/Dublin und insbesondere die beiden bisherigen Abstimmungen über die Vignetten-Frage gehören dazu. Denn sie beinhalten einen zweiten Mobilisierungsgrund: sicht- oder erwartbare Folgen im Alltag der Menschen.

Genau das hat auch bei der Volksinitiative gegen Masseneinwanderung in der öffentlichen Meinung gespielt: Noch vor zwei Monaten war das Thema weitgehend eine wirtschaftspolitische Angelegenheit mit europapolitischen Konsequenzen. Es ging um die Wiedereinführung des Kontingentssystem, das vor der Personenfreizügigkeit Gültigkeit hatte. Gemäss SRG-Umfrage wollen sich 41 Prozent der StimmbürgerInnen beteiligen – ein Normalwert mit einer Normalbürgerschaft. Seither hat sich die Debatte stark entwickelt. Mit dem Abstimmungskampf bekam die Vorlage ihre zweites Gesicht: die Migrationsdebatte, bei der Lebensgefühle und Abstiegsängste eine Rolle spielen, umrahmt vom Vorwurf, die Behörden hätten die Kontrolle über die Zuwanderung verloren.

Das hat Bewegung in die Beteiligungsabsichten gebracht: Die Aufmerksamkeit für das Thema stieg. In der zweiten SRG-Befragung, im Schnitt 18 Tage vor dem Abstimmungssonntag gemacht, waren es bereits 47 Prozent, die sich beteiligen wollten. Extrapolationen aufgrund der täglichen Zwischenstandsmeldungen aus dem Kanton Genf lassen für den kommenden einen nationalen Teilnahmewert von 54-55 Prozent erwarten. Die 2. SRG-Befragung trug denn auch genau die Kennzeichen dieser Entwicklung: 90 Prozent Ja an der SVP-Basis, 50 Prozent bei den Parteiungebundenen, (noch) anhaltende Ablehnung bei den ParteigängerInnen ausserhalb der SVP.

Man kann nun frohlocken, und von einem gut abgestützten Entscheid schwärmen. Dem ist tatsälich so. Doch gilt auch, dass die Unvorhersehbarkeit der Komponenten, die zum Entscheid führen, gestiegen ist.

Sicher, wir sind weit weg vom Spitzenwert bei der EWR-Entscheidung. Doch liegen wir im Bereich der hohen Beteiligungsraten bei Volksabstimmungen der Schweiz. Es stehen sich zwei Grundpositionen gegenüber: die Angst sich mit einem Ja in Europa ganz zu isolieren auf der einen Seite, die Angst, die Entwicklung bei der Zuwanderung laufe ganz aus dem Ruder. Doch prägt das vor allem die fest Entscheidenen, die teilweise Entschiedenen nicht wirklich.

Vor einer Woche sprachen wir davon, dass das Elektorat vor allem bei misstrauischen BürgerInnen gewachsen sei. Was der SVP bei institutionellen Fragen regelmässig bei institutionellen Frage nicht gelingt, wie die Entscheidung über die Volkswahl des Bundesrates zeigte, schafft sie bei gesellschaftspolitischen Kontroversen immer wieder: Selbst aus der Alle-gegen-die-SVP-Position heraus kann sie ein ein Thema, das vernachlässigt wurde, gewinnt so die Medienaufmerksamkeit für sich, und mobilisiert sie die Bürgerschaft. Das war bei der Asylinitiative der Fall, der Minarettsinitiative so, und es spielte auch bei der Ausschaffungsinitiative.

Nun sind nicht all diese Volksinitiativen der SVP oder ihr nahestehender Kreise angenommen worden. Eine fixe Regel gibt es nicht, weil zu viele dynamische Faktoren das Ergebnis bestimmen: to uncertain to call!

Claude Longchamp

Ueberdurchschnittliche Mobilisierung im Kanton Genf

Gestern Dienstag hatten, dem 5. Tag vor der Entscheidung über die SVP-Initiative “Gegen Masseneinwanderung”, hatten 39,5 Prozent der Stimmberechtigten abgestimmt. Das sind überdurchschnittlich viele.

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Seit 2010 publiziert die Staatskanzlei des Kantons Genf Tag für Tag den Verlauf der brieflichen Stimmabgabe bei eidgenössischen Volksabstimmungen. In keinem anderen Kanton kann man so minutiös und zuverlässig den Stand der Beteiligung beobachten und hochrechnen. Das erlaubt es auch, die nationale Beteiligung erstmals abzuschätzen.

Der bisheriger Höchstwert entstand am Abstimmungswochenende im November 2010, an dem über die SVP-Volksinitiaitive zur Ausschaffung krimineller AusländerInnen entschieden wurde. Damals beteiligten sich 54.3 Prozent der stimmberechtigten GenferInnen.

Nun liegen die aktuellen Werte seit Dienstag letzter Woche über dieser Referenz. Die Abweichung hat sich zwischenzeitlich bei rund 3 Prozentpunkten stabilisiert. Das spricht für eine Genfer Beteiligung von 56 bis 58 Prozent.

Verglichen mit der Schweiz, kennt der Kanton Genf meist eine überdurchschnittliche Teilnahme. Die nationale Beteiligung dürfte demnach als etwas tiefer liegen, bei 54 bis 56 Prozent.

Verglichen werden können die Aussichten namentlich mit früheren Volksabstimmungen über die Personenfreizügigkeit. Demnach zeichnet sich jedenfalls im Kanton Genf eine geringere Beteiligung als 2005 ab, als die Personenfreizügigkeit provisorisch eingeführt wurde. Gegenüber 2009, als man die definitive Einführung der Personenfreizügigkeit beschloss, dürfte sie aber erhöht sein. Denn bei der ersten Entscheidung zur Liberalisierung der Zuwanderung beteiligten sich in Genf 62 Prozent, bei der zweiten 54 Prozent. National lagen die Teilnahmequoten bei den beiden genannten Abstimmunge 54 und 51 Prozent.

Festhalten kann man hier: Die Mobilisierung ist an diesem Abstimmungswochenenden wird überdurchschnittlich sein; sie hat gegenüber der 2. SRG-Befragung, die einen Zwischenstand von 47 Prozent für die nationale Beteiligung bilanzierte, nochmals zugenommen.
Keine Rückschlüsse kann daraus auf die Mobilisierungen der beiden Lager ziehen, denn über den Zwischenstand bei der materiellen Stimmabgabe darf aus Gründen des Stimmgeheimnisses auf im Kanton Genf bis am Sonntag 1200 nichts gesagt werden.

