Modelle der Politikberatung in Theorie und Praxis

Er gilt als der Klassiker zur Bestimmung der Politikberatung, denn er ist schon 45 Jahre alt. Und er wird unverändert zitiert. Verfasst wurde er von keinem Praktiker, auch nicht von einem Politikwissenschafter oder einer Politikwissenschafterin. Vielmehr hat der deutsche Philosoph Jürgen Habermas den wesentlichen Schritt getan, als 1963 in einer Abhandlung das dezisionistische, das pragmatische und das technokratische Modell der Politikberatung durch Wisssenschaft vorschlug.

Jürgen Habermas empfahl 1963 ein pragmatisches Verhältnis von Wissenschaft und Politik, die beidseits aktiv einander zugehen sollten. Trotz mannigfacher Kritik wird sein Ansatz bis heute immer noch diskutiert
Jürgen Habermas, deutscher Philosoph, empfahl 1963 ein pragmatisches Verhältnis von Wissenschaft und Politik, die beidseits aktiv einander zugehen sollten. Trotz mannigfacher Kritik wird sein Vorschlag bis heute immer noch diskutiert.

Die drei Modelle nach Habermas
In allen drei Modellen werden Politik und Wissenschaft getrennt konzipiert, denn sie folgen einer unterschiedlichen Logik: Die Politik muss mehrheitsfähige Entscheidungen produzieren, damit diese (zeitlich und örtlich) befristete Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Die Suche nach Wahrheit ist, gemäss dem Philosophen, die Aufgabe der Wissenschaft. Sie muss minimal feststellen können, was richtig und was falsch ist. Dabei muss sie sich möglichst langfristig und interkulturell ausrichten.

Wenn Politik und Wissenschaft zusammenkommen, dann kann das zunächst auf zwei Arten geschehen; sowohl den Dezisionismus wie auch die Technokratie beide lehnt Habermas jedoch letztlich ab; vielmehr spricht er sich für eine dritte Form, den Pragmatismus, aus.

Dezisionismus: Im ersten Modell ist die Wissenschaft nur Zuträger politischer Entscheidungen. Sie macht die Ergebnisse ihrer Forschung bekannt. Sie überlässt ihre Verwendung aber der Politik selber. Diese kann sie ignorieren oder auf sie eingehen. Sie macht das aber aufgrund des Nutzens, den sie sich verspricht. In die politischen Entscheidungen dringt die Wissenschaft so kaum vor. Die Ziel der Politik bleiben damit politisch. Die Wissenschaft schlägt jedoch die Mittel der Zielerreichung aufgrund rationaler Kriterien vor, und sie bewertet diese Instrument nach ihrem Einsatz.

Technokratie: Im zweiten Modell wird das Verhältnis von Politik und Wissenschaft umgekehrt. Die Wissenschaft ist es hier, die Ziele bestimmt, Mittel benennt und beides in fertiger Form der Politik zur Entscheidung vorlegt. Diese wird so zum Vollzugsorgan der wissenschaftlichen Intelligenz. Der Staat wird nicht mehr im eigentlichen Sinne politisch gelenkt, sondern wissenschaftlich. Die Verwaltung verhält sich so wie die Wissenschaft. Sie folgt den Kriterien der Rationalität von Massnahmen, die werden aufgrund rationaler Kriterien vorgeschlagen, geplant und evaluiert.

Beide Modell sind hier idealtypisch wiedergegeben. Bei Verhältnisse kommen in der Realität wohl mehr oder minder vor. Höchst wahrscheinlich ist das erste vorherrschend; jedoch sicher nicht allgemeingültig. Beide Modelle kennen nach Habermas jedoch Probleme: Im ersten wird Wissenschaft auf eine passive, legitimierende Rolle verkürzt, und im zweiten müssen alle auftretenden Probleme durch eine aktive und entscheidende Wissenschaft eine Lösung kennen.

