Neuerliches Angebot zu “Public Affairs” in der Schweiz

Nach den guten Erfahrungen mit dem ersten Kurs, schreibt die Zürcher Hochschule für Wirtschaft (HWZ) zum zweiten Mal einen Kurs zu “Public Affairs Management” aus, der zu einem Certificate of Advanced Studies (CAS) führt.

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“Blick auf die Realitäten” – symbolisch für die Aufgabe, die sich die HWZ Zürich, auch auf dem Gebiet der Public Affairs stellt

Der neuerliche Kurs richtet sich an Führungsverantwortliche aus dem Bereich Corporate Communications, an SpezialistInnen des Issues Managements, der Politikberatung, des Campaignings und des Lobbyings und an Kaderleute mit politischen Funktionen. Er ist aber auch für VetreterInnen von Regierungen, Behörden, Parteien, Gemeinden, NGOs, PolitikerInnen und JournalistInnen offen. Aufgenommen werden nur Personen mit einem Universitäts- oder Fachabschluss resp. mit drei Jahren Berufserfahrungen in der Kommunikation, die ein Aufnahmegespräch erfolgreich bestehen.

Der Kurs besteht aus vier Modulen:

. Grundlagen des Public Affairs Managements
. Spezielle Public Affairs Managementaspekte
. International Affairs
. Politikfeld-Analysen I + II.

Der Kurs wurde von Ronny Kaufmann, PA-Verantwortlicher der schweizerischen Post konzipiert; es unterrichten insgesamt 24 weitere ExpertInnen des Fachs, unter anderen auch der Blogschreiber.

Trainiert weden

. analytische Kompetenzen
. Managementkompetenzen
. Selbst- und Sozialkompetenzen
. Strategisches Denken und
. politisches know-how.

Der Kurs umfasst 21 Tage und dauert vom 29. August 2008 bis zum 19. Dezember 2008. Kursort ist Zürich. Vom 23.-25. Oktober 2008 findet eine Studienreise nach Brüssel statt.

Detaillierte Auskünfte erteilt der Studienleiter Ronny Kaufmann (ronny.kaufmann@fh-hwz.ch).

Unterlagen zum Kurs ausdrucken

“Public Affairs” – ein Begriff ist im Kommen

(zoon politicon) “Public Affairs” ist als Begriff schwer im Kommen. Als 1998 das damalige Standartwerk “Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft” erschien, beschäftigte man sich noch kaum damit. Heute vergeht kein Tag, ohne dass ich mich mit irgend einem Aspekt der Public Affairs konfrontiert sehe.

Symbol der werdenden europäischen Oeffentlichkeit: das European Center of Public Affairs in Brüssel (ECPA)
Das Symbol der werdenen europäischen Oeffentlichkeit: das European Center for Public Affairs (ECPA) in Brüssel

Die enge Definition: Oeffentlichkeitsarbeit von Profit-Organisationen
Folgt man Peter Köppl, der an der Universität Wien als Lehrbeauftragter für Oeffentlichkeitsarbeit ist und Partner in einer renommierten PA-Agentur wirkt, hat in seinem Buch “Power Lobbying” Public Affairs, kurz “PA”, eine eindeutige Aufgabe:

Es ist die Beeinflussung von Regierungen und öffentlicher Meinung, soweit sie als Vertreter der Gesellschaft in oder gegenüber der Politik ein Klima erzeugen, das die Ziele eines Unternehmens tangiert.

PA wächst nach Köppl aus dem politischen Lobbying, dem Versuch der direkten Beeinflussung von politischen Entscheidungen heraus, und kann als indirekte Beeinflussung der Entscheidung durch Oeffentlichkeitsarbeit verstanden werden. PA ist also eine Erweiterung des Lobbying, das sich in PA einerseits und Government Relations (GR) auflöst.

Bezogen auf Firmen ist PA für die Interpretation des Unternehmensumfeldes nach Innen, aber auch für dessen Steuerung nach Aussen zuständig, die professionell nach den Prinzipien des betriebswirtschaftlichen und marktingmässigen Managements betrieben wird.

PA ist damit ein Teil der Unternehmensführung selber. Anders als das Lobbying, das personen-, allenfalls institutionenzentriert ist, sich an politischen Abläufen orientiert, ist PA auf die Oeffentliche Meinung gerichtet, gelegentlich gezielt, meist aber umfassend ausgerichtet, und funktioniert interaktiver: Das Ziel ist gegeben, der Weg hierzu ist jedoch vielfältig und definiert sich aus den Arenen, inden denen gesellschaftliche oder politische Diskussion stattfinden, die für das Unternehmen relevant werden können.

Die weite Definition: Politikmanagement von nichtstaatlichen Organisationen
Ueberblickt man die gegenwärtige Literatur zu Public Affairs ist das Begriffsverständnis von Peter Köppl jedoch nur eines der gängigen im deutschsprachigen Raum. Zu den Eigenheiten der Definitionen zählt nämlich, dass sie PA auf eine Tätigkeit von Firmen beschränkt. Das scheint mir für die Praxis zu eng zu sein; Tätigkeiten, die zur PA zählen finden sich nämlich auch in ganzen anderen Organisationen, namentlich in zahlreichen Non-Profit-Organisationen: Verbände gehören dazu, die firmenübergeordnete Interessen organisieren, aber auch solche, die nicht aus der Privatwirtschaft selber abgeleitet werden können. So zeigen heute Spitäler, Universitäten und Verwaltungen sehr wohl Trendenzen, die in Richtung PA verweisen.

Marco Althaus, Politologe, vormals SPD-naher Wahlkämpfer, dann in der Oeffentlichkeitsarbeit Niedersachsens resp. eines Interessenverbandes tätig, heute Akademischer Direktor des Deutschen Instituts für Public Affairs in Berlin, gibt denn auch in dem von ihm mitherausgegebenen “Handlexikon Public Affairs” eine allgemeinere Umschreibung von PA.

