Sackgasse Bilaterale?

Als Institutsleiter erhalte ich regelmässig die “Unternehmerzeitung” auf meinen Bürotisch. Diesmal erregte sie meine Aufmerksamkeit schnell: Nicht nur, weil mein Mitglied des Verwaltungsrates auf dem Titelblatt war, auch wegen des Themas, denn das Blatt versucht, die Sommer-Debatte über die Vor- und Nachteile der verschiedenen EU-Optionen der Schweiz gerade für Unternehmer fortzusetzen.

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Der Herausgeber der Unternehmerzeitung, Remo Kuhn, macht schon im Editorial deutlich, was er will: Fakt sei, dass die EU keinem Land bessere Zugangsbedingungen zum gemeinsamen Markt bieten könne als den eigenen Mitgliedern; klar sei auch, dass die schweizerischen Unternehmen gleich lange Spiesse wie ihre Konkurrenten haben müssen. Wer darüber diskutieren wolle, werde jedoch verspottet, was der Herausgeber nicht als selbstbewussten Standpunkt taxiert, sondern als Ausdruck von Zukunftsängsten.

Katja, Gentinetta, 42, promovierte Philosophin mit einem Buch zum Verhältnis des globalen Wandels und der helvetischen politischen Kultur, löste im Juli die neue Europa-Debatteaus. Sie griff den EWR-Beitritt, die EU-Mitgliedschaft und eine weltweite Verbindung der Schweiz im Freihandel als Alternativen zu den Bilateralen auf. Im grossen Interview mit der UZ wird sie bezüglich der EU konkreter:

. Erstens, mit den Bilateralen habe sich die Schweiz einen massgeschneiderten Zugang zum EU-Binnenmarkt verschafft.
. Zweitens, wenn wir unsere Anliegen auf diesem Weg nicht mehr durchsetzen könnten, befürworte sie einen EWR-Beitritt der Schweiz.
. Drittens, ein EU-Beitritt unter Beibehaltung des Schweizer Frankens sei dann zu prüfen, wenn sich die Mitsprache im EWR als ungenügend erweise.

In der Analye der stellvertretenden Direktorin des liberalen Think Tanks “Avenir Suisse” hat sich die Lage verändert: Die EU sei seit der Griechenland-Krise unter Druck, werde ihre Integrationsbemühungen forcieren, was den Zugang der Schweiz zum Binnenmarkt erschwere. Zudem hat die Schweiz das Bankgeheimnis nach Aussen aufgegeben; damit sei der Hauptgrund gefallen, im Dienstleistungsbereich nur sektorielle Abkommen abzuschliessen.

Bei einem generellen Dienstleistungsabkommen mit der EU ortet sie ein grosses Marktpotenzial. Der Versicherungsverband habe sich bereits für einen vollen Marktzugang ausgesprochen, und die Banken würden das schrittweise nachvollziehen. Im KMU-Bereich stelle man hingegen weniger Veränderungen fest.

Den EWR sieht Gentinetta nicht als Auslaufmodell. Die EU habe keine solche Absichten, Norwegen als stärkstes Mitglied denke auch nicht über einen Austritt nach, und Nachbar Liechtenstein habe seit 1992 Erfahrungen gesammelt, welche die Auswirkungen auf die Schweiz abschätzen liessen. Gewinner dürften mit den Preissenkungen die KonsumentInnen sein, wohl aber auch die ProduzentInnen. So würde das Cassis-de-Dijon-Prinzip, das die Schweiz einseitig zugunsten der EU eingeführt habe, bei einem EWR-Beitritt auch in die umgekehrte Richtung gelten. Wenn ein EU-Beitritt zur Debatte stehen sollte, empfiehlt Gentinetta, auf den Schweizer Franken nicht zu verzichten. Gemäss Lissaboner Vertrag sei das für neue Mitglieder zwar nicht möglich, doch lasse die EU bei einem Nettozahler wohl auch politische Lösungen zu.

Den grössten Vorteil des EWR-Beitritts im Vergleich zum EU-Beitritt ortet die politische Analystin im Steuerbereich. Beim EWR sei die Einführung der Mehrwertsteuer nach EU-Prinzipien nicht nötig, womit das Steuersystem der Schweiz nicht grundlegend geändert werden müsse. Was den Steuerstreit und das Bankgeheimnis betrifft, redet sie einer raschen Lösung das Wort – und zwar ganz unabhängig davon, welchen Weg die Schweiz in Sachen EU-Verhältnis anstrebe.

