Zeugnisse für BundesratskandidatInnen

Der “Stern” macht es kürzlich vor. Er stellte den BewerberInnen für ein Spitzenamt in der deutschen Politik ein Zeugnis aus. Das beflügelte die Redaktion des Migros-Magazins, bei den anstehenden Bundesratswahlen es gleich zu tun.

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Reporterin Sabine Lüthi fragte mich an, eine Zeugnis für die sechs offiziellen KandidatInnen der SP, der FDP, der SVP und der Grünen bei den anstehenden Bundesratswahlen zu verfassen. Nach nur kurzem Zögern willigte ich ein, denn Personenbeurteilungen sind eigentlich kaum mein Ding.

Mir war wichtig, dass die Kriterien nicht nur auf den Stil gerichtet waren. Die politische Position und die Themenschwerpunkte sollten ebenso gewichtet werden.

Informiert habe ich mich gleich wie sonst. Einzig ist alles etwas genauer erfolgt. Gesammelt habe ich alle Ratings, sei es um Französischkenntnisse oder Vorstösse im Parlament gegangen. Sie flossen in meine Meinungsbildung mitein. Gelesen habe ich zudem die wichtigsten Porträts in den Zeitung, und gefragt habe ich Leute im und rund um Parlament – sowie meine BürokollegInnen vom gfs.bern.

Vor einer Woche musste ich mich festlegen. Die Ergebnisse der Hearings schimmtern noch knapp mit hin, doch was danach geschah, beeinflusste das Bild nicht.

Vier KandidatInnen halte ich für absolut geeignet, Bundesrätin oder Bundesrat zu werden. Hier meine spontane Kurzfassung der wichtigsten Empfehlungen – und die zentralen Hinderungsgründe.

. Simonetta Sommaruga halte ich für eine sehr starke PolitikerIn, welche mit ihrer Popularität dem angeschlagenen Bundesrat gut tun würde. Wir sie nicht gewählt, bleibt der Eindruck, der Neid der anderen PolitikerInnen habe den Ausschlag gegeben.
. Jacqueline Fehr wäre als profilierteste Familienpolitikerin im Parlament eine fachliche Verstärkung in der Bundesregierung. Eine Nicht-Wahl hätte wohl auch mit den etwas unklaren finanziellen Verhältnissen in ihren Ehe zu tun, die in Auflösung ist.
. Karin Keller-Sutter hat mich im Wahlkampf am meisten positiv überrascht; mit ihrem souveränen Auftritt ist sie so oder so ein Versprechen für die Zukunft. Bei einer Nicht-Wahl gehe ich davon aus, dass sie bald als Ständerätin nach Bern fährt und vorteilhaft politisieren wird.
. Johann Schneider-Ammann ist ein guter Kenner der Wirtschaftsbeziehungen im In- und Ausland, welche die Handlungsfähigkeit des Bundesrates stärken könnte. Setzt er sich nicht durch, ist es wohl ein Zeichen, dass meine Generation PolitikerInnen nun die Geschicke der Schweiz führen will.

Sollte es fünf Frauen im Bundesrat nicht ertragen, fände ich das kein gutes Argument bei den Wahlen. Denn wir bekommen diesmal etwas 2 ZürcherInnen, 2 BernerInnen, 3 Welsche oder 5 Frauen. Und: Quoten zu ihren Gunsten wollte man nie – so sollte man auch keine Quoten zu ihren Ungunsten einführen.

Hier geht es zu den Zeugnissen im Detail.

Claude Longchamp

Wer wird neue(r) BundesrätIn?

Seit einige Tagen gibt es in Bundesbern nur noch eine Frage: Wer wird am 22. September 2010 neue Bundesrätin oder neuer Bundesrat? Wo es eine solche Erwartungshaltung gibt, wachsen auch die Angebote. Nicht in jedem Fall zum Vorteil der Information.

Umfragen
Auf Newsnetz fand während Tagen eine LeserInnen-Befragung statt. An der Spitze standen am Schluss Sominetta Sommaruga, gefolgt von Karin Keller-Sutter, Johannes Schneider-Ammann und Jacqueline Fehr. Damit rangierten die beiden offiziellen SP- resp. FDP-KandidatInnen vorne. Jean-Francois Rime von der SVP lag an fünfter Stelle, und die Grüne Brigit Wyss belegte den sechsten Platz. – Das Ergebnis ist nicht unplausibel. Es entspricht zwei etwas älteren Repräsentativ-Befragungen, wonach aus Bevölkerungssicht Sommaruga die gewünschte Leuenberger-Nachfolgerin ist, und Keller-Sutter auf Merz folgen soll. Die online Erhebung hat aber Schwächen: Sie unterschlägt, dass es am 22. September zwei Wahlen geben wird, und nicht alle 6 KandidatInnen in beiden Umgängen antreten werden. Zudem haben sie die übliche Schwäche von Mitmach-Umfragen: Interessierte können mehrfach abstimmen, um ihren Favoriten zu helfen, verfälschen aber damit das Bild der unterstellten Volkswahl.

Wahlbörsen
Auf der Wahlseite von SF findet sich neuerdings eine Wahlbörse. Wiederum führt hier Sommaruga, allerdings hier vor Rime und Fehr. Keller-Sutter ist vierte, etwas von Schneider-Ammann, und Wyss befindet sich wieder an sechster Stelle. Wahlbörsen basieren darauf, dass man mit eigenem Geld Aktien der KandidatInnen kauft, die man virtuell handelt. So stellt sich für jede Person ein Marktwert ein, der den Wahlchancen gleich gesetzt wird. – Was theoretisch als Prognoseinstrument Sinn macht, kennt in der Praxis Probleme: Gibt es zu wenige Trader, ist der Einfluss der Einzelnen zu gross. Dann kann es auch sein, dass eine Gruppe den Handel manipuliert, und genaus das ist der Wahlbörsen Tod! Im aktuellen Beispiel kann man das vermuten: Denn auf der ganzen Welt wetteten bisher gerade mal 23 Börsianer auf unsere BundesratskandidatInnen.