Den Anstoss sieht er in Veränderungen politische Kampagnen, der sich nun auf alle Formen der Oeffentlichkeitsarbeit auszuwirken beginnt. In der Definition von Althaus ist PA heute das strategische Management von Entscheidungsprozessen an der Schnittstelle zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. PA organisiert die externen Beziehungen von Organisationen, vor allem jene zu Regierungen, Parlamenten und Behörden. Das gilt für alle Ebenen der politischen Entscheidfindung. So verstandene PA ist über dem klassischen Lobbying. Es ist die direkte Interessenvertretung, aber auch auch die Beeinflussung der Oeffentlichen Meinung.

Althaus erhebt den Begriff des Politikmanagements zum Definitionskriterium von PA schlechthin. Da PA ohne Politikmanagement nicht funktioniert, muss es in der Grundlegung berücksichtigt werden. Organisation und Kommunikation sind die beiden, gleich starken Säulen der PA in der Demokratie, hält er im wegweisenden Artikel innerhalb seines Handbuches fest.

Die Verortung für die Schweiz
Damit trifft er ein Verständnis von PA, das auch in der Schweiz zunehmen Verbreitung findet. So streicht auch Fredy Müller, der derzeitige Präsident der Schweizerischen PR Gesellschaft, den Mangel des Politikmanagements im politischen System der Schweiz heraus und macht genau das zu einer zentralen Aufgabe aller Organisationen, die mitter Public Affairs effektiv auf politische Entscheidungen direkt oder indirekt Einfluss nehmen wollen.

Claude Longchamp

Links:
Meine Einführung in die PA an der HWZ
Die Ausführungen von Fredy Müller zum Politikmanagement in der Schweiz

PS:
Der oben zitierte Oesterreicher Peter Köppl ist nicht zu verwechseln mit dem Schweizer Peter Köppel, ebenfalls Kommunikationsfachmann, der unter anderem PA-Mandate für die Wissenschaft wahrnimmt.

Modelle der Politikberatung in Theorie und Praxis

Er gilt als der Klassiker zur Bestimmung der Politikberatung, denn er ist schon 45 Jahre alt. Und er wird unverändert zitiert. Verfasst wurde er von keinem Praktiker, auch nicht von einem Politikwissenschafter oder einer Politikwissenschafterin. Vielmehr hat der deutsche Philosoph Jürgen Habermas den wesentlichen Schritt getan, als 1963 in einer Abhandlung das dezisionistische, das pragmatische und das technokratische Modell der Politikberatung durch Wisssenschaft vorschlug.

Jürgen Habermas empfahl 1963 ein pragmatisches Verhältnis von Wissenschaft und Politik, die beidseits aktiv einander zugehen sollten. Trotz mannigfacher Kritik wird sein Ansatz bis heute immer noch diskutiert
Jürgen Habermas, deutscher Philosoph, empfahl 1963 ein pragmatisches Verhältnis von Wissenschaft und Politik, die beidseits aktiv einander zugehen sollten. Trotz mannigfacher Kritik wird sein Vorschlag bis heute immer noch diskutiert.

Die drei Modelle nach Habermas
In allen drei Modellen werden Politik und Wissenschaft getrennt konzipiert, denn sie folgen einer unterschiedlichen Logik: Die Politik muss mehrheitsfähige Entscheidungen produzieren, damit diese (zeitlich und örtlich) befristete Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Die Suche nach Wahrheit ist, gemäss dem Philosophen, die Aufgabe der Wissenschaft. Sie muss minimal feststellen können, was richtig und was falsch ist. Dabei muss sie sich möglichst langfristig und interkulturell ausrichten.

Wenn Politik und Wissenschaft zusammenkommen, dann kann das zunächst auf zwei Arten geschehen; sowohl den Dezisionismus wie auch die Technokratie beide lehnt Habermas jedoch letztlich ab; vielmehr spricht er sich für eine dritte Form, den Pragmatismus, aus.

Dezisionismus: Im ersten Modell ist die Wissenschaft nur Zuträger politischer Entscheidungen. Sie macht die Ergebnisse ihrer Forschung bekannt. Sie überlässt ihre Verwendung aber der Politik selber. Diese kann sie ignorieren oder auf sie eingehen. Sie macht das aber aufgrund des Nutzens, den sie sich verspricht. In die politischen Entscheidungen dringt die Wissenschaft so kaum vor. Die Ziel der Politik bleiben damit politisch. Die Wissenschaft schlägt jedoch die Mittel der Zielerreichung aufgrund rationaler Kriterien vor, und sie bewertet diese Instrument nach ihrem Einsatz.

Technokratie: Im zweiten Modell wird das Verhältnis von Politik und Wissenschaft umgekehrt. Die Wissenschaft ist es hier, die Ziele bestimmt, Mittel benennt und beides in fertiger Form der Politik zur Entscheidung vorlegt. Diese wird so zum Vollzugsorgan der wissenschaftlichen Intelligenz. Der Staat wird nicht mehr im eigentlichen Sinne politisch gelenkt, sondern wissenschaftlich. Die Verwaltung verhält sich so wie die Wissenschaft. Sie folgt den Kriterien der Rationalität von Massnahmen, die werden aufgrund rationaler Kriterien vorgeschlagen, geplant und evaluiert.

Beide Modell sind hier idealtypisch wiedergegeben. Bei Verhältnisse kommen in der Realität wohl mehr oder minder vor. Höchst wahrscheinlich ist das erste vorherrschend; jedoch sicher nicht allgemeingültig. Beide Modelle kennen nach Habermas jedoch Probleme: Im ersten wird Wissenschaft auf eine passive, legitimierende Rolle verkürzt, und im zweiten müssen alle auftretenden Probleme durch eine aktive und entscheidende Wissenschaft eine Lösung kennen.

