Demokratisierung als politischer Lernprozess

(zoon politicon) Ich war letzte Woche als Beobachter bei der Initiative für direkte Demokratie im Südtirol. Die dortige Bürgerbewegung strebt an, 2009 über eine Volksabstimmunngen die Möglichkeiten der lokalen direkten Demokratie im Lande Südtirol nachhaltig zu verbessern. Sie hat festgestellt, dass verschiedene Vorstösse zur Demokratisierung in Norditalien, so in Aosta, aber auch in der Südschweiz, so im Tessin, in jüngster Zeit auf begrenzte Unterstützung stiessen: Ein typischer Fall also, bei dem man Expertenwissen zur Demokratisierung von Politik nachfragt, um das eigene, selbstgesteckte Ziel besser erreichen zu können!

Eingang zum Rathaus von Bozen:. Trotz symbolisierter Transparenz besteht ein Bedürfnis nach mehr Partizipation im Land, die sich in der südtiroler Initiative für mehr Demokratie ausdrückt.

Meine Einblicke
Ich habe in den zwei Tagen viele spannende Einblicke in das politische Leben des Südtirols erhalten.

. Zum Beispiel in die eigene Lagebeschreibung: Wirtschaftlich gesehen geht es demnach dem Südtirol so gut wie noch nie. Von einer Mangelgesellschaft ist man innert zweier Generationen zu einer Ueberflussgesellschaft übergegangen. Doch sind die Menschen weder individuell noch kollektiv besonders glücklich geworden. Die italienschsprachige Minderheit fühlt ihre regressive Entwicklung, und die deutschsprachige Mehrheit möchte mehr Autonomie von Italien. Verbreitet ist in einer solche Situation das “Jammern”.

. Zum Beispiel auch in die Situationsanalyse: Politik ist in Italien nicht (mehr) “in”. Es dominiert der Rückzug vom Oeffentlichen ins Private. Die gegenwärtige Regierungskrise hat die Hoffnung mitte/links auf eine Besserung zerstört. Es regieren verbreitet der Konsumimus und der Hedonismus. Politik findet maximal noch bei Wahlen statt. Dann bestimmt man eine Mehrheit, und der übergibt man dann die Verantwortung, alle anstehenden Probleme zu lösen.

Meine Analyse
Doch was sagt man als Politikwissenschafter dazu, wenn es gilt, über die Möglichkeiten der direkten Demokratie nachzudenken?

Zuerst fragt man sich als Politikwissenschafter, was für eine politische Kultur da beschrieben wurde. Die beiden Prioniere auf diesem Forschungsgebiet, die beiden Amerikaner Alond und Verba, haben eine Unterscheidung mit drei Typen vorgeschlagen:

. die parochiale, auf den kleinen, eigenen Raum bezogene Politkultur, die sich nach aussen abgrenzt,
. die Politkultur der Untertanen, die sich auf den Staat bezieht, von diesem aber in erster Linie materielle Leistungen und Sicherheit erwartet ohne selber Eigenständiges dazu zu leisten, und
. die Partiziaptions-Kultur, für die die BürgerInnen selber die politschen Subjekte sind, die sich über Wahlen hinaus einbringen wollen, die aber auch gehört werden müssen.

Angewandt auf obige Lagebeschreibung und Situationsanalyse ist recht klar: Die politische Kultur des Südtirols ist wie in vielen nationalstaatlichen Demokratien eine Mischung. Die eher passive Ausrichtung der Partizipation, die sich weitgehend auf das Wählen beschränkt, ist eine beschränkt partizipatorische Untertanenkultur. Vor allem die komplexe Lage zwischen den Sprachgruppen in Italien führt zu weiteren Mischungen. Namentlich unter den deutschsprachigen Südtirolern gibt es auch parochiale Züge in der beschränkt partizipatorische Untertanenkultur.

Die so typische Delegation der nationalen Politik an Parteien, die sich in Rom um die Regierungsmehrheit streiten, ist Ausdruck der Untertanen-Kultur. Die zentrale Einstellung ist eher passiv, und an den Leistungen der eigenen Parteien bei der Verteilung staatlich produzierter Güter interessiert. Dabei erwartete man sie entweder vom Nationalstaat Italien, oder aber lokaler ausgerichtet vom Land Südtirol.

Von einer eigentlichen BürgerInnen-Kultur, die Voraussetzung für Demokratisierungen aller Art sind, ist man damit im Südtirol noch einiges entfernt. Das ist weiteres nicht überraschend, für ein dauerhaft auf verstärkte Partizipation ausgerichtetes politisches System aber ein Problem. Denn es muss auf Instabilität beruhen, wenn Struktur und Kultur in zentralen Erfordernissen nicht übereinstimmen. Die wichtigste Folgerung daraus ist, dass politische Kultur im Sinne der Partizipationskultur entwickelt werden muss.

Meine Folgerungen
Was empfiehlt die politikwissenschaftliche Kulturforschung in diesem Zusammenhang? Zentral ist hier Ueberlegung, die aus dem engen Zusammenhang von Systemlegitimation und politischer Effektivität folgt. Seymour Marty Lipset ist hier der massgebliche Forscher gewesen, der auf die entsprechenden Zusammenhänge aufmerksam gemacht hat. Seine Hauptaussage: Wenn ein bestehendes oder auch ein neues System der Politik legitim sein soll, dann muss es den BürgerInnen das Gefühl vermitteln, dass das bestehende oder das neue ihnen mehr Möglichkeiten gibt.

Daraus folgte für mich das Nachstehende:

Erstens, was auch immer geschieht, BürgerInnen-Bewegung für direkte Demokratie, wie jene, die ich im Südtirol besuchte, brauchen einen langen Atem. Das Ziel, das sie erreichen wollen, wird sich nicht sofort und umfassend einstellen.
Zweitens, dennoch braucht es schnelle Erfolgserlebnisse. Es braucht Identifikationsmöglichkeiten. Es empfiehlt sich, eine positive Oeffentlichkeit zu schaffen, die aufzeigt, wie oft und und wie breit BürgerInnen-Initiative Themen aus der eigenen Betroffenheit aufnehmen und versuchen, auf der Basis von Selbsthilfe auch ohne politische Entscheidungen zu regeln. Diese guten Vorbilder kann mit professioneller Medienarbeit bekannter machen, sie auch zu Vorbilder werden lassen.
Drittens, dazu bedarf es einer Reihe Verbündeter: die Selbstaktiven in einer Gesellschaft müssen gesammelt und vernetzt werden, die Massenmedien müssen für die andere Sichtweise der Dinge und für die Alternativen in den Lösungsansätzen, die nicht auf Delegation von Politik basieren, gewonnen werden. Und zu den Parteien, möglichst im übergreifenden Sinne, sollen Kontakte soweit aufgebaut werden, dass sie sich als Verbündete oder wenigstens als Interessierte des Demokratisierungsprozesses verstehen.

Sicher, das ist nur eine kleine Auswahl aus den denkbaren Schlussfolgerungen. Aber es sind meine, die ich als praxisorientierter Politikwissenschafter vor Ort und auf der Rückreise gezogen habe. Ich verstehe sie nicht als “must”, aber als Ernst gemeinte Anregungen in einem anstehenden politischen Lernprozess.

Claude Longchamp