Pferderennen
Noch einfacher machen es sich gewisse JournalistInnen, die Bundesratswahlen mit Pferderennen gleichsetzen. Im “Blick” geht es dabei gar nicht mehr darum, wer vorne und hinten liegt. Dafür werden die Gewinne und Verluste in jeder Runde, sprich an jedem Tag, bilanziert. Worauf diese Stimmungsmache basiert, erfährt man als KonsumentIn nicht. Das ist bei Meinungsmachern in den Medien etwas besser, auch wenn die Argumente vor lautem Taktieren irritieren. So kritisiert Roger Schawinski in der Sonntagszeitung (nicht auf dem web), Sommaruga sei perfekt und populär, wohl wissend, dass beide Attribute unter den bürgerlichen ParlamentarInnen damit die Wahlchancen der Berner Ständerätin vermindern. Dreist war die Argumentation von Patrik Müller, Chef des Sonntags, gestern in der “Arena”. Er warb für Rime, damit Blocher 2011 nicht Bundesrat werde.

Simulation mit sauberem Tableau
Uneingeschränktes Lob verdient in dieser Sache erneut Bernhard Kislig von der BernerZeitung, der in der heutigen Ausgabe als Erster ein sauberes Tableau zu beiden Wahlen, mit den wahrscheinlichen KandidatInnen, ihren Chancen in den Wahlgängen und einem möglichen Ausgang erstellt hat. Das ist dem Verfahren bei Schweizer Bundesratswahl angemessen, und seine Kommentare lassen erkennen, wer wann welche Weichen stellt. Vielleicht hätte man noch etwas konsequenter mit Szenarien arbeiten können. Doch kommt er zu einem klaren Schluss: Beim Ausscheiden von Rime werden 66 Stimmen frei, die sich dann auf die FinalistInnen verteilen. Auf eine der Personen gerichtet, ist das entscheidend. So kommt es wohl darauf an, wer bei der SVP durchkommt oder durchfällt.

Claude Longchamp

Nützliche Links zu Abstimmungen und Wahlen in der Schweiz

Letzte Woche unterrichtete ich an der Zürcher Hochschule in Winterthur im Rahmen des CAS “Politische Kommunikation”. Es ging um BürgerInnen und Demoskopie im weitesten Sinne, also um Fragen, wie aus BürgerInnen-Meinungen politische Entscheidungen werden und wie die Ergebnisse auf kollektiver Ebene auf die individuelle herunter gebrochen werden können.

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Mehrfach wurde ich danach gefragt, nebst den Literaturangaben eine Linksliste abzugeben. In der Tat hatte ich das in den Unterlagen nicht gemacht, weshalb ich das auf diesem Weg nachhole.

Amtliche Informationen:
Offizielle Informationen Wahlen und Abstimmungen Schweiz
Amtliche Wahlergebnisse Schweiz
Amtliche Volksabstimmungsergebnisse Schweiz

Abstimmungsforschung Schweiz:
Abstimmungsforschung (Schweiz)
Historisches Datenarchiv Volksabstimmungen Schweiz
VOX-Analysen eidgenössischer Abstimmungen
Vimentis: Ueberparteiliche Abstimmungsinformationen
Parlamentsmonitoring
SF Abstimmungen Archiv
Dispositionsansatz zur Analyse der Meinungsbildung bei Volksabstimmungen
SRG-Trendbefragungen zu Volksabstimmungen/Hochrechnungen/Erstanalysen
Ballotpedia (Archiv Volksabstimmungen in den US-Gliedstaaten)
Direkte Demokratie in Europa

Wahlforschung Schweiz:
Wahlforschung (international)
Prognosemodelle für Wahlen (vorwiegend für die USA)
Wahlatlas Schweiz
Selects – Schweizer Wahlstudien
Smartvote Wahlhilfe
Schweizer Parlamentswahlen 2007
Schweizerische Bundesversammlung
SF Wahlen 07
Grafik Datenbank Wahlbarometer 2007
Kommentierte Literaturliste politische Kommunikation (vorwiegend Wahlen)

Aktuelles findet sich jeweils auch in der Kategorien Wahlforschung, Abstimmungsforschung und Politische Kommunikationsforschung auf diesem Blog.

So, ich hoffe damit, diese Bringschuld eingelöst zu haben.

Claude Longchamp

Was SP und Grüne zusammenhält, was sie trennt – und was sie täuscht

Sarah Nicolet, Oberassistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Genf, hat, gemeinsam mit ihrem Chef, Pascal Sciarini, daselbst Professor und Direktor, eine der innovativsten Analysen über die linke Wählerschaft in der Schweiz herausgegeben.

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Eines sei vorweg schon gesagt: Das Buch, das ich hier bespreche, wäre es trotz Einwänden wert, vom Französischen ins Deutsche übersetzt zu werden, und es würde den betroffenen Parteien gut anstehen, es gesamtschweizerisch zu diskutieren.

Ganz anders als viele akadamisch angehauchte Bücher, besteht “Le destin électoral de la gauche” schon auf der formalen Ebene: grafisch vorbildlich illustriert, materialreich von der ersten bis zur letzten Seite, das Ganze sauber ausgearbeitet, sind die 10 Kapitel zwischen der Einleitung und den Schlussfolgerungen ein Lesegewinn.

Linke Gemeinsamkeiten
Die generelle These, von der Linken bis Ende 2006 vorgetragen und vom Buch übernommen, lautet: Die Polarisierung der schweizerischen Politik hat sowohl der SVP wie auch der Linken in der Schweiz genützt. Doch änderte sich das 2007, indem seither, national wie kantonal, nur noch die Grünen gewinnen, während die SP Wahlen regelmässig verliert. Das stellt die Frage nach dem “warum?”.