Pragmatismus: Im pragmatischen Modell wird versucht, die Schwäche der beiden initialen Modelle durch Austauschprozesse zwischen Politik und Wissenschaft zu verhindern. Jetzt werden beide Seiten aktiv: Es werden PolitikerInnen durch WissenschafterInnen beraten; und es nehmen WissenschafterInnen von der Politik vergebene Aufträge wahr. Ideologische Lösungen sollen hinsichtlich ihrer Eignung rational überprüft werden, und wissenschaftliche Lösungen müssen hinsichtlich ihrer Eignung in der Praxis von der Politik diskutiert werden. Das Ideal ist hier die politische Diskussion, die auf wissenschaftlichem Niveau geführt wird, zu vernünftigen Entscheidungen in der Sache und der Mittelwahl führt, und so am meisten zur Problemlösung beiträgt.

Habermas präferierte 1963 das pragmatische Modell und forderte die Erweiterung der wisssenschaftlichen Theoriebildung durch eine wissenschftliche Praxis.

Die Modelle in der Kritik
Die Erfahrungen, die seither gemacht wurden, sind reichhaltig. Sie haben die abstrakten Modelle allesamt konkretisiert. Und sie haben zu einer Kritik an ihnen geführt im Einzelnen und in generellen Punkten geführt. Einige davon seien hier erwähnt:

. Erstens, bei weitem nicht jedes Modell ist in jeder Situation resp. in jedem Politikbereich gleich gut anwendbar; von daher ist keine Reduktion auf ein Modell zu erwarten, wie das suggeriert worden ist.
. Zweitens, die Politik selber steuert die Chancen der aktiven Politikberatung durch die Finanzierung von Forschung resp. von Forschungsgebieten. Eine unabhängige Wissenschaftsentwicklung gibt es nicht.
. Drittens, die Wissenschaft ist in vielen Bereichen nicht einheitlich: Sie gibt vorläufige Antworten auf vorläufige Fragen. Dabei lassen sich mainstream-artige Aussagen und vorherrschende Lehren unterschieden, die aber selten ganz unbestritten sind; das kann auch nichtsachliche, sondern personelle Ursachen haben.
. Viertens, die Vermittlung von Politik und Wissenschaft ist nicht frei von sachlichen Interessen und RessourcenZwängen: Die rein universitäre Politikberatung ist nicht zuletzt deshalb durch eine nicht-universitäre Politikberatung erweitert worden, die ihrerseits auf beratungsgeeignete politische Instanzen stossen.
. Fünftens, Politik und Wissenschaft stehen sich in der Realität viel weniger als getrennte Systeme gegenüber; vielmehr kennen sie personell, netzwerk-artig und aufgrund gemeinsamer (nationaler) Interessen zahlreiche Ueberschneidungen, die eine unabhängige Entwicklung einschränken.

Die wohl stärkste Kritik am Modell betrifft jedoch nicht die Praxis, die seit den Arbeiten von Habermas anders als erwartet entstanden ist, sondern das zugrunde gelegte Politikverständnis. In Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen sind heute vor allem Interessengruppen und ihre Lobbies aktiv. Zudem unterliegen diese Prozesse in hohem Masse der Medialisierung. Oeffentlichkeit definiert sich nicht mehr als Politik per se, sondern als Verbund von Interessen, die auf die Politik einwirken, und Kommunikation, die zwischen den Teilsystemen vermittelt. Wissenschaft ist dabei ein solches Teilsystem, das diesen Entwicklungen unterliegt wie alle anderen Teilsysteme auch.

In der Politikwissenschaft wird zwar häufig gefordert, sich an neuen Modellen auszurichten, die realitätsnaher wären. Eine überzeugende Antwort, die Forschung und Lehre befruchtet hätte, ist bis jetzt aber nicht in Sicht. So bleibt der Klassiker von Habermas nicht nur Ausgangspunkt, sondern unverändert vorherrschenden Denkmodell.

Claude Longchamp

Quellenangabe:
Jürgern Habermas (1963): “Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung”, z.B. in: ders.: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Ffm 2003

Weiterführende Literatur:
Uwe Jens, Hajo Romahn: Der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik, 2002
Dagger, Steffen et.al. (Hg.) (2004): Politikberatung in Deutschland, Praxis und Perspektiven, VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Dagger, Steffen; Kambeck, Michael (Hg.) (2007): Politikberatung und Lobbying in Brüssel, VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

Thesen zu “Volkswille und Sachverstand” in der Schweiz

Die Schweizer Monatshefte beschäftigten sich anfangs 2007 unter dem Titel “Volkswille und Sachverstand” mit der Politikberatung in der Schweiz. Vorangegangen war eine Tagung des Vereins für Zivilgesellschaft, einem Netzwerk von Tito Tettamanti, das PolitikerInnen wie ExpertInnen vereinigt. Der Chefredaktor der “Monatshefte” fasste die Diskussion in 12 Thesen zusammen, und 10 prominente Vertraute, Handelnde und Experten (in) der “Expertokratie” der Schweiz verfassten ihren Standpunkt in eiNEm Essay zusammen.

Schweizer Monatsheft, dem Liberalismus verpflichtet, erörtern in einem Themenheft die Politikberatung in der Schweiz
Die Schweizer Monatshefte, dem Liberalismus verpflichtet, erörtern in einem Themenhaft die Politikberatung in dier Schweiz.

Ich gebe hier die Thesen der 10 Beiträge als Diskussionspapier wieder.

(1) Tito Tettamanti: Sollen Fachleute uns regieren?

Die anspruchsvollen Aufgaben einer modernen staatlichen Infrastrukturpolitik sind ohne fundiertes Fachwissen nicht mehr zu lösen. Die Verantwortung für politische Grundentscheide und Weichenstellungen darf aber in einer Demokratie trotzdem nicht an Experten delegiert werden.

