Die mehrheitsfähige Mitte der Schweiz wird gerade neu definiert

Die Schweiz ist das Land der Mitte. Nur, wer repräsentiert diese heute? Meine Spekulation eine Woche vor dem Super-Abstimmungswochenende vom 27. September 2020.


Grafik anclicken um sie zu vergrösseren

Die bisherige mehrheitsfähige Mitte
Die Parolen der FDP Schweiz zu den eidg. Volksabstimmungen waren in der letzte Legislaturperiode in 30 von 33 Fällen identisch mit dem Abstimmungsergebnis. Das brachte der Partei die Goldmedaille für die mehrheitsfähige Mitte in der Parteienlandschaft.
Am 27. September präsentiert sich die Ausgangslage für die FDP ungleich schwieriger. Allgemein rechnet man mit einem Ja zum Vaterschaftsurlaub. Den lehnt die FDP allerdings ab. Treffsicherer dürfte sich ihr Nein zur Begrenzungsinitiative und wohl auch ihre Ja zum Beschaffung neuer Kampfflugzeug erweisen. Offen ist jedoch, ob das Jagdgesetz und die Kinderabzüge angenommen werden, wie das die Partei empfiehlt.
Wenn die Annahmen der Auguren stimmen, wird das bereits jetzt zwischen einer und drei Abweichungen für die FDP geben. Der Platz 1 als mehrheitsfähige Mitte wäre damit fast sicher verspielt.

Wer kann erben?
Allerdings stellt sich die Frage, wer Nachfolger als mehrheitsfähige Mitte wird?
. Die CVP und BDP, die zur bürgerlichen «Mitte»-Partei fusionieren wollen?
. Die EVP, die ebenso beansprucht, gesellschaftlich traditionell, aber ökologisch offen und damit im Zentrum zu politisieren?
. Oder gar die GLP, welche die linksliberal ausgerichtete Mitte mit neue Umwelt- und Gesellschaftspolitik repräsentiert?
Selbstredend hängt alles von den Abstimmungsergebnissen ab. Sind tatsächlich nur Kinderabzüge und Jagdgesetz offen, gibt es die folgenden Szenarien:
Szenario 1: Beide strittigen Vorlagen werden angenommen. CVP und BDP gehen als Gewinnerinnen des Tages vom Platz. Die sich neu formierende Mitte startet mit einem Vollerfolg.
Szenario 2: Die Kinderabzüge gehen durch, das Jagdgesetz aber fällt durch. Dann hat die EVP fünf Richtige.
Szenario 3: Kinderabzüge und Jagdgesetz werden beide abgelehnt. Das wäre dann mit dem Parolenspiegel der GLP identisch.
Theoretisch gibt es auch die Variante, dass das Jagdgesetz angenommen wird, die Kinderabzüge aber abgelehnt werden. Das würde dann mit einer Parteipositionierung übereinstimmen.

Das Profil der neuen Mitte

So oder so dürfte die heute mehrheitsfähige Mitte am kommenden Abstimmungswochenende neu definiert werden. Gegenüber der vorliegenden Legislatur dürfte sie insgesamt gegen links wandern.
Was sind die Gründe?
Man kann es Zufall nennen, denn es liegen trotz Super-Abstimmungssonntag nur fünf Abstimmungen vor, um die Mehrheitsfähigkeit der Parteien zu bestimmen.
Man kann auch das weniger eingemitteten Verhalten des Parlament als Ursache sehen. Denn dieses hat sowohl bei den Kinderabzügen wie auch beim Jagdgesetz die ursprüngliche Revisionsabsicht über Bord geworfen und geht mit den vorgelegten Revisionsvorschlägen viel weiter. Anders verhielt es sich ja beim Vaterschaftsurlaub, wo es weniger weit ging, als es die abgelehnte und zurückgezogene Volksinitiative verlangte.
Der dritte Grund könnte in den Veränderungen seit den Parlamentswahlen 2019 liegen. Da hat sich Mitte hat sich verschoben. Gerade ökologische Politik wird heute anders definiert als noch vor den jüngsten Parlamentswahlen Auch für modernisierte Gesellschaftspolitik ist man offener geworden. Grüne und Grünliberale wurden 2019 gestärkt. Deutlich mehr Frauen sind heute in der Politik. Und der neue Wind kommt von Generationen, die bisher nicht im Zentrum standen.

Vorläufige Bilanz
Sicher ist eigentlich nur, dass das zuverlässige Trio des bürgerlichen Zentrums mit der FDP an der Spitze und der CVP resp. BDP in der Gefolgschaft nicht mehr gleich stark ist wie zwischen 2016 und 2019. All diese Parteien haben 2019 verloren und sind seither auf der Suche nach einer Neuausrichtung. Bei der FDP soll das liberale Element gestärkt werden. CVP und BDP wollen durch Fusion wieder zu mehr Macht kommen.
Am Abstimmungsabend der ersten grossen Standortbestimmung in der jetzigen Legislaturperiode wird man eine Vorstellung bekommen, wohin die bei Volksabstimmungen mehrheitsfähige Mitte wandert. Stillstehen wird sie nicht, denn die Mitte wird gerade neu definiert. Wie weit sie sich verschiebt, ist aber noch offen.