Als Hauptproblem in der Schweiz sieht Gentinetta die Angst vor Souveränitätsverlust. Souveränität sei nicht identisch mit nationaler Autonomie, denn heute zeige sich der Souverän nicht nur in der Selbstbestimmung, sondern auch in der Stärke, die man dort habe, wo die Regeln der Zusammenarbeit festgelegt würden. Das sei anders als im eingeübten Denken des Alleingang vorgestellt klar die internationale Ebene. Der autonome Nachvollzug, der nach dem Nein zum EWR dominierend geworden sei, bringe mit jedem Schritt einen Souveränitätsverlust.

Man weiss es: Die von Avenir Suisse angestossene Europa-Debatte löste kontroverse Reaktionen aus. Economiesuisse bevorzugt unverändert den bilateralen Weg. Der Bundesrat ist da gleicher Meinung wie der Dachverband der Schweizer Wirtschaft. Von einer “Sackgasse Bilaterale” mag die offizielle Schweiz nicht sprechen. Dass wird man auch bei den ZukunftsschweizerInnen nicht überhört haben. Das gleich sehen zu müssen, ist indessen nicht die Aufgabe einer Denkfabrik. Avenir Suisse hat sich einen Namen gemacht, über Herausforderungen beispielsweise im Föderalismus oder in der Raumplanung grundsätzlich nachzudenken. Und hat damit auch gepunktet: Genau das tut der Think Tank meines Erachtens zurecht auch in der Europa-Politik. Denn hier hat die EU Ende 2008 umissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die bilateralen Abkommen mit der Schweiz zunehmend als aufwendig empfunden würden. Das wäre bei einer EWR-Mitgliedschaft der Schweiz nicht der Fall. Doch das hat mit der Schweizer Oeffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen, und sie scheut sich, damit auseinander zu setzen.

Claude Longchamp

Wer pointiert resp. gemässigt ist: die Bundes- ratsbewerbungen im Fadenkreuz der Politik

Simonetta Sommaruga und Jacquline Fehr bei der SP, Karin Keller-Sutter und Johannes Schneider-Ammann bei der FDP, Jean-François Rime bei der SVP und Brigit Wyss bei den Grünen sind die offiziellen BundesratskandidatInnen für die Nachfolge von Moritz Leuenberger und Hans-Rudolf Merz. Wer von ihnen ist am klarsten im politischen Fadenkreuz positioniert?

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Plötzlich ging alles schnell: Von den 5 Nominationen bei der FDP, den 4 Frauen bei der SP, den 3 Grünen und den ominiösen, nie genannten 5 SVPlern, die sich für das Amt des Bundesrates interessierten, sind heute abend noch 6 offiziell im Rennen. Die beiden Herausforderer-Parteien, die SVP und Grünen, kürten in ihren Fraktionen je einen resp. eine KandidatIn. Derweil die beiden Parteien, die einen Ersatz einer ihrer Vertretungen im Bundesrat anstreben, je zwei PolitikerInnen vorschlagen.

Auch Smartvote hat rasch gehandelt: Der online-Dienst, der für SF arbeitet, positionierte die Bewerbungen nicht nur nach den bekannten Themendimensionen; er verdichtete die Antworten zu einem Standort im links/rechts-Spekturum einerseits, auf der Polarität zwischen liberal und konservativ anderseits.

So kann gelten: Die SP-Frau Fehr ist unter den offiziell vorgeschlagenen die linkeste. Ihr nahe steht Wyss von den Grünen. Sommaruga ist schon einiges gemässigter, wenn auch immer noch klar links der Mitte.

Von rechts her fällt zu erst SVP-Kandidat Rime auf, wobei die Unterschiede zu Schneider-Ammann und Keller Sutter eher gering ist.

Auf der zweiten Achse wird ersichtlich, dass bis auf Rime, der beschränkt dem konservativen Pol zuneigt, alle eher liberal eingestellt sind – Sommaruga am meisten, gefolgt von Fehr, Keller-Sutter und Schneider-Ammann.