Claude Longchamp

Mein Einsatzplan am Abstimmungssonntag vom 9. Februar 2014

Wie gewohnt führt das Forschungsinstitut gfs.bern am kommenden Abstimmungssonntag die Hochrechnung zu den eidg. Volksabstimmungen durch. Hier die Uebersicht über Dienstleistungen und Termine.

Hochgerechnet werden alle drei Vorlagen, die Fabi-Vorlage, die Volksinitiative “Gegen Masseneinwanderung” und jene “Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache”. Die “Hochrechnung” beinhaltet drei Teile:

. eine Trendrechnung,
. die eigentliche Hochrechnung und
. die Erstanalyse.

Die eigentliche Hochrechnung macht quantitative Angaben zum erwarteten Ja:Nein-Verhältnis bei jeder Vorlage. Hochgerechnet wird auch die Stimmbeteiligung. Es besteht anfänglich eine Fehlertoleranz von +/-3 Prozentpunkte. Ergebnisse zwischen 47 und 53 Prozent lassen keinen verbindlichen Schluss zu. Die Hochrechnungen werden halbstündlich wiederholt; ihre Aussagekraft verbessert sich von Mal zu Mal. Die zweite hat einen Unsicherheitsbereich von +/-2 Prozentpunkten. Hochgerechnet werden in allen drei Fällen Volks- und Ständemehr. Damit eine Vorlage angenommen wird muss beides gewährleistet sein. Unterschiedliche Mehrheiten sind nicht ganz ausgeschlossen, aber nicht besonders wahrscheinlich.

Die Trendrechnungen bereitet die Hochrechnungen vor. Es werden nur qualitative Angaben gemacht, und zwar: Ja-Tendenz, Nein-Tendenz, (noch) keine Angaben möglich. Letzteres wird kommuniziert, wenn ein Ergebnis zwischen 45 und 55 Prozent im Ja- resp. Nein-Anteil erwartet wird.

Schliesslich die Erstanalysen: Sie dienen der Interpretation von klaren Zusammenhängen zwischen dem räumlichen Abstimmungsverhalten einerseits, Kontextmerkmalen wie Sprache, Siedlungsart, Wirtschaftsstruktur, Politkultur anderseits.

Die Hochrechnungen werden für die SRG-Medien in allen Landesteilen durchgeführt. Hier die Angaben zu den erwarteten Terminen in der deutschsprachigen Schweiz.

12:30 Trendrechnungen zu allen drei Sachvorlagen

13:00 1. Hochrechnungen zu Fabi und Abtreibung, Trend zu Masseneinwanderung

13:16 Trendrechnung zur Stimmbeteiligung

13:30 1. Hochrechnung zu Masseneinwanderung, 2. zu Fabi und Abtreibung

14:00 2. Hochrechnungen zu Masseneinwanderung

15:04 1. Hochrechnung Stimmbeteiligung

16:06 Erstanalyse Masseneinwanderung

16:46 Erstanalysen zuerst Fabi, dann Abtreibung

Im Anschluss an jede Publikation von Trend- und Hochrechnungen nehme ich im Radio und Fernsehen kurz Stellung zur Aussagekraft, zum Ergebnis und den möglichen Interpretationen. Um 18 45 erfolgt auf SRF der Schlusskommentar zum Abstimmungssonntag.

gfs.bern berichtet zeitnah via Twitter und www.gfsbern.ch über die Ergebnisse der Hochrechnungen.

Das gfs-Hochrechnungsteam am Abstimmungssonntag besteht aus Martina Imfeld, Stephan Tschöpe, Jonas Ph. Kocher, Philipp Rochat, Michael Kaspar und Cloé Jans. Hinzu kommt Mediensprecher Lukas Golder, die via Medienhandy des Instituts den Medien ausserhalb der SRG Auskunft gibt.

Claude Longchamp

Das Hauptszenario bei der Entscheidung zur Masseneinwanderungsinitiative – in zwei Varianten

Wer mit Szenarien arbeitet, unterstellt mehrere mögliche Verläufe. Ich denke, bei der Masseneinwanderungsinitiative reicht ein Hauptszenario mit zwei Untervarianten.

Es gehört zum fast sicheren Grundstock der Erkenntnisse aus den SRG-Umfragen zu Volksinitiativen: Sie starten besser als sie enden. Bei der Volksinitiative “gegen Masseneinwanderung” ist das nicht so – ein untypischer, aber nicht unmöglicher Fall.

Warum? Ueber Fragen der Personenfreizügigkeit haben wir schon zweimal abgestimmt: 2005, bei der provisorischen Einführung, und 2009, bei der Ueberführung ins Defintive. In der ersten Volksentscheidung waren 55 Prozent dafür und 45 Prozent dagegen, bei der zweiten stimmten 60 Prozent mit Ja und 40 Prozent mit Nein. So gesehen überraschte es nicht wirklich, dass bei der ersten Befragung unseres Instituts 37 Prozent für die SVP-Initiative, die eine Abkehr von der Personenfreizügigkeit verlangte, derweil 55 Prozent gegen die Inititive und 8 Prozent unentschieden waren.

Wenn sich nun ein atypischer Meinungsverlauf abzeichnet, hat das höchstwahrscheinlich nicht viel mit Meinungswandel zu tun, sondern mit einer veränderten Teilnahmeabsicht an der Abstimmung. Denn die sind von 41 Prozent zur Jahreswende auf 47 Prozent in der zweiten Hälfte Januar 2014 gestiegen. Mit ihr haben sich die Verhältnisse geändert, von der Nein-Tendenz hin zu einer offeneren Situation.

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Normal ist, dass die Beteiligungsabsichten zwischen zwei SRG-Wellen um 2-3 Prozent steigen. Auswirkungen auf die Stimmabsichten bleiben aus oder sind beschränkt. Jetzt ist es da Doppelte oder Dreifache – und hat Effekte. Wer im Januar neu zu den Teilnahmewilligen stiess, verteilte sich im Verhältnis von 5 zu 1 auf die Ja-Seite. Bester Beleg dazu: Personen, die dem Bundesrat misstrauen, wollen nun zu 60 Prozent stimmen gehen, in der überwiegenden Zahl für die Initiative. Dagegen bleibt die Beteiligungsabsicht von Personen mit Vertrauen in den Bundesrat zurück, bei gut 40 Prozent, weiterhin gegen die Initiative.

Die asymmetrische Mobilisierung ist denn auch der Hauptgrund, dass das Normalszenario nicht mehr spielt. Sie ist zwischenzeitlich so stark, dass wir nur noch mit dem ursprünglichern Nebenszenario arbeiten. Bekräftig wird diese Annahme durch die Ende Woche veröffentliche Medienanalyse der Forschungsstelle für Oeffentlichkeit und Gesellschaft. Sie legt nahe, dass die Intensität der Medienaufmerkamkeit seit Mitte Januar übertrifft die Medienresonanz sogar jene vor der Entsheidung zur Ausschaffungsinitiative. Der Tenor ist in den untersuchten Medien ist zwar leicht negativ, aber weder konstant, noch einheitlich: Je nach Medium überwiegt der Nein- resp. der Ja-Standpunkt. Oder zugespitzt: Das unschlüssige Mediensystem beeinflusst die Meinungsbildung der Unschlüssigen kaum mehr, die Intensität und Emotionalität der Debatte hat die Protestpotenziale aber elektrisiert!

Wenn es sich aktuell um einen Mobilisierungsfall handelt, wie wir ihn seit dem EWR kennen, wohl bei der Asyl-Initiative nachweisen konnten, und wie er wohl auch bei der Minarett-Abstimmung spielte, bleibt unbeantwortet, wie sich die Stärkenverhältnisse in der Schlussphase verändern. Das ist es hilfreich, zwei Variante des Hauptszenarios zu unterscheiden.

Im ersten Fall, nennen wir sie das “Protestvotum”, geht der Trend seit Mitte Januar 2014 ungebrochen fort. Die Mobilisierung stärkt nochmals das Ja-Lager, und es schwächt das Nein-Lager. Der Vorsprung der Nein-Seite schmilzt nochmals. Es entscheiden die Unschlüssigen, die sich beteiligen, ob es Ja oder Nein wird. Emotionalisierende Ereignisse in der letzten Wochen könnten hier der nochmalige Treiber sein.

Im zweiten Fall, “Gegenreaktion” bezeichnet, nimmt die Mobilisierung zwar weiterhin zu, es ändern sich aber die Effekte. Den GegnerInnen gelingt es, die Balance in der Zusatzbeteiligung wieder herstellen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung grösser als jene der Zustimmung. Der Trend bei Initiativen, bei sachlichen Zweifeln doch Nein zu sagen, wäre hier die zentrale Begründung für ein abflachender Ja-Trend.

Denkbar sind auch Mischungen, vor allem nach Sprachregionen, denn die Leseweisen des Themas sind vor allem in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz.

Claude Longchamp

Den Kampagnenstrategien auf der Spur

Kampagnen zu Vorlagen, über die in der Schweiz abgestimmt wird, kennen eine hohe Aufmerksamkeit, bei politischen Akteuren resp. im Publikum. Im Gegensatz dazu steht die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Phänomen der direkten Demokratie. Das soll nun anders werden.

Laurent Bernhard, der 2012 über Kampagnenstrategien im Rahmen von Volksabstimmungen doktoriert hat, nahm jüngst Anlauf, Licht ins Dunkel von Abstimmungskampagnen zu bringen. Der Mitarbeiter der Dokumentation “Année politique Suisse” hat damit begonnen, Inserate-Kampagnen der Komitees pro und Kontra genauer unter die Lupe zu nehmen. Gestern veröffentlichte er seinen Studienbericht zu den Vorlagen, über die am 22. September 2013 entschieden wurde. Für die kommenden Tage kündigte er eine Vergleichsstudie zu den Kampagnen vor dem 24. November 2013 an.

Verteilung der Inserate nach Vorlagen und Lagern

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Bei weitem nicht alle Vorlagen mobilisierten gleich viele Inserate, ist seine erste Beobachtung. Vor dem 22. September wurde dies am Gegensatz zwischen der Liberalisierung des Nachtverkaufs in Tankstellenshops einerseits, dem Epidemiengesetz anderseits deutlich. Hauptgrund: Wenn eine Vorlage ein wirtschaftliches Interesse direkt betrifft, steht in aller Regel mehr Geld für Kmapagnen und Inserate zur Verfügung.

Es gibt auch Unterschiede zwischen dem Pro- und Kontra. Beim Epidemiengesetz setzte die Pro-Seite auf dieses Kampagneninstrument, bei der Abschaffung der Wehrpflicht fast ausschliesslich das Kontra-Lager. Einzig bei der Tankstellenvorlage machten beide Seiten so mobil, denn es standen sich auf der Verbandsebene mit Economiesuisse und dem Gewerkschaftsbund zwei potente Kampagneakteure gegenüber gegenüber.

In allen drei Fällen obsiegte die Seite mit mehr Inseraten. Ein stichhaltiger Grund für Abstimmungssiege ist das alleine nicht. Eher ist es von Belang, wer bei knapper Ausgangslage davon profitieren konnte. So legten bei der Tankstellenvorlage die BefürworterInnen am Ende mehr zu als die GegnerInnen, im Volk wie auch beim Inseratevolumen.

Nebst diesen mehr quantitativen Aussagen, sind mir in der Studie drei Stichworte aufgefallen, die für mehr als eine Analyse nützlich erscheinen.

Erstens, der Steigerungslauf: Komitees, die intensiv via Annoncen werben, beginnen frühzeitung; bis eine Woche vor Schluss versuchen sie, eine kontinuierliche Steigerung in der Insensität erreichen. Höhepunkt ist die vorletzte Woche vor dem Abstimmungskampf.

Zweitens, die Dezentralisierung: Inserate in der grossen Tagespresse nicht einmal der hauptsächliche Treiber; denn die Mehrzahl der Anzeigen erfolgen verstreut in der Lokal- und Regionalpresse. Das kann aus nationaler Sicht gewollt sein; es ist aber auch möglich, dass kantonale Komitees die landesweiten oder sprachregionalen Bestrebungen ihrerseits gezielt verstärken.

Drittens, die Professionalisierung: Mit der eingesetzten Geldsumme steuern Profis Inserate-Kampagnen. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass Inhalte und Formen variiert werden, um die Aufmerksamkeit hoch zu halten und relevante Potenziale speziell anzusprechen, wie das im vergangenen Herbst bei der Tankstellenvorlage am Besten zum Ausdruck kam.

Man kann den Beobachtungen der Studie eigentlich nur zustimmen. Sie erhärten statistisch, was man intuitiv annimmt. Wertvoll sind sie, weil sie ein Analyse-Instrumentarium aufzeigt, wie das inskünftig regelmässig gemacht warden könnte. Dass es dazu kommt, ist wünschenswert. Ich verbinde das mit der Hoffnung, dass solche Untersuchungen rascher nach der Entscheidung vorliegen. Eine Publikation gemeinsam mit den VOX-Analysen ware durchaus denkbar, gäbe eine vervollständigte Rückschau auf Mechanismen der Entscheidfindung in der direkten Demokratie.

Claude Longchamp

Laurent Bernhard: APS-Inserateanalyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 22. September 2013. IPW Universität Bern, 2014 (kann direkt beim Studienleiter bestellt werden: laurent.bernhard@ipw.unibe.ch).

Die Macht der Alten

Die morgigen Alten werden nicht nur zahlreicher sein; sie werden auch anders sozialisiert sein!

Natürlich, der Titel der gestrigen Tagung, organisiert vom SeneForum, war provokativ, aber nicht grundlos formuliert. Denn es gibt zwei Leseweisen derselben Problematik: In der Gesellschaft, in der die Jugend zum grossen Leitbild verklärt wird, fühlen sich die älteren Menschen an den Rand gedrängt. Dies obwohl sie immer zahlreicher werden. Die andere Sichtweise besagt, die älteren Menschen bestimmten heute schon durch die Kraft des Faktischen, die sich aus ihrem numerischen Gewicht gibt, was heute Sache ist.

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Wenn man die Analyse nicht aus der Marketingsicht, sondern aus politischer Warte macht, wie ich das an der besagten Tagung zu Leisten hatte, komm man eher zu zweiten Schluss. Ein paar Zahlen als Beleg: 2013 wurde ich 56. Damit wechselte ich, unter den Schweizer Stimmenden von den Jüngeren zu den Aeltern. Sprich: Wer 56 ist und abstimmen geht, hat gleich viele, die jünger wie älter sind, unter den EntscheiderInnen. Der politische Medianwähler ist deutlich älter, als der Medianschweizer und der Medianbewohner, denn die sind 50 und weniger Jahre alt.
Hauptgrund ist, dass in der Schweiz die Beteiligung nicht nur, wie in der ganzen Welt, nach Schicht variiert; höhere Schichten sind politisch aktiver als tiefere. Nein, zu den Eigenheiten der Schweiz zählt, dass die Beteiligung auch nach Alter unterschiedlich ausfällt. Ab 30 nimmt sie zu, bis zirka 75, danach geht sie wieder zurück. Krass sind die Verhältnisse bei den unter 30jährigen: Im Schnitt beteiligen sich 14 Prozent der Frauen und 10 Männer in dieser Altersgruppe an eidgenössischen Volksabstimmungen.
Die politisch Aktiven in der Schweiz sind schon längst gealtert. Doch nicht nur dies: Weil alle alt werden wollen, stimmen bisweilen auch die Jungen für die Interessen der Alten; ganz anders verhält es sich bei der umgekehrten Logik, denn das Interesse der Alten Bedürfnisse der Jungen zu unterstützen, bleibt zurück. Das zeigt sich, wenn Rentenreformen, welche die Leistungen im Alter reduzieren wollen, mit grosser Mehrheit abgelehnt werden, während man sich Stärkungen von Leistungen der Jungen, etwa im Familienleben, bei der Mutterschaft oder bei Ferien, verweigert.

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Cartoonist Pfuschis spontanIllustration meines Vortrages

Sicher, lange nicht alles, was politisch entschieden wird, ist altersabhängig. Das ist die beruhigende Botschaft, denn die Alterung hat dann keine Effekte auf den Ausgang der Bschlüsse. Indes, bei gewissen Sachentscheidungen, insbesondere aber bei Wahlen ist die Alterung nicht ohne. Sie stärkt rechte Parteien strukturell, und sie erhöht das Potenzial konservativer Entscheidungen. Diese haben in den letzten 10 Jahren zugenommen, was durchaus auch in diesem Lichte gesehen werden kann.
Muss das so sein und bleiben? Mitnichten!
Eine meiner Hauptbotschaften an der gestrigen Veranstaltung war, dass wir, aufgrund des demografischen Wandels heute mehr ältere Menschen haben als gestern, und das sich dies bis Morgen nochmals in die gleiche Richtung verschieben wird. Doch unterscheiden sich die soziologischen Deutungen von den demografischen. Denn diese sind rein quantitativ ausgerichtet, abstrahieren von qualitativen Veränderungen. Da werden SoziologInnen deutlicher, denn die Sozialforschung hat sie gelehrt, dass Generationenphänomene in Prognosen nie unterschätzt werden dürfen. Sprich: Die Kriegsgeneration, die im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen ist, wurde ganz anders sozialisiert als die darauf folgenden Konsumgeneration. Und diese wurde von einer Generation abgelöst, die Lust am Konflikt rund um neue Lebensweisen hatte. Auf die 68er folgte eine Alterkohorte, die wieder mollochen, dabei aber auch richtig verdienen wollte. Die heutige Generation zeichnet wiederum die Suche nach Balance zwischen verschiedenen Ansprüchen an das Leben aus, ausgelebt in realen und virtuellen Welten
Selbst wenn sich solche Eigenheiten, die sich in der Jugendzeit ausbilden, abschleifen, wenn man älter wird: Vor allem die werthaltigen Teile der Generationenprägung erhält ich häufig bis ins aktive Alter. Entsprechen, war mein Schluss gestern differenzierter: Die Zukunft bringt uns nicht nur mehr ältere Menschen, wie wird uns auch anders geprägte SeniorInnen bringen. Die lineare Lebenslauf mit Hang zu Konservatismus im Alter wird dabei nicht einfach verschwinden, aber gemischter sein. Zu erwarten ist, das morgen PostmaterialistInnen in den Altersheimen wohnen, übermorgen die Performer kommen und überübermorgen die digitalen KosmopolitInnen den Ton angeben werden.
Das wird auch politische nicht ohne Folge sein. Und so lautete die Aussicht am Ende meines Referates: Die morgigen Alten werden mehr Macht haben, aber weniger homogen zusammengesetzt sein. Es liegt an den Parteien und politischen Akteure, die Macht ihrer Alten zu entdecken. Das würde wohl auch die Chance verringern, das eigentlichen Alterskonflikte in der Schweiz zunehmen werden!

Claude Longchamp

Entscheidungsunsicherheit ernst nehmen

Seit Samstag kennt die Debatte ueber die Volksinitiative gegen Masseneinwanderung einen neuen Term – den Minarett-Effekt. Ich zweifle, dass er Sinn macht, und begruende es, in Ruhe gerne.

Gepraegt hat den M-Effekt der Tagesanzeiger am letzten Samstag, veranlasst durch FDP-Praesident Philipp Mueller. Tags darauf doppelte Bundesrat Johann Schneider-Ammann im Sonntagsblick nach. Denn Exponenten der freisinnige Partei befuerchten, die Befragten, insbesondere ihrer Partei, koennten anders stimmen, als sie es in der Umfrage bekundeten.

Nun sind Unterschiede zwischen Ja/Nein-Anteilen und Ergebnissen durchaus moeglich. Laengst nicht alle sind aber eine Folge von Falschangaben. Vielmehr kennt die Umfrageforschung verschiedene Ursachen. Die bei weitem haeufigste ist, dass sich die Meinungen entwickeln – aus Unentschiedenen warden Entschiedene, aus Vorentschiedenen im Ja oder Nein warden Entschiedene in umgekehrter Richtung, und aus Nicht-Teilnahmewilligen warden Teilnehmende. All das aendert die Ergebnisse in Umfragen ueber die Zeit. In der Schweiz ist dies besonders bedeutsam, weil die letzten Umfragen rund 15 Tage vor dem Abstimmungstag gemacht warden muessen, denn in den letzten 10 Tagen sind Veroeffetnlichungen nicht mehr zulaessig. Was danach geschieht, Weiss letztlich niemand.
Mit anderen Worten: Nichts spricht an sich dagegen, dass der Ja-Anteil zur Volksinitiative gegen Masseneinwanderung nicht steigt, auch wenn niemand eine Falschangabe gemacht warden kann.

Dass diese Interpretation mit hoher Regelmaessigkeit bei Auslaenderfragen auftaucht, hat mit einer Erkenntnis der Psychologie zu tun. Die konnte im Experiment nachweisen, dass im Antwortverhalten soziale Erwuenschtheit existiere. Namentlich dann, wenn in (Klein)Gruppen vorherrschende Meinung existierten, sei es fuer Mitglieder mit abweichender Meinung erschwert, dazu stehen, denn Non-Konformitaet in Gruppen, zu denen man gehoeren will, ist schwieriger zu begruenden als Konformitaet.

In Umfragen zu Einstellungsfragen ist es gelegentlich gelungen, soziale Erwuenschtheit zu belegen. In Abstimmungsumfragen blieb die Wissenschaft den Beleg bisher schuldig. Genauso die Expertenanalysen zu den Minarett-Umfragen Umfragen, die soziale Erwuenschtheit im Antwortverhalten an sich nicht ausschlossen, ein Mass fuer das allfaellige Auftreten aber nicht gefunden haben. Entsprechend gibt es bis heute keine gesicherten Korrekturfaktoren.
Vielleicht ist das auch nicht so schlimm, denn soziale Erwuenschtheit ist beim Abstimmungsumfragen genau dann zu erwarten, wenn es sich um neue, tabuisierte Themen handelt, bei denen zwischen Eliten und Basis Differenzen bestehen, die durch Massenmedien nicht aufgenommen warden. Das mag bei der Minarett/Entscheidung noch so gewesen sein, befeuert durch das Plakatverbot, das Basels Administration gegen die Ja-Werbung verhaengte und in den Staedten Schule machte. Davon sind wir im aktuellen Fall indes weit entfernt.

Vielleicht liegt der Grund fuer den denkbaren Meinungswandel in den folgenden Wochen auch ganz anders. Denn eines der Gutachten zur Minarett/Umfrage legte den Blick auf ein hauefig uebersehenes Phaenomen, wonach Entscheidungsambivalenz in den Umfrageantworten stecke: Vor allem dann, wenn BuergerInnen bei Entscheidungen im Dilemma steckten, koenne es gut sein, dass sie in ihren Entschluessen schwankten, lautete die Feststellung. Zwar seien finalen Entscheidungen der Stimmenden gut begruendet, doch die Begruendungen veraenderten sich mit der Zeit.
Nun zeigt die Umfrage zur Volksintitiative gegen Masseneinanderung genau solche Entscheidungsambivalenzen. Denn die Folgen der Personenfreizuegigkeit sprechen eher fuer die InitiantInnen, derweil die Folge einer Annahme der Initiative fuer die gleichen Befragen eher dagegen wirken. Das ist, einfach gesagt, ein typisches Dilemma: Soll man Ja am 9. Februar 2014 sagen und die Bilateralen riskieren? Oder Nein stimmen, und verpassen, ein wirksames Zeichen fuer das bestehende Unbehagen zu setzen? Das Phaenomen ist nicht unerheblich, denn rund ein Viertel der Befragten kennt eine solche Entscheidungsambivalenz.

Ohne solche Phaenomene, oder bei nur geringer Auspraegung, folgt die Meinungsbildung zu Volksinitiativen einer einfachen Regel: Anfaengliche Symapthien fuer die Initiative, weil sie ein Thema aufgreift, warden durch zunehmende Einwaende gegen Inhalt und Folgen verringert; es waechst der Zustimmungwert von Woche zu Woche, und es kann auch der Zustimmungswert sinken. Eine Ablehnung am Abstimmungstag ist die Folge, selbst wenn anfaengliche Zustimmungsmehrheiten existierten.Im konkreten Fall spraeche das fuer ein Nein.
Mit Phaenomenen der Entscheidungsambivalenz wird die Regel zusehends unsicherer. Es kann sogar sein, dass die Zustimmung zur besagten Initiative waechst, denn der Mechanismus ist bekannt: Die Ambivalenz wird aufgeloest, indem man sich fuer eine der denkbaren Begruendungen entscheidet, oder noch haeufiger, gegen eine: Konkret, Schwankende die Ja sagen werden, finden, die Drohung der EU, die Bilaterale aufzukuendigen, sei kein hinreichender Grund, gegen die Initiative zu stimmen, und solche, die Nein sagen werden, finden, hier ein Zeichen zu setzen, dass auch die SVP staerke, sei unwuerdig.

Nun weiss die Demnoskopie nicht, was bei wem am Ende ueberwiegt, denn es sind nicht nur individuelle Entscheidungen. Sie folgen auch der allgemeinen Debatte, befeuert durch Kampagnen und Medien. Entsprechend war durchaus richtig, bei der Praesentation der ersten vertieften Umfrageergebnisse zu den Stimmabsichten am letzten Freitag in Sachen Volksentscheidung bei der Personenfreizuegigkeit zurueckhaltend zu sein.
Haetten wir das nicht gemacht, kaeme es zwischen unterstellter Prognose und Ergebnisse am Abstimmungstag allenfalls zu einer Diskrepanz, mit der erneuten Deutung, die Leute antworteten in Umfragen nicht ehrlich. Dabei ist genau Gegenteiliges der Fall> Sie antworten viel ehrlicher als politische Heisssporne verstehen. Statt Entscheidungssicherheit vorzutaeuschen, bekennen sie sich, in einem Dilemma zu stecken.

Ich mache den besagten FDP Exponenten einen Vorschlag: Wir machen (weiterhin) gute Umfragen, und die Partei und ihre Bundesraete machen (weiterhin) gute Kampagnen. Dann gibt es bei fuer beide keine unliebsamen Ueberraschungen.

Claude Longchamp

PS: Bin gerade in Tschechien, meine Tastatur hat keine ae, oe und ues, weshalb ich sie mit ae, oe und ue ersetzen muss. Sorry.

2 Nein, 1 Ja – die erste Prognose für den 9. Februar 2014

Nein zu den Volksinitiativen “gegen Masseneinwanderung” resp. “Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache”, Ja zur Fabi-Vorlage zur Finanzierung des öffentlichen Verkehrs – das ist die erste Prognose zu den Volksabstimmungen vom 9. Februar 2014 des Blogs “50plus1”.

Wir kennen sie, die Parolenspiegel vor Volksabstimmungen. Zeitungen und politische Websites veröffentlichen sie regelmässig, um die BürgerInnen zu informieren, wer für resp. gegen eine Vorlage ist.
Einer der genauer als der Durchschnitt hinsieht, ist Oliver Strijbis, promovierter Politologe an der Universität Hamburg. Den Spezialisten für vergleichende Politikwissenschaft interessiert nicht eine Volksabstimmung, sondern möglichst viele. Mit Akribie hat er studiert, was passiert, wenn die SVP dafür, die SP dagegen sind und das Zentrum sich zwischen den Polen positioniert – und daraus ein einfaches Prognose-Tool erstellt.
Mit Blick auf den 9. Februar 2014 hat er die Parteien, die sich schon festgelegt haben, ausgewertet. Zudem hat er die ausstehenden Stimmempfehlungen aufgrund erwartbarer Parolen ergänzt. So kommt zu folgendem Schluss: Mit den kommenden Volksentscheidungen stützen die BürgerInnen die Positionen der Behörden gleich dreimal, ist seine Prognose, denn sie sagen Ja zur Fabi-Vorlage bzw. Nein zu den Volksinitiativen gegen freie Einwanderung und gegen die Abtreibungsfinanzierung.
Der Politologe geht noch weiter: Bei der Fabi-Abstimmung rechnet er mit einer Zustimmung von 63 Prozent; bei der Zuwanderungsinitiative mit einem Nein-Anteil von 60 Prozent, bei der Abtreibungsfrage gar von 66 Prozent.

Drei Mal klare Sache also? – So interessant die Vorhersagen aus Hamburg sind; so haben sie auch Schwächen: Die erste betrifft die Vergangenheitsorientierung der Prognosen, denn sie basieren auf dem Prinzip, dass das Gleiche geschieht, was bisher geschah. Das ist zwar kein schlechter Grundsatz, denn im Normalfall trifft er zu; doch bleibt der Mangel, dass er gerade in ausserordentlichen Lagen Tücken aufweist – und sie unterschätzt. Die zweite Schwäche zielt auf die Präsentation. Strijbis publiziert seine Prognosen auf seinem Blog “50plus1”, was alleine noch kein Handicap ist. Doch bleibt er ganz anders als in Fachartikeln äusserst sparsam, was Informationen zur verwendeten Methode betrifft.
Im konkreten Fall erwähnt der Prognostiker nur, dass er auf drei Sachverhalte abstellt: auf die Parolen als Ganzes, auf die Geschlossenheit der Mitte und auf den Themenbereich.
Das erste Kriterium ist eindeutig; es bedarf keiner weiteren Erörterung. Das zweite ist schon anfälliger, denn wie bestimmt man die Geschlossenheit der Mitte? Diffus bleibt auch das dritte Charakteristikum, den Politikbereich betreffend.
Wenn man das alles nicht weiss, bleibt die Prognose zwar heiss, aber schwer vage. Hilfreich wäre wenigstens zu wissen, welche Vorhersagen bei früheren Volksabstimmungen resultierten, und wie gut sie mit dem Abstimmungsergebnis übereinstimmten. Doch auch hier mangelt es an Informationen. Da hilft auch der Nachsatz nicht weiter, die Chance sei 1:19, dass die Einwanderungsinitiative angenommen werde.

So bleiben die folgenden Feststellungen: Am wenigsten überrascht die Prognose zur Abstreibungsinitiative; etwas unsicherer erscheint der Volksentscheid zur Fabi-Abstimmung, vor allem wenn man sich an die die Dynamik der Meinungsbildung bei der Vignetten-Entscheidung erinnert. Im Widerspruch zum vorherrschenden Medienklima vor allem in der deutschsprachigen Schweiz steht die recht klare Aussage in Sachen SVP-Initiative gegen die Personenfreizügigkeit.
Vielleicht hat die hier vorgestellte Methode aber genau hier ihren Vorteil: Denn der Hamburger Politikwissenschafter machte seine Analyse weitestgehend unbeeinflusst von der konkreten öffentlichen Meinung in der Schweiz. Denn sie ist nicht nur ein Rätselraten über den Bevölkerungsmeinungen; sie ist immer auch gefärbt die das erhoffte Abstimmungsergebnis. Dem hält der Politologe entgegen, dass er nur die Fakten ordnet.