(2) Bernd Schips: Sachkompetenz versus Konsenssuche

Politikberatung zielt häufig an der Realität der politischen Entscheidungsprozesse vorbei. Wissenschaftliche Analysen und Lösungsvorschläge schlagen sich nicht direkt in konkreten politischen Massnahmen nieder. Sie können aber durchaus die Politik mittel- bis längerfristig nachhaltig beeinflussen. So sollten Experten vorausdenken und nicht politische Kampagnen begleiten.

(3) Carlo Schmid: Direktdemokratie schützt vor Expertokratie

Das politische System der Schweiz ist weniger anfällig für expertokratische Unterwanderung als ein rein parlamentarisches System, bei dem nur eine politische Elite überzeugt werden muss. Das Volk entscheidet nach Werthaltungen und Ordnungsvorstellungen, die sich nicht mit dem Sachverstand von Experten decken müssen.

(4) Katja Gentinetta: Expertisen und Gegenexpertisen

«Expertokratie» ist ein Begriff mit abwertendem Unterton. Kritisiert wird etwa die Selbstreferentialität der Expertenberichte. Dagegen schützt eine Öffentlichkeit, die Gegenexpertisen einfordert und verschiedene Standpunkte kritisch zur Kenntnis nimmt.

(5) Meinhard Miegel: Wer führt in der Demokratie?

Dem Souverän fehlt es an Führungs- und Kontrollkompetenz, dem Bürger an Fachkenntnis und dem Politiker an Mut zu unpopulären Entscheidungen. Gute Politik braucht mehr Sachkompetenz.

(6) Klaus M. Meyer-Abich: Warum wir nicht tun, was wir wissen

Auch Demokratien erliegen der Versuchung, politische Entscheidungen wissenschaftlichen Experten zu überlassen. Diese Anfälligkeit hat viel mit den Beschwer-lichkeiten des politischen Entscheidungsprozesses zu tun, aber auch mit den Eitelkeiten der Wissenschaft.

(7) Roland Vaubel: Realistische Politikberatung

Der Politiker hat keine Zeit und oft wenig Sachkenntnis, der Bürokrat andere Interessen, der Bürger versteht die Argumente nicht. Der Politikberater agiert in einem Markt, in dem eine Nachfrage nach neuen Ideen oft gar nicht definiert ist.

(8) Martin Lendi: Thinktanks, Institutionen politischer Innovation

Die Ansprüche an Thinktanks können nicht hoch genug sein. Wenn sie die kritische Distanz behalten und Übersicht in den Sachfragen mit politischer Weitsicht verbinden, dann sind sie eine notwendige Ergänzung zu einer Politik, die von taktischem Denken im Rahmen der Wahlperioden bestimmt wird.

(9) Charles B. Blankart: Tote haben keine Lobby

In der Schweiz herrscht Organmangel, weil dem Organspender keine Rechte zukommen und dem Staat die alleinige Verfügungskompetenz über die Organe zugesprochen wird. Der Skandal beim neuen Transplantationsgesetz liegt in der passiven Haltung der politischen Verantwortungsträger, die sich der Bundesbürokratie anschlossen, statt auf unabhängige Experten zu hören.

(10) Thomas B. Cueni: Patente, Schutz ohne Ausgrenzung

Der Schutz des geistigen Eigentums ist ein liberaler Imperativ. Die biotechnologischen Erfindungen stellen die nationalen Patentschutzgesetze vor neue Herausforderungen. So nährt sich der Revisionsprozess des schweizerischen Patentrechts von emotionalen Konflikten, aber auch von Kompromissen.

Man merkt es schnell beim Lesen: Die vertretenen Standpunkte sind breit gestreut. Sie reflektieren nicht selten die Interessen der AutorInnen. Die Zusammenstellung versteht sich denn auch nicht als Aufarbeitung des Ist-Standes, sondern als perspektivische Standpunkte in einer laufenden Diskussion.

Claude Longchamp

Die einzige ausgearbeitete aktuelle Studie zur Politikberatung in der Schweiz stammt von Martin Lendi., der oben schon erwähnt wurde. Sie ist nicht unbestritten, lässt sie eigentlich nur die wissenschaftliche Politikberatung zu.

Weiterführende Literatur vor allem aus Deutschland gibt es hier. Da kann man sich auch zur Politikberatung durch nicht Uni-Beschäftigte vertiefen.

Mont Pélerin Society

(zoon politicon) Think Tanks und parteiliche Stiftungen sind nicht die einzige Form der modernen Wissensproduktion für die Praxis. Auch Gesellschaften sind für die internationalen Koordination der Wissensdiffusion von Belang, die als Netzwerke Einfluss auf Wissenschaft, Politik und Massenmedien nehmen. Anders als Denkfabriken haben Zusammenschlüsse dieser Art jedoch keine festen Angestellten, und sie legen auch nicht institutionelle gebundene Publikationen vor. Vielmehr treten sie als gesellschaftlich organisierte Personenverbindungen auf.

Aussicht auf den Genfer See vom Mont Pélerin oberhalb von Monteux (Schweiz)

Die Mont Pèlerin Society ist Netzwerk dieses Typs. Gemäss Sunday Times ist die Mont Pèlerin Society „the most influential, but little-known think tank of the second half of the 20th century”.