Dieser eher erstaunliche Befund hat mit der Definition der Pole zu tun, die sich nicht einzig auf wirtschaftliche Liberalität stützt, sondern auch auf gesellschaftliche und auch in Beziehung zum Ausland.

Die Darstellung zeigt schliesslich, dass sich die FDP für die beiden rechten Kandidatur entschied, die Mitte keine Chance hatte und auch der am klarsten liberal denkende Noser ausschied. Die SP zwar zwei Frauen gekürzt, letztlich aber ein gemischtes Doppel vorgeschlagen, mit einer linken und einer gemässigten Sozialdemokratin, die beide für den EU-Beitritt sind.

Gemäss Smartvote kann man die im Titel aufgeworfene Frage nun beantworten: Die Differenzen zwischen den Bewerbungen beschränken sich weitgehend auf die Links/Rechts-Achse. Fehr und Wyss sind da am klarsten positioniert, klarer jedenfalls als Rime es rechts ist.

Claude Longchamp

Der Volkswille ist alles andere als einfach widerborstig

“Volk der Widerborste”: Unter diesem Titel setzt sich der Spiegel mit den BürgerInnen-Forderungen auseinander, welchen sich die repräsentative Demokratie unserer Nachbarn vermehrt gegenüber sieht. Ein Wider-Spruch aus meiner Feder!

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Der Berliner Zeithistoriker Paul Nolte hat wohl recht. Seine Analyse ist, dass sich die deutsche Demokratie auffächert. “Es wird immer noch die repräsentative Demokratie geben, daneben aber auch andere Formen. Ich nenne das eine ‘multiple Demokratie'”.

In der Schweiz nennt man das schon längst (halb)direkte Demokratie. Starken Exekutiven mit leistungsfähigen Verwaltungen steht ein mittelmächtiges Parlament gegenüber – und beides wird durch ausgebaute Volksinitiativen und Referenden kontrolliert, allenfalls auch gesteuert. Das gibt eine Balance zwischen den Gewalten, ohne eine eindeutig ins Zentrum zu rücken.

Die eher nüchterne Analyse des politischen Systems der Schweiz mit Vor- und Nachteilen wird in Deutschland rasch zur hochemotionalen Auseinandersetzung über staatstheoretische Prinzipien. Vordergründig lobt man, dank Bürgerbegehren lebe die Demokratie, die Menschen mischten sich ein, und sie nähmen Einfluss auf die Verhältnisse, die sie bestimmten. Und klatscht! Hintergründig schiesst man dagegen mit dem Hinweis, so entstehe keine bessere Gesellschaft, und die Modernisierung des Staates werde durch verloren gegangenen Bürgersinn blockiert. Die Gegenargumente lassen meist nicht lange auf sich warten: Die Politiker Deutschlands gelten als zu abgeklärt, was sich in mangelnder Sensibilität für das äussere, was in der Bevölkerung vor sich gehe, während die anderen darauf verweisen, einmal losgelassen, lasse sich der Mob der Volksdemokratie nicht mehr stoppen.

Da wirken ohne Zweifel historische Erfahrungen mit: Am Ende des Ersten Weltkrieges wurden die Deutschen direkt aus der fast 1000jährigen Monarchie unvermittelt in die Republik entlassen, in der sich bürgerliche und sozialistische Konzepte der Demokratie gegenüber standen, ohne dass man damit hätte Erfahrungen sammeln können. Die daraus entstandene Polarisierung führte, etwas verkürzt ausgedrückt, zum Aufstieg der Nationalsozialisten und endete in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Dass es nie mehr soweit kommt, ist im Interesse aller.

Das heisst nicht, dass es die deutsche Politik keinen Demokratisierungsbedarf habe. Die 80er Jahre liessen in West, dann vor allem im Osten die Menschen auf die Strasse gehen, um gegen Unrecht zu protestieren. Seit der Widervereinigung stiegt die Zahl der BürgerInnen-Begehren; auf Länderebene sind es zwischenzeitlich rund 20 im Jahr, und in den Kommunen zählt man landauf, landab zwischenzeitlich rund 350 pro Jahr. 2010 waren zwei Volksentscheidungen auf Länderebene erfolgreich: Der Kampf gegen die Schulreform in Hamburg und der Nichtraucherschutz in Bayern, und niemand kann diese Beschlüsse ins Gegenteil umkehren. Das war zu Beginn des Jahrzehnts noch anders, als man mehrere Vorlagen, die in Volksabstimmungen angenommen wurden, durch faktischen Entscheidungen der Behörden ausgehebelte. Alles in allem sind das Demokratisierungsfortschritte, die nicht zu letzt rückläufige Mitgliederzahlen in Parteien, Kirchenaustritte, Gewerkschaftsferne und volatile Mediennutzung ausgleichen.

Gerne verweist man in Deutschland darauf, dass Volksentscheidungen nicht besonders legitimiert seien, weil die Beteiligung oft tief, sprich unter 50 Prozent, sei. Nur sind das nicht selten die Verlierer, die im Nachein so argumentieren; dem haftet auch etwas Opportunistisches an. Zur Etablierung direkter Demokratie gehört, diese nicht zu verhöhnen, auch wenn nicht alle BürgerInnen zu allen Themen und zu jedem Zeitpunkt eine Meinung haben. Das mag zwar ein schönes Ideal sein, ist aber weit von der Realität weg, ohne deshalb schlecht zu sein. Härter trifft meines Erachtens der Einwand der Gegner von Volksrechten, dass ihre Einführung zu einer Bevorteilung von Mittel- und einer Benachteilung von Unterschichten führe. Das Schweizer Beispiel lehrt nämlich, dass die Stimmbeteiligung sozialstrukturell unterschiedlich ist: Mittelständische Gruppe wie Handwerker und Bauern werden bevorteilt, obere Mittelschichten und Oberschichten haben mehr Affinitäten zu aktiver Politikgestaltung, und ältere Semester sind über dem Mittel häufig unter den EntscheiderInnen. Das erschwert es ArbeiterInnen, untere EinkommensbezügerInnen und jüngere Menschen, sich in Frage, die nach der Mehrheitsregel entschieden werden, durchzusetzen.

Doch stehen dem offensichtliche Vorteile der halbdirekten Demokratie gegenüber: Krisen im Regierungslager, Fehler in Parlamentsentscheidungen oder auch Einseitigkeiten in der öffentlichen Debatte können durch Volksentscheidungen korrigiert werden, durch Bürgerengagement kompensiert und durch Protestbewegungen kontrastiert werden. Das Geniale an der direkten Demokratie ist, dass sie dafür einen institutinalisierten Artikulationskanal mit Entscheidungskompetenz anbietet.

Mindestens auf der lokalen Ebene und in kleinen und mittelgrossen politischen Gebilden bringt dies erwünschte Machtverlagerungen, vor allem von den politischen Parteien zur BürgerInnen-Gesellschaft, mit sich und stabilisiert so das das politische System, selbst wenn es hie und da auch umstrittene Entscheidungen gibt. Denn eines ist klar: Die Wahlentscheidungen alle vier Jahre, die meist aufgrund stilisierter Konflikte in zwei oder drei Sachfragen entstehen, sind vielfach zu einfach strukturiert, um mit den reinen Mitteln der repräsentativen Demokratie der Vielfalt von Fragestellungen in der Zwischenzeit zu genügen.

Die direkte Demokratie lebt davon, dass sich die Aktiven oder Betroffenen vermehrt engagieren dürfen, von einer meist pragmatisch urteilenden Mehrheit aber kontrolliert werden. Das ist alles andere als widerborstig wie ein Wildschwein, es ist vielmehr der Wille des aktivierten Volkes, selbstbestimmt besser leben zu wollen.

Claude Longchamp

Das neue Telefonbuch der Schweizer Volksabstimmungen

Obwohl das Buch finanziell von Swisslos unterstützt wurde, hat es die Absicht, das Gegenteil einer Lotterie zu befördern: Denn das neue “Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848-2007” ist die bisher kompletteste, systematische Uebersicht über Volksabstimmungen im Musterland der direkten Demokratie und dürfte innert Kürze bei allen SpezialistInnen zum unentbehrlichsten Nachschlagewerk avancieren.

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Seit einiger Zeit hat man mit Swissvotes online eine ausgesprochen nützliche Datenquelle über Schweizer Volksabstimmungen zur Verfügung. Nun haben Wolf Linder, Christian Bolliger und Yvan Rielle, unterstützt von Roswitha Dubach, Manuel Graf und Brigitte Menzi weiter recherchiert und das erste Handbuch zu den Schweizer Volksabstimmung herausgegeben, das schon aufgrund der Informationsmenge beeindruckt.

Denn jede der 529 Volksabstimmungen, die in der Schweiz auf Bundesebene zwischen dem 6. Juni 1848 über die Bundesverfassung und dem 17. Juni 2007 über die 5. IV-Revision stattgefunden haben, wurde von den ForscherInnen nach einem einheitlichen Raster dokumentiert. So findet man zwischen zwei Buchdeckeln, die gut 750 Seiten umrahmen, je ein Kurzporträt der Volksentscheidungen, welche

. die Vorgeschichte
. den Gegenstand
. den Abstimmungskampf und
. das Ergebnis behandeln.

Zudem werden in einer Info die wichtigsten Kennziffern mitgeliefert, die einen Anschluss an die bisherige, amtliche Abstimmungsstatitik liefern. Ferner werden alle verwendeten Materialien vom Bundesblatt über Zeitungen und bisheriger wissenschaftlicher Literatur rubriziert.

Als Erstes kann man für die erstaunliche Fleissarbeit nur danken. Denn jede(r), der oder die sich fast täglich mit Abstimmungen beschäftigt und sich aus aktuellen Anlässen Fragen stellt wie das bei vergleichbaren Themen, Ausgangslagen, Abstimmungskämpfen früher einmal war, kennt das Problem: Die eigene Erinnerung bleibt auch beim besten Willen selektiv, die Rückschauen der Engagierten und Betroffenen sind bisweilen einseitig, und die Wissenschaft hat sich bisher mehr unter einzelnen Fragestellungen, kaum jedoch unter einer systematischen Gesamtsicht mit vergangenen Volksabstimmungen beschäftigt.

Als Zweites kann man auch ein wenig Stolz sein: Zwar sind seit 1980 die Dokumentationen, Datenbanken und Uebersicht über Schweizer Volksabstimmungen besser geworden, doch der Zeitraum, der damit bestrichen wird, bleibt noch lang eng – vor allem angesichts des weltweit einmaligen Reichtums an Abstimmungsentscheidungen, – themen und -konstellationen, den man in der Schweiz ausschöpfen kann. Und genau diese Möglichkeiten sind uns nun, nach Swissvotes, sogar in einer verbesserten Form eröffnet worden.

Klar ist eines: So wenig man Telefonbücher von A-Z liesst, weil sie spannend wären, so unverzichtbar sind sie – in der papierernen oder elektronischen Form, wenn man umfassend miteinander kommunizieren will. Und genau das dürfte auch mit diesem Buch geschehen, wenn man in Geschichts-, Politik- und Staatswissenschaften, aber auch in Redaktionsräumen, Amtsstuben oder Studienarbeitsplätze ab heute über Volksabstimmungen in der Schweiz sprechen will. Nur besteht es nicht nur aus Zahlen, sondern aus dem Geschehenen.

Claude Longchamp

Nachdenken über strategische Entscheidungen bei den Bundesratswahlen

Es war ein interessanter Meinungsaustausch mit Christoph Darbelley, dem CVP-Präsidenten, gestern, kurz vor der Entscheidung über eine CVP-Kandidatur bei den anstehenden Bundesratswahlen. Und es hat mich zum Nachdenken über generelle Strategien angeregt.

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Den Entscheid von CVP-Partei- und Fraktionsspitze kennt man seit gestern Abend. Bei den kommenden Bundesratswahlen tritt man nicht mit einer eigenen Kandidatur an. Ständerat Frick hatte in dieser Sache Druck gemacht, Fraktionspräsident Schwaller und Parteipräsident Darbelley waren von Anfang an zurückhaltend. Drei Gründe schimmerten gestern für den Verzicht durch:

. Eine über die Parteigrenzen hinaus unbestrittene Bewerbung aus den CVP-Reihen gibt es gegenwärtig nicht. Der eine oder andere Name ist zwar im Gespräch, wohl aber erst für die Zeit nach den nächsten Parlamentswahlen.
. Seit der Nichtwahl von Urs Schwaller vor einem Jahr orientiert sich die CVP vermehrt an der politischen Mitte. Selbst wenn die Allianz der Mitte eher thematisch ausgerichtet ist, bleibt, dass man die wahrscheinlichsten Partner in zentralen personalpolitischen Entscheidungen nicht ohne Not brüskieren darf.
. Interessant fand ich vor allem das dritte Argument: Ohne Gewinne bei den nächsten Parlamentswahlen werden Ansprüche nicht durchsetzbar sein. 2 Prozente WählerInnen-Anteil mehr für die CVP sind nötig, bei gleichzeitigen Verlusten für die fusionierten FDP/Liberalen.

Letzteres deutet darauf hin, dass sich die CVP vermehrt damit auseinander setzt, die Sitzverteilung im Bundesrat nicht unabhängig ist von Entwicklungen in der Wählerschaft zu sehen. Das tönte bis vor Kurzem noch anders. Klarer als auch schon kam zum Ausdruck, dass man damit aber noch nicht beantwortet hat, wie die Bundesregierung ausgerichtet sein sollte.

Aus meiner Sicht können vier Varianten strategisch begründet werden, die man für die nahe Zukunft vor Augen haben kann.

1. Weiter wie bisher: Konkordanz wird partei- und personenpolitisch beurteilt. Das zwar nur als Uebergang so, aber ohne zeitliche Limitierung. Die jetzige Zusammensetzung fällt erst, wenn Eveline Widmer-Schlumpf zurücktritt, allenfalls wenn sie abgewählt wird. Von Strategie kann man hier am wenigsten sprechen.
2. Rückkehr zur Konkordanz der Grossen: Regierungstauglich ist strikte nur, wenn eine minimale elektorale und parlamentarische Stärke hat. Die Verteilung richtet sich aufgrund der Grössen. Konkret heisst das aus gegenwärtiger Sicht: 2 SVP, 2 SP, 2 FDP, 1 CVP. Faktisch wäre das die Rückkehr zur Zauberformel.
3. Mitte/Links-Allianz: Uebergang zu einem Regierungs- und einem Oppsitionslager, erhöhte Konkordanz nur im Regierungslager, arithmetische Verteilung, in diesem Fall : 2 SP, 2 FDP, 2 CVP, 1 Grüne. Strategisch wäre das eine Neuausrichtung, müsste deshalb auch mit der Regierungsreform verbunden werden.
4. Mitte/Rechts-Allianz: Ebene Unterscheidung zwischen Regierungs- und Oppositionslager, erhöhte Konkordanz ebenso nur im Regierungslager, arithmetische Verteilung, wobei ja nach Entwicklung zwei denkbar sind: 3 SVP, 2 FDP, 2 CVP oder je 2 SVP; FDP, CVP und 1 BDP. Strategisch wäre auch das eine Neuausrichtung. Auch dass wäre wohl ohne Regierungsreform nicht möglich.

Die erste Variante spricht dafür, die beiden freien Sitze mit den gleichen Parteien zu besetzen. Denn ihre Neubesetzung betrifft keine zentrale Frage. In der zweiten Variante macht es keinen Sinn, einen der beiden Sitze durch eine andere Partei zu besetzen. Der BDP-Sitz muss an die SVP zurück. Gemäss der dritten Variante bleiben die beiden freien Sitze auch bei den bisherigen Parteien. Die CVP bekommt jedoch den BDP-Sitz, und die Grünen beerben die SVP. Nur in der vierten Variante macht eine Parteiwechsel jetzt Sinn. Dabei würde der SP-Sitz an die SVP gehen. Der FDP-Sitz würde bleiben. Allenfalls, allenfalls auch der BDP-Sitz. Bei der nächsten Möglichkeit ginge der zweite SP-Sitz an die SVP.

Gar keine Begründung gibt es, jetzt die Grünen zu Lasten der FDP zu stärken. Das wäre nur unter einer Allparteienregierung ohne Ausrichtung sinnvoll. Und das wäre ein Parlament in der Regierung, vielleicht 2 SVP und je 1 Person der SP, FDP, CVP, der Grünen und der BDP. Das macht am wenigsten Sinn von allem.

Claude Longchamp