Warum man das Ergebnis der Ständeratswahlen 2023 noch nicht kennen kann

Wie die Ständeratswahlen ausgehen könnten, beschäftigt die mediale Oeffentlichkeit gegenwärtig stark. Bereits sind vier Sitzprognosen erschienen. Meines Erachtens kann man heute jedoch nur die Ausgangslagen für die erste Runde bestimmen. Was in der zweiten Runde geschieht, muss noch offen bleiben.

Mediale Sitzprognosen als Basis
Drei vollständige Sitzprognosen und eine weitere zu bestimmten Kantonen erhellen das etwas unsichere Feld der Ständeratswahlen. Der Tagesanzeiger und SRF-News haben die Ausgangslage in allen Kantonen journalistisch analysiert. Verschiedene Lokalmedien oder Regionalredaktionen haben Opinionplus mit spezifischen Umfragen beauftragt. Schliesslich hat Watson eine Wahlbörse zu allen Ständeratswahlen präsentiert. Was kann man daraus lernen?


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Wo es Rücktritte gibt
Handfestestes Kriterium für einen offenen Wahlausgang ist ein Rücktritt. Sieben Kantone erfüllen dieses Kriterium. In der Waadt treten die beiden KantonsvertreterInnen gleichzeitig zurück. In Zürich, Bern, Aargau, Solothurn, Tessin und Schwyz gibt es je eine Vakanz.
Die SP hat drei Rücktritte (BE, SO, TI) zu verkraften. Je zwei sind es bei FDP (VD, ZH) und SVP (AG, SZ). Einen Abgang gibt es zudem bei den Grünen (VD).

Wer welche Aussichten hat
Sofern sie sich äussern, zeigen die vier Tools eine Reihe gemeinsamer Erwartungen. In der Waadt wird einheitlich damit gerechnet, dass FDP (Broulis) und SP (Maillard) zu Lasten der Grünen die Sitze halten oder übernehmen. Die FDP behält ihren.
In den allen anderen Wahlkreisen mit Rücktritten gibt es keine so klare FavoritInnen.
. In Zürich kommen gemäss Tools Bewerbungen von FDP (Sauter) und SVP (Rutz), allenfalls Mitte (Kutter) in Frage.
. In Bern konzentriert sich die Aufmerksamkeit vorerst auf SP (Wasserfallen) und Grüne (Pulver).
. Im Aargau sind es SVP (Giezendanner) und Mitte (Binder), allenfalls auch SP (Suter).
. In Solothurn richtet sich das Augenmerk auf FDP (Ankli) und SP (Roth).
. Im Tessin erscheinen FDP (Farinelli) und Mitte (Regazzi) möglich.
. Und in Schwyz gibt es eine offene Konkurrenzsituation. zwischen SVP (Schwander) und FDP (Gössi).
Damit kommt es im Tessin zu einem sehr wahrscheinlichen Parteiwechsel. Der Rest ist offen.

Was die Wahlforschung weiss
Die Wahlforschung zeigt, wer bei Ständeratswahlen erhöhte Chancen hat. Vorteile hat die Partei oder Allianz der/s AmtsinhaberIn. Es kommt aber auch die Geschlossenheit in den Lagern und ihre Mobilisierungsfähigkeit hinzu. RegierungsrätInnen (Bekanntheit) und herausragende NationalrätInnen (politisches Profil) haben ebenfalls höhere Chancen. Bisweilen wirkt sich zudem der regionale Ausgleich (Stadt/Land) aus. Neuerdings kommt auch das Geschlecht (Frauensolidarität) als Kriterium hinzu.
Ein dominantes Kriterium, das alles entscheiden würde, gibt es im Wettbewerb aber nicht.
Wahrscheinlich wird da überall ein zweiter Wahlgang nötig werden, bei dem neu aufgemischt wird.


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Abwahl Bisheriger?
Speziell ist die Ausgangslage in den Kantonen Jura und Neuenburg, die ihre StänderätInnen nach dem Proporzverfahren bestimmen.
In Jura ist die jetzige SP-Vertreterin (Crevoisier Crelier) erst letztes Jahr für Baume-Schneider, die in den Bundesrat gewählt wurde, nachgerückt. Sowohl SP (Barthoulot) wie auch FDP (Gerber) fordern sie mit heraus. Massgeblich sind zuerst die Parteistärken, dann die Personenstimmen. Das macht die SP-Regierungsrätin zur Favoritin.
In Neuenburg konkurrenziert die SP (Hurni) die grüne Ständerätin (Vara), was angesichts der ausgeglichenen Parteistärken zu einem unsicheren Ausgang führen könnte.
Spekuliert wird darüber hinaus, im Wallis (Maret, Mitte), in Genf (Sommaruga, SP) in Freiburg (Gapany, FDP) und Glarus (Zopfi, Grüne) auch ein(e) AmtsinhaberIn gefährdet sein. Allfällige Nutzniesser kämen aus der FDP (Nantermond, VS), vom MCG (Poggia), von den Grünen (Andrey, FR) resp. von der SVP (Rothlin, GL).
Die Wahrscheinlichkeit erscheint aber gering: Bisherige haben ohne Skandale im Majorzverfahren einen klaren Bonus. Alle anderen Spekulationen, die hie und da geäussert werden, halte ich aus heutiger Sicht für ganz unwahrscheinlicher.


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Erste Bilanzen
Trotz zahlreicher Unsicherheiten wagen der Tagesanzeiger, Watson und SRF bereits eine finale Sitzprognose, wenn auch mit Unsicherheitsbereichen. Der Tagesanzeiger und SRV sehen die FDP als Wahlgewinnerin. Watson ist da zurückhaltender. Mittelt man die Erwartungen kommen Mitte und FDP neu auf 14 Sitze. Die SVP bleibt auf 7 Sitzen. SP und Grüne verlieren je einen. Das würde eine moderate Verschiebung nach rechts bedeuten.
Mitte und FDP dürften im neuen Ständerat zusammen eine klare Mehrheit, und keine andere Zwei-Partei-Allianz wird das für sich beanspruchen. SVP und SP bleiben damit in der primären Konsensbildung aussen vor.
Ich werde diese Uebersicht in der Woche nach der ersten Runde sicher aufdatieren.

Claude Longchamp