Entstanden ist die Gesellschaft 1947 auf Initiative des liberalen österreichischen Oekonomen Friedrich August von Hayek. Er regte nach dem Zweiten Weltkrieg an, Ideen der “Walter Lippmann Gesellschaft” aus der Zwischenkriegszeit wiederaufzunehmen. Hierzu lud er 36 Intellektuellen, vor allem Wirtschaftswissenschafter, aber auch Philosophen, Soziologen und Historiker, auf dem Mont Pélerin bei Vevey (Schweiz) ein. William Rappart, Schweizer Diplomat und Wirtschaftshistoriker an der Genfer Universität leitete Vermittlerdienste. Ursprünglich sollte die Vereinigung Acton-Tocqueville Society heissen, doch erhoben sich unter den Mitgliedern Bedenken gegen römisch-katholische Herkunft der beiden Aristokraten.

Zu den Zielen zählen seither die Verteidigung von Freiheit und Rechtsstaat sowie der Förderung von Privateigentum und Wettbewerb. Marktwirtschaft und offene Gesellschaft sieht sie als die besten Prinzipien gegen marxistische und keynesianistische Tendenzen in Politik und Wirtschaft. Vielmehr will die Gesellschaft eine intellektuelle und kulturelle Revolution fördern “… between like-minded scholars in the hope of strengthening the principles and practice of a free society and to study the workings, virtues, and defects of market-oriented economic systems.”

Bis heute wurden 8 dieser Mitglieder der Gesellschaft (Friedrich August Hayek, Milton Friedman, George Stigler, Maurice Allais, Gary Becker, James M. Buchanan, Ronald Coase und Vernon L. Smith) mit einem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichent. Bekannte Politiker unter den Mitgliedern waren resp. sind Ludwig Erhard, Otto von Habsburg und Vaclav Klaus. Zudem zählt die Gesellschaft auch Wirtschaftsführer zu ihren Mitgliedern.

Heute zählt die Gesellschaft mehr als 500 Mitglieder, die nicht mehr nur aus Europa und Nordamerika kommen, sondern sich auf die ganze westllich beeinflusste Welt verteilen. In der Schweiz bestehen Beziehungen zum Liberalen Institut Schweiz in Zürich.

Netzwerk der Mont Pélerin Society und der Atles Economic Research Foundation im deutschsprachigen Raum
Quelle: edemokratie.ch

Seit 1949 trifft sich die Gesellschaft einmal jährlich an einem anderen Ort; 2008 verhandelt die Gesellschaft in Tokio den Zusammenhang von Technologien und Freiheit. Derzeitiger Präsident ist der australische Mathematiker Greg Lindsay. Wichtigster Sponor ist die Atlas Economic Research Foundation.

Claude Longchamp

Literatur:
(affirmativ) Ronald M. Hartwell: A History of the Mont Pelerin Society. Liberty Fund Inc, 1995
(kritisch) Bernhard Walpen: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society. VSA-Verlag, Hamburg 2004

Denkfabriken in Europa, Deutschland und der Schweiz

(zoon politicon) Denkfabriken sind eine typische Weiterentwicklung der Wissensproduktion, die im 20. Jahrhundert, ausgehend von den USA, entstanden sind. Die Brookings Institution, nach dem 1. Weltkrieg gegründet, ist das eigentliche Vorbild. Nach dem 2. Weltkrieg kam vor allem die Rand Corporation hinzu.

Wie in der Wissensgesellschaft generell, wir das Wissen mit Denkfabriken zum Entscheidungsfaktor in der PolitikWie in der Wissensgesellschaft generell, wir das Wissen mit Denkfabriken zum Entscheidungsfaktor in der PolitikWie in der Wissensgesellschaft generell, wir das Wissen mit Denkfabriken zum Entscheidungsfaktor in der Politik

Wer sich einen Ueberlick raschen verschaffen will, wie sich dieser Trend in Europa entwickelt hat, welche Institutionen entstanden sind, und was diese Organisationen über das Internet verbreiten, kann die vorteilhaft über den Think Tank Alert Blog tun. Hier wird regelmässig über aktuelle Nachrichten aus der Think Tank Szene berichtet. Es gibt Personalia, Innovationen und Debatten. Das Schwergewicht liegt auf den Denkfabriken in Deutschland, doch konzentriert sich der Blog nicht alleine darauf.

Hier findet sich eine systematische Auflistung der Denkfabriken in Europa, die auf dem Netz sind.

Hier sind die deutschen Denkfabriken, sortiert nach Themengebieten und Ausrichtungen, aufgelistet.

Ein direkt vergleichbares Register zur Schweiz gibt es leider nicht; immerhin werden die liberal ausgerichteten Denkfrabriken der Schweiz hier zusammengefasst:

All diesen Institutionen gemeinsam ist, dass sie politische und wirtschaftliche Konzepte oder Strategien entwickeln und entsprechende öffentliche Debatten fördern, wie das in der wissenschaftlichen Politikberatung üblich ist. Je nach Ausrichtung verstehen sich die Denkfabriken darüber hinaus als eigentliche Advoaken ihres Wissens, die gezielt daran arbeiten,

Claude Longchamp

A Global and European Ranking of the Political Science Departments

(zoon politicon) 2004 erschien von Simon Hix das erste umfassende Ranking der 200 erfolgreichsten Departemente für Politikwissenschaften auf der ganzen Welt. Gemessen wurde das anhand von Publikationen in 63 führenden Zeitschriften des Faches. Berücksichtigt wurden die fünf Jahrgänge 1998-2002.
Die Auswahl Zeitschriften – amerika-orientiert – beeinflusst ohne Zweifel das Ergebnis; und es kann kritisiert werden. Doch ist die ganze Politikwissenschaft der Nachkriegszeit US-ausgerichtet, sodass man in der Auswahl letztlich auch ein Abbild der Realität sehen kann.

Eine der verbreiteten, weltweit führenden politikwissenschaftlichen Zeitschriften, bei welche eine Publikation zur Reputation von Autor und Departement beiträgt

Führende Departement sind demnach weltweit an den folgenden Universitäten und Hochschulen zu finden:

1. Columbia (USA)
2. Harvard (USA)
3. Stanford (USA)
4. Ohio State (USA)
5. European University Institute Florenz (Italy)
6. San Diego (USA)
7. Irvine (USA)
8. Indiana (USA)
9. Princeton (USA)
10. Yale (USA)

Die Zeitschriften, die am meisten in die Bewertung einflossen, sind:

. American Political Science Review
. American Journal of Political Science
. International Organization
. Foreign Affairs
. Journal of Politics

Berücksichtigt man nur die besten politikwissenschaftlichen Institute nach europäischen Ländern, entsteht folgende Reihenfolge:

1. European University Institute Florenz (Italy, weltweit Nr. 5)
2. London School of Economics and Politics (GB, 15)
3. Trinity College Dublin (Ireland, 40)
4. Geneva (Switzerland, 43)
5. Oslo (Norway, 52)
6. Leiden (The Netherlands, 55)
7. Mannheim (Germany, 74)
8. Aarhus (Denmark, 78)
9. Helsinki (Finland, 123)
10. Uppsala (Sweden, 148)

Die höchst rangierten Zeitschriften in Europa sind:

. Journal of European Public Policy
. British Journal of Political Science
. Europe-Asia Studies
. European Union Politics
. West European Politics

Die erste deutschsprachige Zeitschrift ist die deutsche “Politische Vierteljahresschrift”

Die “Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft” wurde gar nicht berücksichtigt. Bern, mein Wohnort, liegt unter den Departmenten an 157. Stelle! Wenn die meist kleinen schweizerischen Institute insgesamt gut ranigiert, hat das einen Grund: Der Index, der hier besprochen wurde, vergleicht die Publikationsintensität mit der Grösse der Departemente.

Claude Longchamp

Lernprozesse von BürgerInnen-Initiativen

(zoon politicon) BürgerInnen-Initiativen entstehen in aller Regel aus direkter Betroffenheit. Sie fordern in politischen Entscheidungen, die sie betreffen, Rechte ein. Zu ihrem Programm gehört es deshalb normalerweise, mehr Partizipation zu verlangen. Denn sie wollen an den Entscheidungen, die sie angehen, teilhaben.

Der häufigsten Stärke von BürgerInnen-Initiativen, der Engagementbereitschaft, stehen typische Schwächen gegenüber. Der Mangel an professioneller Handlungsfähigkeit gehört dazu.

Rose als Inspiration in einer Dialogrunde einer BürgerInnen-Initiative

Die Politische Soziologie, die sich als Demokratiewissenschaft versteht, beschäftigt sich unter anderem mit genau solchen Voraussetzungen. Zu ihren Erkenntnissen zählt, dass erfolgreiche BürgerInnen-Initiativen vier Phasen durchlaufen; namentlich sind dies:

Erste Phase: Reflexion
Mit dem Bewusstwerden von Problemen, ihren Ursachen und ihren möglichen Lösungen beginnt meist alles. Die reflexive Phase besteht darin, die eigene Situation zu beschreiben, und sie einer ersten Analyse zu unterziehen. Zur Reflexion zählt auch, nach guten und schlechten Beispielen zu suchen, wie andere mit dem gleichen Problem umgegangen sind. Und ganz sicher kann man die Fähigkeit, eigene kreative Ideen zu entwickeln, wie man selber handeln könnte, zu dieser Phase. Möglichkeiten und Grenzen der Initiative kennen zu lernen, Chancen und Riskien des Handelns abzuschätzen, beschliesst den Einstieg in die Entwicklung.

Zweite Phase: Rollenbildung
Die Betroffenheit, die am Anfang steht, führt das gerne dazu, dass alle alles machen wollen. Das mag bei spontanen Aktionen richtig sein. Um die gezielte Handlungsfähigkeit zu erhöhen, empfielt es sich allerdings, spezifische Rollen auszuscheiden. Jede(r) macht das, was er oder sie am besten kann, und was im Verbund den Herausforderungen der BürgerInnen-Initiative dient. Zu den typischen Rollen, die man hierzu zählen kann, gehört die interne und externe Kommunikation in einer BürgerInnen-Initiative. Aber auch die Beziehungspflege zu Austauschpartnern bei verbündeten Inititiven, zu politischen Parteien und zu Interessengruppen, die einen unterstützen könnten,gehört dazu. Meist muss man sich auch über Rollen Gedanken machen, die einem (finanzielle) Mittel erschliessen helfen.

Dritte Phase: Aktionsplanung
Aktion, die gezielten Erfolg bringen sollen, müssen geplant werden, um folgende Frage zu beantworten: Was ist das Ziel? Was sind die Mittel? Wer trägt die Verantwortung? Wer ist wofür zuständig? Was ist der Zeitplan? Welche Mittel stehen einem zur Verfügung? Damit verlässt man in einer BürgerInnen-Initiative die Phasen, in der der eigene Mikrokosmos im Vordergrund stand. Jetzt geht es darum, sich den Makrokosmus zu erschliessen: Die Aktion ist an das Umfeld gerichtet: den Staat, die Behörden, die Oeffentlichkeit. Dabei soll die Planung der Aktion verhindern, dass die Initiative versagt, erfolglos bleibt.

Vierte Phase: Organisation
Vor allem wer längerfristig aktiv bleiben will, muss sich eine dauerhaft tragfähige Organisation geben. Mit ihr wird die individuelle Betroffenheit definitiv in ein Kollektiv überführt, das Bestand hat. Vor allem dort, wo BürgerInnen-Nähe ein zentrales Thema der Initiative war und bleibt, gilt es, Formen zu finden, die Konstanz versprechen, ohne neue Hierarchien des Wissens, der Erfahrung und damit des Zugangs zu Entscheidungen aufzubauen. Denn genau solche Ausschlüssen sind und waren es, die am Anfang von BürgerInnen-Initiative stehen. Partizipation in der eigenen Organisation ist also das Ziel der vierten Phasen.

Auf den ersten Blick mag das alles recht banal tönen. Theoretisch trifft das wohl auch zu. Doch das Schema entstand aus der Praxis. Denn es will verhindern, dass man bei der ersten Phasen, der Identitätsfindung stehen bleibt, bei der man mit seiner Betroffenheit selber das Thema ist. Diese Phase schaffen BürgerInnen-Initiative von alleine. Aber sie dürfen dabei nicht stehen bleiben. Doch spätestens bei der zweiten Phase setzen die Widerstände ein. Und genau deshalb sind Lernprozesse in BürgerInnen-Initiativen, wie sie skizziert wurden, wichtig.

Claude Longchamp

Beispielhafte Vertiefungsliteratur:
Leo Kissler: Politische Soziologie. Einführung in die Demokratiewissenschaft, UTB, Stuttgart 2007

Demokratisierung als politischer Lernprozess

(zoon politicon) Ich war letzte Woche als Beobachter bei der Initiative für direkte Demokratie im Südtirol. Die dortige Bürgerbewegung strebt an, 2009 über eine Volksabstimmunngen die Möglichkeiten der lokalen direkten Demokratie im Lande Südtirol nachhaltig zu verbessern. Sie hat festgestellt, dass verschiedene Vorstösse zur Demokratisierung in Norditalien, so in Aosta, aber auch in der Südschweiz, so im Tessin, in jüngster Zeit auf begrenzte Unterstützung stiessen: Ein typischer Fall also, bei dem man Expertenwissen zur Demokratisierung von Politik nachfragt, um das eigene, selbstgesteckte Ziel besser erreichen zu können!

Eingang zum Rathaus von Bozen:. Trotz symbolisierter Transparenz besteht ein Bedürfnis nach mehr Partizipation im Land, die sich in der südtiroler Initiative für mehr Demokratie ausdrückt.

Meine Einblicke
Ich habe in den zwei Tagen viele spannende Einblicke in das politische Leben des Südtirols erhalten.

. Zum Beispiel in die eigene Lagebeschreibung: Wirtschaftlich gesehen geht es demnach dem Südtirol so gut wie noch nie. Von einer Mangelgesellschaft ist man innert zweier Generationen zu einer Ueberflussgesellschaft übergegangen. Doch sind die Menschen weder individuell noch kollektiv besonders glücklich geworden. Die italienschsprachige Minderheit fühlt ihre regressive Entwicklung, und die deutschsprachige Mehrheit möchte mehr Autonomie von Italien. Verbreitet ist in einer solche Situation das “Jammern”.

. Zum Beispiel auch in die Situationsanalyse: Politik ist in Italien nicht (mehr) “in”. Es dominiert der Rückzug vom Oeffentlichen ins Private. Die gegenwärtige Regierungskrise hat die Hoffnung mitte/links auf eine Besserung zerstört. Es regieren verbreitet der Konsumimus und der Hedonismus. Politik findet maximal noch bei Wahlen statt. Dann bestimmt man eine Mehrheit, und der übergibt man dann die Verantwortung, alle anstehenden Probleme zu lösen.

Meine Analyse
Doch was sagt man als Politikwissenschafter dazu, wenn es gilt, über die Möglichkeiten der direkten Demokratie nachzudenken?

Zuerst fragt man sich als Politikwissenschafter, was für eine politische Kultur da beschrieben wurde. Die beiden Prioniere auf diesem Forschungsgebiet, die beiden Amerikaner Alond und Verba, haben eine Unterscheidung mit drei Typen vorgeschlagen:

. die parochiale, auf den kleinen, eigenen Raum bezogene Politkultur, die sich nach aussen abgrenzt,
. die Politkultur der Untertanen, die sich auf den Staat bezieht, von diesem aber in erster Linie materielle Leistungen und Sicherheit erwartet ohne selber Eigenständiges dazu zu leisten, und
. die Partiziaptions-Kultur, für die die BürgerInnen selber die politschen Subjekte sind, die sich über Wahlen hinaus einbringen wollen, die aber auch gehört werden müssen.

Angewandt auf obige Lagebeschreibung und Situationsanalyse ist recht klar: Die politische Kultur des Südtirols ist wie in vielen nationalstaatlichen Demokratien eine Mischung. Die eher passive Ausrichtung der Partizipation, die sich weitgehend auf das Wählen beschränkt, ist eine beschränkt partizipatorische Untertanenkultur. Vor allem die komplexe Lage zwischen den Sprachgruppen in Italien führt zu weiteren Mischungen. Namentlich unter den deutschsprachigen Südtirolern gibt es auch parochiale Züge in der beschränkt partizipatorische Untertanenkultur.

Die so typische Delegation der nationalen Politik an Parteien, die sich in Rom um die Regierungsmehrheit streiten, ist Ausdruck der Untertanen-Kultur. Die zentrale Einstellung ist eher passiv, und an den Leistungen der eigenen Parteien bei der Verteilung staatlich produzierter Güter interessiert. Dabei erwartete man sie entweder vom Nationalstaat Italien, oder aber lokaler ausgerichtet vom Land Südtirol.

Von einer eigentlichen BürgerInnen-Kultur, die Voraussetzung für Demokratisierungen aller Art sind, ist man damit im Südtirol noch einiges entfernt. Das ist weiteres nicht überraschend, für ein dauerhaft auf verstärkte Partizipation ausgerichtetes politisches System aber ein Problem. Denn es muss auf Instabilität beruhen, wenn Struktur und Kultur in zentralen Erfordernissen nicht übereinstimmen. Die wichtigste Folgerung daraus ist, dass politische Kultur im Sinne der Partizipationskultur entwickelt werden muss.

Meine Folgerungen
Was empfiehlt die politikwissenschaftliche Kulturforschung in diesem Zusammenhang? Zentral ist hier Ueberlegung, die aus dem engen Zusammenhang von Systemlegitimation und politischer Effektivität folgt. Seymour Marty Lipset ist hier der massgebliche Forscher gewesen, der auf die entsprechenden Zusammenhänge aufmerksam gemacht hat. Seine Hauptaussage: Wenn ein bestehendes oder auch ein neues System der Politik legitim sein soll, dann muss es den BürgerInnen das Gefühl vermitteln, dass das bestehende oder das neue ihnen mehr Möglichkeiten gibt.

Daraus folgte für mich das Nachstehende:

Erstens, was auch immer geschieht, BürgerInnen-Bewegung für direkte Demokratie, wie jene, die ich im Südtirol besuchte, brauchen einen langen Atem. Das Ziel, das sie erreichen wollen, wird sich nicht sofort und umfassend einstellen.
Zweitens, dennoch braucht es schnelle Erfolgserlebnisse. Es braucht Identifikationsmöglichkeiten. Es empfiehlt sich, eine positive Oeffentlichkeit zu schaffen, die aufzeigt, wie oft und und wie breit BürgerInnen-Initiative Themen aus der eigenen Betroffenheit aufnehmen und versuchen, auf der Basis von Selbsthilfe auch ohne politische Entscheidungen zu regeln. Diese guten Vorbilder kann mit professioneller Medienarbeit bekannter machen, sie auch zu Vorbilder werden lassen.
Drittens, dazu bedarf es einer Reihe Verbündeter: die Selbstaktiven in einer Gesellschaft müssen gesammelt und vernetzt werden, die Massenmedien müssen für die andere Sichtweise der Dinge und für die Alternativen in den Lösungsansätzen, die nicht auf Delegation von Politik basieren, gewonnen werden. Und zu den Parteien, möglichst im übergreifenden Sinne, sollen Kontakte soweit aufgebaut werden, dass sie sich als Verbündete oder wenigstens als Interessierte des Demokratisierungsprozesses verstehen.

Sicher, das ist nur eine kleine Auswahl aus den denkbaren Schlussfolgerungen. Aber es sind meine, die ich als praxisorientierter Politikwissenschafter vor Ort und auf der Rückreise gezogen habe. Ich verstehe sie nicht als “must”, aber als Ernst gemeinte Anregungen in einem anstehenden politischen Lernprozess.

Claude Longchamp

935 Mal gelogen – warum nur?

(zoon politicon) Diese Meldung hat sich am Wochenende bei mir festgesetzt: Die US-Regierung hat in den zwei Jahren vor dem Beginn des Irak-Krieg 935 Mal Falsch-Aussagen ins Spiel gebracht, die es ihr erlaubt hat, diesen Krieg zu legitimieren.

Zeitliche Verteilung der Fehlaussagen der amerikanischen Regierung

“Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit”, das kennt man. Doch muss man es noch radikalisieren: “Die Wahrheit wird geopfert, damit es Krieg gibt”. Und das machen nicht nur Propagandisten, nicht nur Spin-Doctoren. Es ist das Geschäft von Regierungen. Das jedenfall ist die Ansicht von Charles Lewis, dem Gründer des Center for Public Integrity, der die Ausserungen von Spitenvertreter der gegenwärtigen amerikanischen Regierung und Administration untersucht hat.

Besonders oft werden Hinweise auf irakischen Massenvernichtungswaffen und Verbindungen der irakischen Regierung zum Terrornetzwerk Al Kaida genannt. US-Präsident George W. Bush und sein damaliger Außenminister Colin Powell waren dabei 260 resp. 254 bewussten Falschaussagen die Spitzenreiter der Riege. Zu den Spitzenpolitikern zählen gemäss Studie auch Vize-Präsident Dick Cheney, die ehemalige nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice sowie Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Bush und sieben seiner Spitzenleute hätten “methodisch” Fehlinformationen in Umlauf gebracht, schreiben die Autoren. Im August 2002, kurz vor der Kongressdebatte über eine Kriegsresolution, und Anfang 2003, als Bush seine Rede an die Nation gehalten und Powell seinen umstrittenen Auftritt im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gehabt habe, sei die Zahl der Fehlinformationen noch einmal “dramatisch” angestiegen, hieß es weiter.

Im Bericht der NZZ hierzu steht, dass sich neuerdings vor allem Oekonomen damit beschäftigen würden, unter welche Bedingungen Politikerlügen möglich und wahrscheinlich seien. Kurz zusammengefasst, argumentiert sie auf der Basis von rational choice: Wenn es keine Sanktionen gäbe, würde auch Politik nur ihren Interessen folgen, und wenn diese Interessen Lügen bedingen, würden sie Lügen, solange der damit angerichtete Schaden für die geringer als der Nutzen sei.

Ich halte mal dagegen: Das ist keine Erklärung des Phänomens, sondern eine Beschreibung des Problems. Politik werden nicht gewählt, um ihre eigenen Interessen zu realisieren, sondern um dem Gemeinwohl zu dienen. Das ist letztlich keine ökonomische, sondern eine moralische Kategorie. Sicher muss stets verhandelt werden, was das Gemeinwohl in einer gegenwärtigen Situation ist. Doch das gibt niemanden den Freipass, jenseits moralischer Grundsätze, die unantastbar sind, seine Interessen durchzusetzen.

Solange wir ein Menschenbild von PolitikerInnen haben, dass sie ohne Sanktionen amoralisch handelnde Individuen sein dürfen, liegen wir falsch. Sanktionen sollen nur einen Ausnahmefall korrigieren, nicht den Normalfall legitimieren. Kehren wir das um, dürften wir PolitikerInnen auch nicht mehr vertrauen. Denn genau das erlaubt es ihnen, nicht so handeln zu können, wie sie es nicht dürfen.

Die Studie