Die gründliche Analyse des neuen Phänomens stützt sich vor allem auf die Daten der selects-Studien, die seit 1995 regelmässig nach eidgenössischen Wahlen bei BürgerInnen und KandidatInnen erhoben werden. Sie kommt, durch mich arg verkürzt, aber sachgerecht gebündelt, zu folgenden Schlüssen:

Das traditionelle Elektorat der Linken, die unteren Schichten im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft, ist, ähnlich wie in Oesterreich, Belgien, Frankreich und Norwegen, im Zeitalter der Globalisierung nationalkonservativ geworden und hat sich populistischen Rechtsparteien zugewandt. Das trifft die SP mit ihrer historischen Verbindung zur Arbeiterbewegung, nicht aber die Grünen, die ihre Entstehung dem postmaterialistischen Wertwandel der 80er verdanken. Für beide sind die neuen Mittelschichten attraktiv, sodass Rotgrün zwischen 1995 und 2003 an Wählerstimmen in vergleichbaren Elektoraten zulegen konnte.

Der SP ist es dabei gelungen, sich vor allem auf kantonaler Ebene in den Regierungen zu verstärken, während das bei den Grünen in den Gliedstaaten wie im Bundesstaat problematisch bleibt. Dafür protitieren sie von der Politisierung der Legislativ-Wahlen, wo sie sich fast ununterbrochen verstärken konnten.

Konkurrenz zwischen Rot und Grün
Das hat Konkurrenz zwischen den beiden führenden Parteien der helvetischen Linken vielerorts aufbrechen lassen. Das Elektorat war bisher sowohl in aktualisierter wie auch in potenzieller Hinsicht gerade in den Mittelschichten identisch, entwickelt neuerdings aber spezifische Präferenzen, von denen die Grünen mehr als die SP profitiert – und gemäss Genfer Analyse noch mehr profitieren könnten. Denn anders als die SP mobilisieren die Grünen ihre wertemässiges Potenzial, das sie als Partei haben könnten, schlecht.

Für die Wahl der Grünen sprechen gemäss den Genfer Politologen namentlich die kulturellen Themen. Denn sie beeinflussen die soziokulturellen Eliten in ihren Wahlentscheidungen am stärksten. So bilden Migrationsfragen – gerade auch in Abgrenzung zur SVP – die Plattform der Grünen, ihre Oeko-Wählerschaft auszuweiten, während diese bei der SP blockierend wirken, gehen doch die Präferenzen gerade hier zwischen Mittel- und Unterschichten auseinander. Ihr Dilemma ist: Je mehr sich die SP dem annimmt, umso mehr verliert sie, und je mehr sie das den Grünen überlässt, umso eher gewinnen sie. Doch sprechen die Gesellschaftsthemen aus linker Sicht unverändert für die SP. Ihre fehle aber, so der Buchbefund, eine eigentliche Offensive in Wirtschafts-, Sozial- und Finanzfragen, mit der sie ihre überzeugte, aber alternde Wählerschaft kontinuierlich erneuern könnte.

Trugschluss in der Tagespolitik und ihrer Analyse
Dieser Analyse und Würdigung kann man in weiten Teilen folgen. Sie bringt die Gemeinsamkeit und Unterschiede der zentralen Parteiangebote im linken Lager auf den Punkt. Doch bleibt die aktuelle Problemidentifikation damit etwas unvollständig, denn seit 2007 gibt es mit den Grünliberalen ein neues Produkt in der Parteienlandschaft, das aus der welschen Optik vielleicht nicht vorrangig ist, in einer nationalen Uebersicht mit Anspruch auf Perspektive aber nicht fehlen dürfte.

Das hätte die einzige Ungereimheit in der Dateninterpretation vielleicht auch verhindert. Denn alternativ zur These, dass die unterschiedliche Institutionalisierung linker Stimmen in Regierungen (SP) und Parlamenten (Grünen) die aktuelle Konkurrenz zwischen Rot und Grün begründet, wird auch diskutiert, dass die beiden Parteien in der Schweiz zu weit links stehen. Andreas Ladner hat jüngst mit einer europäisch vergleichenden Studie darauf aufmerksam gemacht, dass die britische Labour Party etwa mit der CVP zu vergleichen sei, die SP wiederum mit der Linken in Deutschland deckungsgleich sei, aber keine Schweizer Linkspartei mit der europäischen Sozialdemokratie zwischen Postkommunisten und New Labour übereinstimmt.

Mit anderen Worten: Es könnte auch sein, dass gerade die Focussierung der beiden Linksparteien auf-, zunehmend auch gegeneinander beide betriebsblind gemacht hat – etwa dafür, dass es in ihrem Potenzial Werteveränderungen gibt, für die ökologische und soziale Ausrichtungen unverändert wichtig sind, die Fixierung aber auf staatlichen Lösungen im Sinne der Umverteilung von Finanzen zum eigentlichen Problem geworden sind.

Mit dieser Auslegeordung in der Absicht, aber auch gegen die Verengnung des Buches, sei die Diskussion zur Wahlzukunft der Linken (nun auch auf Deutsch) lanciert. An tagesaktuellen Anlässen fehlt es ja nicht …

Claude Longchamp

3 Thesen zum Campaigning der Zukunft

Ich war gestern von der Lobby-Gruppe ePower eingeladen, über Campaigning der Zunkunft zu sprechen. Hier meine drei Thesen, die ich dem zahlreich erschienen Publikum aus Politik und IT-Branche zur Diskussion stellte.

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Pädophilie in der Kirche ist ein typisches Thema, das mit den Mitteln des Campaigning öffentlich geworden ist, und uns noch länger beschäftigen wird.

Erstens, Campaigning wird – als relativ neuer Begriff – verwendet, um das Dynamische an einer Kampagne zu betonen. Diese können nicht einfach auf dem Reisbrett entworfen und durchgezogen werden. Weder Wahl-, noch Abstimmungskampagnen können darauf verzichten, die Massenmedien zu interessieren. Diese wollen eine Dramaturige sehen, einen prominenten Anfang, eine Zuspitzung auf das Wesentliche und eine klare Botschaft zum Schluss. Ereignisse markieren dabei die Uebergänge, erzeugen Spannung, was die Chancen einer kontinuierlichen Medienpräsenz erhöht. Wirksam ist kampagnen-bezogenes Campaigning dann, wen es all das erfüllt, im besten Fall auch zum zentralen Thema der Medien oder des besten Mediums für die Zielgruppe wird.

Zweitens, Kampagnen-Analysen zeigen, dass man zwischen kurz- und mittelfristigen Wirkungen unterscheiden muss. Letzteres ist dann der Fall, wenn man über eine Kampagne hinaus kohärent kommuniziert. Campaigning insistiert dabei auf eine zielorientiertes Handeln, mit konstanten Super-Kommunikatoren, denen es gelingt, die übergeordneten Werte der Botschaft zu vermitteln, selbst wenn die Themen und Arenen der Auseinandersetzung über mehr als eine Kampagne hinaus variieren. Denn die Verbindung von Kommunikatoren und Werten wirken wie der rote Faden, während die Anlässe die Kugeln der Kette sind, die man daran aufzieht. Selbst wenn die eine, mehrere oder andere Kugeln verloren resp. vergessen gehen, den Faden muss man sehen, und sich daran erinnern.

Drittens, die grösste Herausforderung des Campaignings besteht darin, langfristige Themensetzung zu betreiben, eigentliche Politikzyklen zu lancieren, zu begleiten und im gewünschten Masse zu steuern. Campaigning wird damit definitiv zum Bestandteil der Politik, wie man das im Rückblick am besten erkennt: Dank Campaigning sind Themen wie die Oekologie-, Frauenfrage oder Pädophiliefrage auf die politische Agenda gesetzt werden; dank dieser kommunikativen Technik, haben sich Parteien wie die SVP über längere Zeit thematisch profilieren können; wegen des ausländischen Campaignings ändert sich die Position der Schweiz ist zentralen Fragen wie des Bankgeheimnisses oder der Steuerpolitik.

Man kann das Potenzial des Campaigning auf die Frage reduzieren, welche Kanäle man via Internet nutzen soll. Doch das ist das Basalste an dieser Innovation. Letztlich verfehlt diese Ausrichtung indessen die Chancen, welche diese Innovation der Mediengesellschaft für die Zukunft anbietet.

Claude Longchamp

Grosse Bundesräte der Schweiz

“Presidential ratings” gehört in den USA zum medialen Geschäft der Historiker. Urs Altermatt macht damit in der Schweiz den Anfang.

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Kurt Furgler, das Alphatier im Bundesrat, ist wohl heimlicher Favorit von Urs Altermatt unter den grossen (verstorbenen) Bundesräten (des 20. Jahrhunderts).

Zeitgeschichtler Urs Altermatt ist allen als “Bundesrats-Historiker” bekannt. Keiner hat sich in der Schweiz so ausführlich, vertieft und wirksam mit den Mitgliedern der Schweizer Bundesregierung beschäftigt. Auch ist er einzigartig in der Verbindung von Geschichte als Kulturwissenschaft und Politik als Sozialwissenschaft – eine Verknüpfung die Altermatt bei seinem Mentor Karl W. Deutsch in den USA gelernt hat.

Nun folgt der emeritierte Freiburger Professor einem weiteren amerikanischen Trend. Denn unter den Geschichtsprofessoren der USA ist es zu einem beachtliches Geschäft geworden, “presidential rankings” zu erstellen, um die Grossen unter den Grosse der Vereinigten Staaten von Amerika zu ermitteln und publizistisch in Erinnerung zu halten. Zwischenzeitlich sind ausgefeilte Methoden der Beurteilung entwickelt worden, und eine Vielzahl von HistorikerInnen ringt darum, die richtige Reihenfolge zu ermitteln.

Auf diesem Pfad, wenn auch ganz am Anfang des Wegs, animierte newsnetz Altermatt, über the big six unter den Schweizer Bundesräten zu rätseln. Unter zwei Einschränkungen akzeptierte Altermatt die Herausforderung: Zeitlich ging man nur bis zum Ende des 1. Weltkrieges zurück, weil sich niemand mehr an die älteren Bundesrät erinnern könne. Und die noch lebenden wurden allesamt ausgenommen, um das Geschäft der Historiker zu wagen. Das hat natürliche Konsequenzen: Frauen scheiden aus, und die Parteien der Zauberformel haben alle eine Chance.

Herausgekommen ist die nachstehende Liste, die nicht als wirkliches Ranking verstanden werden soll, sondern in der Reihenfolge des Amtsantritts aufgebaut ist:

Rudolf Minger (1881-1955),

Bundesrat der BGB (heute SVP) von 1930-40, gewürdigt für seine Verdienste im Aufbau der Armee vor dem zweiten Weltkrieg,

Philipp Etter (1891-1977),

Bundesrat der KK (heute CVP) von 1934-59, weil er sich für die geistige Landesverteidigung verdient gemacht hatte,

Max Petitpierre (1899-1994),
Bundesrat der FDP von 1944-61, wegen des Aufbruchs aus der Isolation zu Beginn der Nachkriegszeit, der von ihm geprägt wurde,

Friedrich Traugott Wahlen (1899-1985),
Bundesrat der BGB (heute SVP) von 1959-65, der die Anbauschlacht im Zweiten Weltkrieg leitete,


Hans-Peter Tschudi (1913-2002),

Bundesrat der SP von 1971-1973, der, geschockt von den Sputnik-Erfolgen der sowjetischen Raumfahrt, das Sozial- und Bildungswesen ausbaute.

Kurt Furgler (1924-2008),
Bundesrat der CVP von 1971-86, dem Alphatier aus der Ostschweiz, der den Reformprozess für die neue Bundesverfassung einleitete, und

An Kriterien, die den Historiker bei seiner Wahl leiteten, nennt Altermatt die Länge der Amtszeit, während der sich ein Bundesrat halten konnte, den sachlichen Leistungsausweis und die Popularität, die er erlangte. Nur bei Wahlen machte er eine Ausnahme, der der war nur kurz Bundesrat, aber schon vorher eine Legende.

Ein wenig erinnert mich das an meine erste Lehrveranstaltung an der Uni Bern, in der es um Bundesräte in der Geschichte ging. Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einem Witz von und über Ruedi Minger. Gelacht haben wir gerne; ob der deshalb ein gutes Regierungsmitglied war, weiss ich bis heute nicht.

Claude Longchamp

Schlüsselfigur Rime?

Morgen Dienstag finden die Hearings statt, bei denen die Fraktionen der Bundesversammlung den KandidatInnen für die Bundesratswahlen den Puls fühlen. Allgemein rechnet man damit, dass sich danach abzeichnet, wer zurecht in der FavoritInnen-Rolle schlüpft. Denn aus eigener Kraft schafft es keine Fraktion, die eigene(n) Bewerbung(en) durchzusetzen.

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Jean-François Rime, SVP/FR, könnte zur Schlüsselfigur bei den kommenden Bundesratswahlen werden.

In der LeserInnen-Umfragen auf www.newsnetz.ch ist alles klar: Sommaruga führt, vor Keller-Sutter, unwesentlich vor Schneider-Ammann, aber einiges von Fehr, die ihrerseits sicher vor Jean-François Rime und Brigit Wyss liegt. Das ist seit Tagen unverändert.

Doch das Vorgehen täuscht in mehrfacher Hinsicht: Es wählt die vereinigte Bundesversammlung, keine Online-Community. Und es finden zwei Wahlen statt, je ein für die Nachfolge von Leuenberger resp. Merz. Zudem irrt man womöglich, wenn man alleine von der Beliebtheit ausgeht. Denn die Wahlen in den Bundesrat finden nicht in einer einfachen Wahlrunde statt, sondern einer in mehreren Stufen, die taktische Ueberlegungen zulassen. Die ersten zwei Umgänge sind offen, doch danach scheidet der oder die KandidatIn mit dem schwächsten Ergebnis aus, bis eine Bewerbung das absolute Mehr erreicht.

Die SVP-Gruppe will in beiden Wahlen antreten und jeweils geschlossen für Rime stimmen. Das gibt rund 65 Stimmen. Wyss von den Grünen hat den gleichen Vorteil, als Einzige für ihre Fraktion zu kandidieren, doch bekommt sie aus dieser selber bei geschlossener Stimmabgabe nur 24 Stimmen. Die SP und die FDP werden vorsichtig votieren, denn beide Fraktionen wissen, dass sie ihre Bewerbungen auf die Stimmen des Gegenüber angeweisen sind. Zusammen sind das 98 Zähler. Ohne die Stimmen von CVP und BDP, die zusammen auf 58 kommen, wird niemand gewählt, und genau über ihre Präferenzen weiss man am wenigsten. Insbesondere bei der CVP kursieren mehrere Ueberlegungen: Konservative CVPler aus der Innerschweiz scheinen gewillt zu sein, bei der mindestens FDP-Wahl Rime zu favorisieren, um die SVP mit Blick auf die Wahlen ruhig zu stellen. Die Parteispitze und mit ihr wohl auch die Mehrheit der Zentrumsfraktion werden für die Offiziellen von SP und FDP votieren und dafür auf Gegengeschäfte hoffen. Das dürfte auch bei der BDP so sein.

Bei der ersten Wahl haben die beiden SP-KandidatInnen ein gemeinsames Potenzial von rund 180 Stimmen. Selbst wenn es bei der CVP AbweichlerInnen und leere Wahlzettel an verschiedenen Orten geben sollte, können sie mit 165 bis 170 Stimmen rechnen. Im besten Fall ist eine der beiden Bewerberinnen klar vorne und gewählt. Im schlechtesten Fall haben bei SP-BewerberInnen je 82 bis 85 ParlamentarierInnen hinter sich, während Rime auf 76 bis 81 kommen dürfte. Die Chancen sind damit intakt, dass beide SP-Kandidatinnen ins Finale kommen, der Sitz also an die SP geht. Aus Sicht der SP wäre es deshalb riskant, eine Kandidatur forcieren zu wollen.

Bei der zweiten Wahl treten die SVP und die Grünen gegen die FDP an. Bekommen die Freisinnigen alle Stimmen der übrigen, reicht das für rund 155 Zusagen, verteilt auf zwei BewerberInnen heisst das, 75 bis 80 Stimmen. Nicht auszuschliessen ist, dass einige Stimmen aus der CVP und der BDP an die SVP gehen, und bei der SP ebenso vereinzelte ParlamentarierInnen für die Grünen votieren, wenn sie ihre Kandidatin im Bundesrat wissen. Das nützt der Grünen Wyss nicht viel, denn sie dürfte selbst bei mehrheitlich linkem Sukkurs als Erste ausscheiden. Doch Rime könnte auf mindestens so viele Stimmen kommen wie in der ersten Wahl. Damit ist als Variante gut denkbar, dass Rime eine der beiden Bewerbungen aus der FDP aus dem Rennen wirft, ohne dass die andere gewählt ist. Damit würden sich am Schluss je eine Kandidatur aus der FDP und der SVP gegenüber stehen – mit unsicherem Ausgang. In dieser Ausmarchung ist demnach nicht nur personell, parteipolitisch mehr offen, als das bei der ersten Wahl erscheint. Die FDP kann sich dieser Selektion durch die SVP nur dann sicher entziehen, wenn sie alles auf die Karte setzt, die im Parlament die besseren Chancen zum Stich hat.

Es mag sein, dass am Schluss Sommaruga und Keller-Sutter obsiegen, wie das die LeserInnen des newsnetz gerne hätten. Ob Sommaruga oder Fehr vorne sind, weiss man nach den Hearings vielleicht besser. Bei der Paarung Keller-Sutter und Schneider-Ammann, ist nicht auszuschliessen, dass Rime den Ausschlag in der Personenauswahl gibt, und damit selbst bei einer Nichtwahl zur Schlüsselfigur dieser Wahl wird.

Claude Longchamp

Der Minarettsfall in Umfragen im Rückspiegel: Was war Sache, und was kann man daraus lernen?

Über Umfragen in Abstimmungskämpfen ist gerade in der Schweiz im Nachgang zur Minarett-Entscheidung viel debattiert worden. Die SRG sistierte die Publikation weiterer Umfragen vorerst und liess mehrere externe Experten die Studien begutachten. Zwischenzeitlich werden die Umfragen wieder gemacht und veröffentlicht, es wird aber zwischen einer Normal- und Spezialsituation unterschieden.

Die Gutachten

Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen kam in einer ersten, kurzen Ueberprüfung des Vorgehens zum Schluss, die Datenerhebungen und -auswertungen seien methodisch korrekt und entsprächen dem State of the Art. Die vermutete Handy-Problematik schloss er aufgrund deutscher Erfahrungen weitgehend aus. Soziale Erwünschtheit im Antwortverhalten zu kulturell tabuisierten Themen hält er im Einzelfall für eine mögliche Erklärung der Diskrepanz im Minarettsfall. Bestätigt wird diese Einschätzung auch damit, dass es bei den beiden anderen Vorlagen, die mit den gleichen Befragungen analysiert wurden, keine Daten- und Interpretationsprobleme gab.

Ein zweites, ausführliches Gutachten der Schweizer Mediensoziologen Kurt Imhof und Patrick Ettinger kritisierte den medialen Umgang mit Umfragen vor Abstimmungen. 44 Prozent aller Publikationen im Minaretts-Fall seien im Vergleich zu den Daten und Berichten überinterpretiert gewesen. Die Selbstsuggestion habe sich auf die redaktionelle Berichterstattung ausgewirkt. Den Produzenten und Erstvermittlern von Befragungen empfehlen die Experten, (noch) stärker als bisher den Charakter der Momentaufnahme zu deklarieren, von bisherigen Trends zu sprechen und die Unsicherheit des Ausgangs zu betonen. Soziale Erwünschtheit im Antwortverhalten als Folge von Meinungsdrucks schlossen auch sie nicht aus. Die Diskussion über ein Verbot der Plakate der Initiantinnen und Initianten hätte eine spezielle Situation geschaffen, die höchst kontrovers und emotional geführt worden sei. Sie raten, in vergleichbaren Situationen vermehrt auch auf andere Informationsquellen wie Online-Foren abzustellen. Auf quantifizierende Korrekturwerte für Umfragen verzichteten sie aber.

Das dritte, ebenfalls ausführliche Gutachten der Politikwissenschafter Markus Freitag, Adrian Vatter und Thomas Milic beschäftigte sich mit den unterstellten Wirkungen von Umfragen auf die Meinungsbildung. In Übereinstimmung mit den bisherigen Übersichten kommen sie zum Schluss, dass es auch im aktuellen Fall kaum empirisch gesicherte Belege für die Annahmen der Lethargie- oder Defätismus-Hypothesen gäbe. Drei Gründe bringen sie vor: Die Nutzerinnen und Nutzer publizierter Umfragen vor Abstimmungen entsprächen weitgehend dem Typ des multiplen Mediennutzers, der politisch überdurchschnittlich interessiert sei und ein weitgehend autonomes Selbstverständnis als Bürgerin respektive Bürger habe. Der aktuelle Fall weiche davon nicht ab, da es sich um eine im Alltag weitgehend bekannte Problematik handle, die thematische Prädispositionen schon vor dem Abstimmungskampf habe entstehen lassen. Statt von sozialer Erwünschtheit auszugehen, wäre es deshalb hilfreicher, von Entscheidungsambivalenz zu sprechen, wonach sich in Stimmabsichten sowohl Parteiloyalitäten als auch Alltagserfahrungen spiegeln, und zwar in einem variablen Verhältnis. Schliesslich relativierten sie Mobilisierungswirkungen von Umfragen. Sicher ausgeschlossen werden könne die Defätismus-Hypothese, weil die BefürworterInnen trotz negativer Aussichten gemäss Umfragen besonders stark mobilisiert gewesen seien. Weitgehend gilt das auch für die Lethargie-Hypothese, weil auch bei den Gegnergruppen eine im Vergleich zu allen Abstimmungen überdurchschnittliche Teilnahmehäufigkeit festgestellt werden konnte.

Diese Argumentationen der Experten überzeugten die SRG, das Instrument der Vorbefragungen weiterzuführen und die entsprechenden Studien nach einem einmaligen Unterbruch wieder zu publizieren. Angesichts der guten Erfahrungen mit rund 50 Abstimmungsvorbefragungen kann man davon ausgehen, dass sich Umfragen im Normalfall bewährt haben, im Spezialfall jedoch mit erhöhten Vorsichtsmassnahmen eingesetzt werden soll. gfs.bern hat 10 Vorsichtsmassnahmen für die eigenen Kontrollen erarbeitet.

Meine Folgerungen

Ob die im Minarettsfall ausgewiesenen Werte für die Stimmabsichten richtig oder falsch waren, konnte bis jetzt nicht eindeutig beantwortet werden. Unterstellt man soziale Erwünschtheit im Antwortverhalten, kann man von höheren Ja-Anteilen ausgehen, die aufgrund der tabuisierten Abweichung kaschiert worden seien. Folgt man dem Konzept der Entscheidungsambivalenz, können solche Annahmen täuschend sein. Nur die Relevanz der geäusserten Stimmabsichten wäre mit Blick auf den Abstimmungsentscheid stark eingeschränkt.