Pragmatismus: Im pragmatischen Modell wird versucht, die Schwäche der beiden initialen Modelle durch Austauschprozesse zwischen Politik und Wissenschaft zu verhindern. Jetzt werden beide Seiten aktiv: Es werden PolitikerInnen durch WissenschafterInnen beraten; und es nehmen WissenschafterInnen von der Politik vergebene Aufträge wahr. Ideologische Lösungen sollen hinsichtlich ihrer Eignung rational überprüft werden, und wissenschaftliche Lösungen müssen hinsichtlich ihrer Eignung in der Praxis von der Politik diskutiert werden. Das Ideal ist hier die politische Diskussion, die auf wissenschaftlichem Niveau geführt wird, zu vernünftigen Entscheidungen in der Sache und der Mittelwahl führt, und so am meisten zur Problemlösung beiträgt.

Habermas präferierte 1963 das pragmatische Modell und forderte die Erweiterung der wisssenschaftlichen Theoriebildung durch eine wissenschftliche Praxis.

Die Modelle in der Kritik
Die Erfahrungen, die seither gemacht wurden, sind reichhaltig. Sie haben die abstrakten Modelle allesamt konkretisiert. Und sie haben zu einer Kritik an ihnen geführt im Einzelnen und in generellen Punkten geführt. Einige davon seien hier erwähnt:

. Erstens, bei weitem nicht jedes Modell ist in jeder Situation resp. in jedem Politikbereich gleich gut anwendbar; von daher ist keine Reduktion auf ein Modell zu erwarten, wie das suggeriert worden ist.
. Zweitens, die Politik selber steuert die Chancen der aktiven Politikberatung durch die Finanzierung von Forschung resp. von Forschungsgebieten. Eine unabhängige Wissenschaftsentwicklung gibt es nicht.
. Drittens, die Wissenschaft ist in vielen Bereichen nicht einheitlich: Sie gibt vorläufige Antworten auf vorläufige Fragen. Dabei lassen sich mainstream-artige Aussagen und vorherrschende Lehren unterschieden, die aber selten ganz unbestritten sind; das kann auch nichtsachliche, sondern personelle Ursachen haben.
. Viertens, die Vermittlung von Politik und Wissenschaft ist nicht frei von sachlichen Interessen und RessourcenZwängen: Die rein universitäre Politikberatung ist nicht zuletzt deshalb durch eine nicht-universitäre Politikberatung erweitert worden, die ihrerseits auf beratungsgeeignete politische Instanzen stossen.
. Fünftens, Politik und Wissenschaft stehen sich in der Realität viel weniger als getrennte Systeme gegenüber; vielmehr kennen sie personell, netzwerk-artig und aufgrund gemeinsamer (nationaler) Interessen zahlreiche Ueberschneidungen, die eine unabhängige Entwicklung einschränken.

Die wohl stärkste Kritik am Modell betrifft jedoch nicht die Praxis, die seit den Arbeiten von Habermas anders als erwartet entstanden ist, sondern das zugrunde gelegte Politikverständnis. In Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen sind heute vor allem Interessengruppen und ihre Lobbies aktiv. Zudem unterliegen diese Prozesse in hohem Masse der Medialisierung. Oeffentlichkeit definiert sich nicht mehr als Politik per se, sondern als Verbund von Interessen, die auf die Politik einwirken, und Kommunikation, die zwischen den Teilsystemen vermittelt. Wissenschaft ist dabei ein solches Teilsystem, das diesen Entwicklungen unterliegt wie alle anderen Teilsysteme auch.

In der Politikwissenschaft wird zwar häufig gefordert, sich an neuen Modellen auszurichten, die realitätsnaher wären. Eine überzeugende Antwort, die Forschung und Lehre befruchtet hätte, ist bis jetzt aber nicht in Sicht. So bleibt der Klassiker von Habermas nicht nur Ausgangspunkt, sondern unverändert vorherrschenden Denkmodell.

Claude Longchamp

Quellenangabe:
Jürgern Habermas (1963): “Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung”, z.B. in: ders.: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Ffm 2003

Weiterführende Literatur:
Uwe Jens, Hajo Romahn: Der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik, 2002
Dagger, Steffen et.al. (Hg.) (2004): Politikberatung in Deutschland, Praxis und Perspektiven, VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Dagger, Steffen; Kambeck, Michael (Hg.) (2007): Politikberatung und Lobbying in Brüssel, VS-Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden