Das Hauptszenario bei der Entscheidung zur Masseneinwanderungsinitiative – in zwei Varianten

Wer mit Szenarien arbeitet, unterstellt mehrere mögliche Verläufe. Ich denke, bei der Masseneinwanderungsinitiative reicht ein Hauptszenario mit zwei Untervarianten.

Es gehört zum fast sicheren Grundstock der Erkenntnisse aus den SRG-Umfragen zu Volksinitiativen: Sie starten besser als sie enden. Bei der Volksinitiative “gegen Masseneinwanderung” ist das nicht so – ein untypischer, aber nicht unmöglicher Fall.

Warum? Ueber Fragen der Personenfreizügigkeit haben wir schon zweimal abgestimmt: 2005, bei der provisorischen Einführung, und 2009, bei der Ueberführung ins Defintive. In der ersten Volksentscheidung waren 55 Prozent dafür und 45 Prozent dagegen, bei der zweiten stimmten 60 Prozent mit Ja und 40 Prozent mit Nein. So gesehen überraschte es nicht wirklich, dass bei der ersten Befragung unseres Instituts 37 Prozent für die SVP-Initiative, die eine Abkehr von der Personenfreizügigkeit verlangte, derweil 55 Prozent gegen die Inititive und 8 Prozent unentschieden waren.

Wenn sich nun ein atypischer Meinungsverlauf abzeichnet, hat das höchstwahrscheinlich nicht viel mit Meinungswandel zu tun, sondern mit einer veränderten Teilnahmeabsicht an der Abstimmung. Denn die sind von 41 Prozent zur Jahreswende auf 47 Prozent in der zweiten Hälfte Januar 2014 gestiegen. Mit ihr haben sich die Verhältnisse geändert, von der Nein-Tendenz hin zu einer offeneren Situation.

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Normal ist, dass die Beteiligungsabsichten zwischen zwei SRG-Wellen um 2-3 Prozent steigen. Auswirkungen auf die Stimmabsichten bleiben aus oder sind beschränkt. Jetzt ist es da Doppelte oder Dreifache – und hat Effekte. Wer im Januar neu zu den Teilnahmewilligen stiess, verteilte sich im Verhältnis von 5 zu 1 auf die Ja-Seite. Bester Beleg dazu: Personen, die dem Bundesrat misstrauen, wollen nun zu 60 Prozent stimmen gehen, in der überwiegenden Zahl für die Initiative. Dagegen bleibt die Beteiligungsabsicht von Personen mit Vertrauen in den Bundesrat zurück, bei gut 40 Prozent, weiterhin gegen die Initiative.

Die asymmetrische Mobilisierung ist denn auch der Hauptgrund, dass das Normalszenario nicht mehr spielt. Sie ist zwischenzeitlich so stark, dass wir nur noch mit dem ursprünglichern Nebenszenario arbeiten. Bekräftig wird diese Annahme durch die Ende Woche veröffentliche Medienanalyse der Forschungsstelle für Oeffentlichkeit und Gesellschaft. Sie legt nahe, dass die Intensität der Medienaufmerkamkeit seit Mitte Januar übertrifft die Medienresonanz sogar jene vor der Entsheidung zur Ausschaffungsinitiative. Der Tenor ist in den untersuchten Medien ist zwar leicht negativ, aber weder konstant, noch einheitlich: Je nach Medium überwiegt der Nein- resp. der Ja-Standpunkt. Oder zugespitzt: Das unschlüssige Mediensystem beeinflusst die Meinungsbildung der Unschlüssigen kaum mehr, die Intensität und Emotionalität der Debatte hat die Protestpotenziale aber elektrisiert!

Wenn es sich aktuell um einen Mobilisierungsfall handelt, wie wir ihn seit dem EWR kennen, wohl bei der Asyl-Initiative nachweisen konnten, und wie er wohl auch bei der Minarett-Abstimmung spielte, bleibt unbeantwortet, wie sich die Stärkenverhältnisse in der Schlussphase verändern. Das ist es hilfreich, zwei Variante des Hauptszenarios zu unterscheiden.

Im ersten Fall, nennen wir sie das “Protestvotum”, geht der Trend seit Mitte Januar 2014 ungebrochen fort. Die Mobilisierung stärkt nochmals das Ja-Lager, und es schwächt das Nein-Lager. Der Vorsprung der Nein-Seite schmilzt nochmals. Es entscheiden die Unschlüssigen, die sich beteiligen, ob es Ja oder Nein wird. Emotionalisierende Ereignisse in der letzten Wochen könnten hier der nochmalige Treiber sein.

Im zweiten Fall, “Gegenreaktion” bezeichnet, nimmt die Mobilisierung zwar weiterhin zu, es ändern sich aber die Effekte. Den GegnerInnen gelingt es, die Balance in der Zusatzbeteiligung wieder herstellen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung grösser als jene der Zustimmung. Der Trend bei Initiativen, bei sachlichen Zweifeln doch Nein zu sagen, wäre hier die zentrale Begründung für ein abflachender Ja-Trend.

Denkbar sind auch Mischungen, vor allem nach Sprachregionen, denn die Leseweisen des Themas sind vor allem in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz.

Claude Longchamp