In der Wahlforschung ist man geneigt, solche Phänomene eher gemäss der sozialen Erwünschtheit zu interpretieren, und man kennt ansatzweise auch Korrekturfaktoren. Das heisst jedoch nicht, dass das auch bei Abstimmungen so wäre. Denn anders als bei wiederkehrenden Parteientscheidungen gibt es bei Abstimmungen angesichts der viel höheren Variabilität von Entscheidungsthemen keine eindeutigen Prädispositionen. Wenn schon leiten sie sich sowohl aus Alltagserfahrungen einerseits und parteipolitischen Bindungen anderseits ab. Strukturiert beides einen Abstimmungsentscheid in die gleiche Richtung, sollten keine Messprobleme in Umfragen entstehen. Stehen sie zueinander im Widerspruch, können Parteibindungen im Meinungsbildungsprozess in den Hintergrund treten und die Alltagserfahrungen den für den effektiven Abstimmungsentscheid determinieren.

In der Tat zeigten die verschiedenen Umfragen, die keine Mehrheit für die Minaretts-Initiative auswiesen, dass islamkritische Forderungen mehrheitsfähig waren und entsprechende Botschaften der Initiativ-Befürworter auf Zustimmung stiessen, ohne dass sie entscheidungsrelevant gewesen wären. Insbesondere bei parteipolitisch ungebundenen Bürgerinnen und Bürgern nahm deren Bedeutung für den Stimmentscheid erst mit der Zeit zu. Das lässt einen Meinungsumschwung durch plausibel erscheinen, wurde auch so kommuniziert, nach der Erstpublikation aber nicht mehr weiter vermittelt.

Unsere eigenen Erfahrungen mit Umfragen vor Abstimmungen decken sich weitgehend mit den übrigen Befunden der ExpertInnen. Es ist sogar gut möglich, dass beides drin ist: soziale Erwünschtheit und Entscheidungsambivalenz. In der Kommunikation ist das aber gar nicht das wichtigste: Das Hauptproblem ist sie mediale Stilisierung von Umfragen zu Prognosen. Die Medien suggerieren damit aber genau das Gegenteil von dem Umfragen gemäss Demoskopen sind: Momentaufnahmen. Gut gemachte Serien von Momentaufnahmen lassen gesicherte Trends erkennen, die im besten Fall auch eine Vorausschau erlauben. Punktgenaue Prognosen bleiben Abstimmungen Spekulation. Sinnvoller ist es, wenn man zuverlässig erkennt, ob eine Vorlage angenommen oder abgelehnt wird, oder ob die Entscheidung offen ist.

Claude Longchamp

Nochmals: Ist arithmetische oder politische Konkordanz das Richtige?

Politologen unterscheiden gerne zwischen politischer und arithmetischer Konkordanz. Erstere setzt darauf, dass Regierungsentscheidungen im Prinzip im Konsensverfahren gesucht werden, was ohne Kompromissbildung nicht möglich ist. Letztere bevorzugt die Zusammensetzung der Regierung nach einem klar festgelegten Schlüssel. Es gibt jedoch keinen Konsens darüber, sich nur auf eines der beiden Kriterien zu stützen, wenn man gute Politik will. Eine nochmalige Auslegeordnung.

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Nach Phasen der Konstanz ist Bewegung in die Zusammensetzung des Bundesrates gekommen – Zeit, auch als Politikwissenschafter nach neuen Kriterien der Sitzverteilung Ausschau zu halten

Daniel Bochsler, bienenfleissiger Analytiker der Konkordanz auf Kantonsebene, kam in einem 2006 publizierten Aufsatz zum Schluss, dass sich die meisten Kantone an der arithmetischen Konkordanz ausrichten, ohne ganz streng danach zu handeln.

Das hat zunächst mit der Volkswahl der Regierungen zu tun, aber auch mit der Vielfalt der kantonalen Parteien und der geringen Zahl der Regierungssitze. Im Einzelfall kommen deshalb erhebliche Abweichungen vor, wie die Kantone Aargau, St. Gallen oder Luzern im Stichjahr 2004 zeigten. Rasch wachsende Oppositionsparteien, die in der Regierungsratswahl fallieren, aber auch Allianzbildung an einem politischen Pol zur Ausschliessung gewisser Parteien, die nicht auf konsensualer Basis politisieren wollen, sind die Ursachen dafür. Immerhin, die Beispiele sind nicht die Regel, eher die Ausnahme. Kantone wie Wallis, Waadt, Thurgau, Tessin, Neuenburg und Zug funktionieren recht klar nach dem Prinzip der numerisch bestimmten Regierungsbildung.

Aufgrund klassischer theoretischer Annahmen zur Konkordanz bevorzugt Bochsler die arithmetische Konkordanz. Die Repräsentation politischer Minderheiten in den Regierung verhindere, dass sie oppositionelle Politik betreiben würden, ist sein Argument. Das ist in der Schweiz nicht ohne, denn die Möglichkeiten, die das Referendum bieten, zwingen zu konsensförderndem Verhalten, um Referenden zu vermeiden, und damit die Chance von Blockierungen zu verringern.

Neue Analysen des Funktionierens von Regierungssysteme lassen aber auch gegenteilige Argumente zu. Demnach sind Blockierungen von Regierungen umso wahrscheinlicher, je mehr Vetogruppen in die Regierung eingebunden sind, denn sie erschweren die Konsensbildung, vielleicht sogar die Mehrheitsbeschaffung. Bei breiten Allianzen ist es so gar möglich, dass sich verschiedene Vetogruppen aus unterschiedlichsten Gründen zur Blockierungsmehrheit vereinigen. Das kann nicht das Ziel von Regierungen sein.

Das ist denn auch der zentrale Einwand gegen Allparteienregierungen, welche das Repräsentationsprinzip aus der Parlamentswahl auf die Regierungswahl direkt übertragen. Sie maximieren die Integration politischer Minderheiten jeder Grösse in der Exekutive ohne zu fragen, ob das Ganze ein effektive Regierung abgibt. Denn gleichzeitig minimieren sie das Erfordernis der Entscheidungsfähigkeit in einer Grosszahl von politischen Fragen.

In der Tat konnte Bochsler bisher nicht zeigen, dass es eine nachweisliche Kausalkette von der arithmetischen Konkordanz zur politischen gibt, und beides zusammen bessere Entscheidung bewirkt. Entsprechend haben die Politikwissenschafter die rein arithmetischen Regeln der Regierungsbestimmung eher kühl aufgenommen. Andreas Ladner neigt am klarsten dazu; Iwan Rickenbacher lässt sie indessen kaum gelten. Pascal Sciarini bevorzugt zwischenzeitlich die Modell der kleinen Konkordanz, die auch Mitte/Rechts- oder Mitte/Links-Allianzen zulässt. Und Michael Hermann hängt der Volkswahl des Bundesrates an. Ich selber kann da nur beifügen: Wählerstärken und Sitzverteilungen sind sicherlich ein wesentliches Kriterium der Bestimmung Regierungsfähigkeit von Parteien. Die einzige Vorgabe sind sie weder in Konkordanz- noch in Allianz-Regierungen.

Denn nichts ist bewiesen, dass der Rechenschieber alleine zu einer guten Politik führt.

Claude Longchamp

Die NetzwerkerInnen

Werden, wie bisher, zwei ZürcherInnen im Bundesrat sitzen? Werden es, neu, zwei BernerInnen sein? Oder werden, was Weltrekord wäre, gar fünf Frauen in der siebenköpfigen Bundesregierung das Sagen haben? – Das sind die Kriterien vieler Alltagsdiskussionen, wenn man die Chancen der vier FavortInnen unter den BundesratskandidatInnen auslotet. Doch, so frage ich, welche Rolle spielen Netzwerke bei einer PolitikerInnen-Wahl?

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Ich bin ein Befürworter vom Transparenz im Beziehungsgeflecht unserer PolitikerInnen. Nichts ist meiner Meinung nach anrüchig, wenn man in einem Verwaltungsrat sitzt, einer Interessengruppe angehört oder eine Stiftung präsidiert. Doch sind das alles Gruppen, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, auf sie Einfluss nehmen, weil sie Gewinner oder Verliererinnen sein können. Deshalb gehört die Verbindung der PolitikerInnen in diese Akteure offen gelegt.

Der Beobachter hat sich in verdienstvoller Weise die Netzwerke der BundesratskandidatInnen von SP und FDP ausgelotet. Basis bildete das “Register über die Interessenbindungen” der Bundesversammlung. Kontrolliert wurde es durch das “Zentrale Firmenregister”, dem offiziellen Handelsregister.

Zunächst fällt auf, dass RegierungsrätInnen wie Karin Keller-Sutter keine direkten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verbindungen (mehr) haben. Sie haben nur öffentliche Mandate, die mit den anderen Regierungsmitglieder abgesprochen sind. Bei der St. Galler Justizdirektorin sind das etwa der Regionalvorstand der SRG, aber auch die Stiftung für internationale Studien an der HSG.

Ganz anders ist das Profil der Interessenbindungen von eidgenössischen ParlamentarierInnen. Das markiert denn auch einen wesentlichen Unterschied der nominierten FDP-Frau zum FDP-Mann. Johannes Schneider-Ammann ist zu allerst Unternehmer an der Spitze der Ammann-Gruppe in Langenthal. Darüber hinaus sitzt er auch in wichtigen Verwaltungsräten, wie jenem der Swatch Group. Er ist in zahlreichen Wirtschaftsverbänden auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene Prädisent oder im Vorstand. Zudem wirkt er in einigen wirtschafts- oder gesellschaftsnahen Stiftungen mit, die Streikversicherungen unterhalten oder den Orientierungslauf fördern mit.

In der Struktur ähnlich, der Ausrichtung aber gegensätzlich sind, erwartungsgemäss, die Interessenbindungen der SP-KandidatInnen. Jacqueline Fehr präsidiert soziale Institutionen wie die AG für Suchtpolitik, die Stiftung Kinderschutz, und sie ist in führender Stellung bei der Pro Familia, der Pflegekinderaktion und der Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt. Das ist bei der Berner Ständerätin Simonetta Sommaruga ähnlich, wenn auch etwas offener in der Ausrichtung. Bekannt geworden ist sie als Konsumentenschützerin, deren wichtigste Stiftung sie heute noch präsidiert. Darüber hinaus ist sie im Stiftungsrat von Slow Food, Swissaid und dem Berner Bärenpark. Wirtschaftlicher ausgerichtet sind ihre Mitgliedschaften in der Energieallianz und im Verwaltungsrat einer AG.

Wer gewählt wird, wird aus diesen Aemtern ausscheiden, die persönlichen Verbindungen aber mitnehmen. Wer nun glaubt, dass die PolitikerInnen nur noch Hampelmänner- und frauen im Spinnennetz der Lobbies seien und diese die Macht bei Wahlen ausüben, dürfte Netzwerke überschätzen. Diese sind in Themenfragen zweifelsohne von Belang; doch unterliegen sie gerade auch da der medialen Kontrolle. Bei Wahlen sind sie ein Elemente, das meinungsbildend wirkt, wohl aber nicht letztentscheidend ist. Das zeigt sich unter anderem auch daran, dass Ruedi Noser schon bei der Nomination in der FDP-Fraktion scheiterte, obwohl er von allen im “Beobachter” Beobachteten das ausgebauteste Netzwerk hat und dieses auch am professionellsten unterhält.

Denn Politik ist und bleibt bestimmt durch Oeffentlichkeit und den Leistungen bei Entscheidungen, die man darin anerkannter Massen erbringt resp. erbracht hat. Netzwerke sind dabei nach meiner Erfahrung gelegentlich eine hilfreiche, manchmal auch hinderliche Grösse. Deshalb sollte man sie weder unter- noch überschätzen.

Claude Longchamp