Selber beobachte ich neben den Schlagzeilen der so oft dramatisierenden Sonntagspresse wie das allgemeine Klima ist, ebenso wie Strijbis, wie sich die Parteieliten im Parlament und an den Delegiertenversammlungen verhalten haben, wie sich der Abstimmungskampf entwickelt, und wie die Erfahrungen der Menschen mit den Abstimmungsthemen in ihrem heutigen Alltag sind.
Jedes dieser Kriterien gibt einen einzelnen Hinweis, wie sich die Ausgangslage entwickelt; die Gesamtheit der Indikationen erlaubt es, eine konsolidierte Einschätzung der Ausgangslage und der Meinungsbildung zu Volksentscheidungen vorzunehmen – nicht zuletzt ergänzt durch Voranalysen auf Befragungsbasis

Mehr nächstes Jahr, aber schon bald …

Claude Longchamp

Das politische System der Schweiz – neu dokumentiert und analysiert

589 Seiten sind ein langes Stück. Noch stärker ist allerdings das inhaltliche Stück Einsicht, das darin steckt. Denn Adrian Vatter legt mit dem UTB-Buch “Das politische System der Schweiz” ein neuartiges Werk vor, das sich rasch als Standard durchsetzen dürfte.

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Adrian Vatter, Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern, Autor des neuen Buches “Das politische System der Schweiz”

Drei Gründe nennt der Berner Politikwissenschafter, weshalb man sich mit dem hiesigen Politsystem beschäftigen solle: den Mikrokosmos in Europa, der früh den Integrationsprozess zum Bundesstaat schaffte, die politische Willensnation auf multikultureller Grundlage, die durch Machtteilung befriedet wurde, und das moderne direktdemokratische Labor, das Vorreiterin für zeitgemässe Formen der unmittelbaren Bürgermitsprache ist.

Was der Professor für Schweizer Politik dann auftischt, ist nicht eine Institutionenkunde, wie man sie vom Staatsrechtshandbuch hinlänglich kennt. Nein, es ist eine genuin politikwissenschaftliche Analyse des hiesigen Demokratiemusters. Hierfür folgt der Autor, mit Modifikationen, dem weltweit führenden Theoretiker Arend Lijphard, der vor gut 10 Jahren zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratien zu unterscheiden begann und damit die bisherige Polarität von parlamentarischer und präsidentieller Demokratie ablöste.

Aus dieser Überlegung heraus entstehen im Buch Vatters 10 Kapitel – vom Wahlsystem, über Parteien und Verbände, Regierung und Parlament, der Gleichheit von Volk und Ständen, der direkten Demokratie, der Verfassung, dem Föderalismus bis hin zum Justizsystem. Jedes dieser Buchteile ist, wie es sich für Übersichtsbuch gehört, systematisch aufgebaut, beginnend mit einer historisch fundierten Herleitung, darauf aufbauend die Präsentation der politikwissenschaftlichen Forschungsergebnisse bis hin zum internationalen Vergleich der Schweiz. Eine Zusammenfassung des gegenwärtigen Diskussionsstandes mit Entwicklungslinien schliesst ein jedes Kapitel ab.

Das Ganze endet in einer fulminanten Synthese, mit der Vatter seine These von der “durchschnittlich gewordenen Konsensdemokratie” begründet. Anders als im 19. Jahrhundert ist die Schweiz heute keine liberale Mehrheitsdemokratie mehr, denn diese liess sich nicht auf Dauer stabilisieren. Doch ist die Schweiz, anders als in der Mitte des 20. Jahrhunderts, heute auch kein exemplarischer Fall mehr für eine Konsensdemokratie, denn die aktuellen Entwicklungen namentlich im Eliteverhalten lassen Zweifel entstehen. Dennoch, in der Polarität Lijpharts gehört die Schweiz immer noch auf die Seite einer Konsensdemokratie, im internationalen Vergleich ist sie aber kein Vorbild mehr, sondern zum Normalfall geworden. Damit einher geht, dass die Demokratiequalität nicht mehr ganz top ist, die Schweiz aber immer noch in der Spitzengruppe der OECD-Staaten rangiert.

Zu den absoluten Stärken des neuen Buches zur Schweiz gehört, dass es die bisweilen verstreut vorliegenden Forschungsergebnisse zum Schweizer Politsystem aufgearbeitet hat. Davon zeugen die Literaturlisten nach jedem Kapitel, die Publikationen bis 2013 berücksichtigen. Deutlicher noch kommt es in der Vielzahl von Tabellen mit Daten zum Ausdruck, die ebenfalls so aktuell sind, wie wenn sie in der heutigen Zeitung erschienen wären. Schliesslich werden auch die zentralen Trends beschlossen, denen die Schweiz unterliegt, namentlich der Konfliktkultur, die in den letzten 10 Jahren an zahlreichen Orten ihre Spuren hinterlassen hat.

Vielleicht, könnte man sagen, gibt es da eine Schwäche im kommenden Standardwerk. Denn zu den grossen Einflussfaktoren auf das politische System der Schweiz gehören heute Globalisierung und Europäisierung. Die kommen im Schlussteil, bisweilen auch in den Kapiteln, kurz zur Sprache, werden aber nirgends zu einer integrativen Perspektive zusammengefasst, die erhellend aufzeigen würde in welchem Masse sich das System durch innere resp. durch äussere Kräfte verändert.

Das alles ist für jene halb so wild, die das Buch ganz bewusst als Nachschlagewerk verwenden werden. Denn sie finden zahlreiche Übersichten, die es bisher nicht gab oder erst mit den Vorarbeiten zu diesem Buch veröffentlicht wurde: So der Überblick über die institutionellen Grundlagen der Parlamentswahlen in jedem Kanton, so der erweiterte Stammbau der Schweizer Parteien, so die Ausbildung des Verbandssystems in den Kantonen, so die Koalitionstypen kantonaler Regierungen für die letzten 30 Jahre, so eine Typologie der direkten Demokratie in den 23 OECD-Staaten, so die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesgerichts und so eine Demokratiekarte der Kantone.

Man kann es nur so zusammenfassen: Wer sich für das politische System der Schweiz interessiert, der oder die wird hier sicherlich bedient, sei er oder sie StudentIn der Politikwissenschaft in der Vorlesungen Vatters, DoktorandIn im Ausland vor der Herausforderung stehend, sich kompetent im Forschungsstand zurechtfinden zu müssen, DozentIn an einer Hochschule, gestresst, die Vorlesungsunterlagen ganz rasch aufdatieren zu müssen, JournalistIn, mit dem Auftrag versehen über Eigenheiten der Schweiz berichten zu dürfen, bis hin zur PolitikerIn mit einem wachen Auge für Grundfragen des politischen Systems der Schweiz.

Bedient ist vielleicht nur das Vorwort, denn das neue Kompendium informiert von Geschichte zur Gegenwart, empirisch wie theoretisch, aus der Binnen- wie auch auch aus der vergleichenden Aussenperspektive. Genau deshalb sollte man sich das Buch gleich anschaffen. Als Weihnachtsgeschenk für sich, denn der Autor hat soeben der Schweiz ein solches überreicht.

Claude Longchamp

Neue Parteien, neue Werte, neues Regierungssystem?

1983 veröffentlichten Erich Gruner und Hanspeter Hertig das Buch „Der Stimmbürger und die neue Politik“. Eine epochale Wende sahen sie auf die Schweizer Politik zukommen. Im Rückblick auf die 30 Jahre seither werden drei Veränderungen sichtbar.

Erstens, die Veränderung der Parteienlandschaft.
1983 wurden erstmals Grüne in den Nationalrat gewählt. Nach vier weiteren Jahren machte ihr die Autopartei Konkurrenz. Genau Gegenteiliges vor Augen, politisierten beide Parlamentsneulinge unkonventionell.

Nach ihrer Wahlniederlage 1987 reagierte die SP auf die grüne Herausforderung; seither bilden beide Parteien den linken Pol der Schweizer Politlandschaft. Auf der rechten Seite ging die Freiheitspartei, seit 1994 Nachfolgerin der Autopartei, weitgehend in der neuen SVP auf.

Dabei sollte es nicht bleiben: Bis 2003 wuchsen der rechte wie der linke Pol bei Wahlen und spalteten die Schweizer Politik wie nie unter Konkordanz-Bedingungen. Dabei gingen FDP und CVP ihrer einstigen Vormachtstellung aus der bürgerlichen Mitte heraus verlustig, was sie im Nationalrat von weiteren Partnern abhängig macht.

Erst 2007 wurde der Aufstieg der SP gestoppt; 2011 traf es auch die GPS und die SVP. Parteiabtrünnige, neu in der GLP und BDP vereint, mobilisieren Unzufriedene mit den etablierten Parteien und mischen seither die zerbrochene Mitte auf: Zu neuen Allianzen bereit, brechen sie zementierte Mehrheiten wie in der die Energie- oder Bankenpolitik auf. Die Schweizer Politik ist volatiler geworden.

Zweitens, die Veränderung der politischen Werte.
Zu typisch schweizerischen Werten wie Neutralität, Unabhängigkeit, aber auch Mässigung und Pragmatismus sind der Post-Materialismus und der Neo-Nationalismus hinzugekommen. Ersterer brachte vor dem Hintergrund des ökonomischen Erfolgs ökologische Politik in die Behörden, Selbstentfaltung vor allem von Frauen in Gesellschaft und Politik, und wirkt sich heute mit
Nachhaltigkeitsgeboten bis tief in die Wirtschaft aus.

Der neue Nationalismus konstituierte sich als Reaktion auf die Oeffnung gegenüber der EU. Vor allem die von Volk und Ständen abgelehnten EWR-Verträge 1992 liess den Widerstand der Urschweiz erwachen, angefeuert durch populistische Politiker, die isolationistisch ausgerichtet, selbst gutschweizerische Institutionen verhöhnen, um ihren Unmut auszudrücken. Eine bisweilen herftig ausbrechende, neue Leidenschaft hat die Schweizer Oeffentlichkeit erfasst.

Zwar setzten sich die öffnungswilligen Behörden bei der UNO-Abstimmung 2002 und bei den Volksentscheidungen zu den Bilateralen zwischen 2000 und 2009 immer durch; doch müssen sie dies angesichts mehrheitlicher Vorlieben für restriktive Asylpolitik Mal für Mal hart erkämpfen. Denn die Schweiz ist nach einer progressiven Phase in den 90er Jahren zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder konservativer geworden.

Drittens, die Veränderungen des Regierungssystems.
Vom Musterbeispiel für Konkordanz hat sich die Schweiz einiges entfernt. Unverrückbar ist nur der Föderalismus, revitalisiert wurde die Politik via Volksrechte, problematisch geworden ist dagegen Kollegialsystem. Nach den turbulenten Bundesratswahlen 2003 und 2007 gilt, dass wir mit und ohne Volkswahlen Regierungen haben, die mehr Parteien und WählerInnen als nötig zählen; allerdings blieb die proportionale Vertretung der Parteien auf der Strecke.

Parallel dazu ist der Konsens klein, die Kompromisssuche gar zur Ausnahme geworden; vorherrschend geworden ist der Konfliktstil, selbst die Dominanz parlamentarischer Mehrheiten gehört zum heutigen Normalfall. Das alles hat einen Hauptgrund: die Verbände, die einst in der vorparlamentarischen Phase künftige Regierungspolitik vermittelten, haben an Macht eingebüsst, seit auch sie vermehrt der schweizerischen, europäischen und globalen Oeffentlichkeit Red und Antwort stehen müssen.

Das hat Platz für zwei aufstrebende Akteure Platz geschaffen: zunächst für die Verwaltung, die eine Art Politik ohne PolitikerInnen betreibt, welche die Schweiz pragmatisch europäisiert und die Exekutivpolitik beeinflusst, demokratisch aber schwach legitimiert ist; sodann für die Massenmedien, die den Marktgesetzen ausgesetzt staatskritisch geworden sind, politisch aber den Takt aus oppositioneller Warte vorgeben. Wo sie parlamentarische Politik mediengerecht inszenieren können, gehören sie selbst bei Volksabstimmung bisweilen zu den Gewinnern der direkten Demokratie.

Stärken und Schwächen sind sichtbar geworden.
Bei all dem ist die Schweiz in den letzten drei Dekaden nicht untergegangen. Ihre Leistungen in Wirtschaft sind unverändert Weltspitze! Dennoch, ausserordentlichen Herausforderungen auf globalem und europäischem Parkett ist das schweizerische Regierungssystem trotz neuen Staatssekretariaten nicht gewachsen. Und die mit neuen Medien ausgestattete Zivilgesellschaft mischt sich mittels Volksinitiativen immer munterer in die Regierungspolitik ein, ohne von dieser bisher angemessene Antworten zu erhalten.

Wahrlich, der vor 30 Jahren angekündigte Wertewandel hat mehr verändert, als es Politologen von damals prophezeiten.

Claude Longchamp