Eskalations-Monitoring

(zoon politicon) Die Woche war hektisch: Die SVP stelle Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, ein Ultimatium, aus dem Bundesrat zurück- und aus der Partei auszutreten. Das geforderte SVP-Mitglied der Landesregierung gab zurück: Sie bleibe, im Bundesrat und in der Partei, hielt Bundesrätin Widmer kurz und knapp fest. Die SVP widerum liess ihren Zentralvorstand in der Sache entscheiden: 67 Stimmen für das Ultimatum gab es, 5 dagegen und 7 Enthaltungen.

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Ereignisanalyse durch Monitoring – in der Physik schon längst bekannt, zum Beispiel in der Lawinenforschung, in den Sozialwissenschaft erst in den Anfängen, jedoch mit vielversprechenden Anwendungsfeldern


Ereignis, Wende-Ereignis

Das war ohne Zweifel ein Ereignis: eine verdichtete Handlungsabfolge mit einer Konsequenzerwartung. Die Handlungsabfolge ist oben beschrieben. Die Verdichtung ergibt sich aus der Kadenz der Schritte. Und der offen ausgebrochene Zwist begründet die Konsequenzerwartung: Wer setzt sich schliesslich durch? Genau diese Frage ist es auch, die der gegenwärtigen Eskalation jene Aufmerksamkeit bescheret, welche aus dem Ereignis auch ein Wende-Ereignis machen könnte: Jenen Moment, von dem man im Nachhinein wenigstens sagen wird, nichts sei danach mehr gleich gewesen wie vorher.

Story-Fahrplan
Der Sonntagsblick hat heute schon mal das Tableau der Fahrplanes zum Kampf zwischen SVP und EWS erstellt und eine Schätzung zum Ausgang gemacht; mindestens bis zur Delegiertenversammlung vom 5. Juli 2008 scheint die Sache vorgezeichent zu sein. Zuerst bleibt Widmer-Schlumpf hart, und auch die Bündner SVP schliesst sie nicht wie verlangt aus. Das ist das Thema bis Ende Monat. Dann kommt die SVP in Zugzwang: Sie muss die ganze Kantonalpartei wie angekündigt ausschliessen, riskiert eine Rekurs und einen Entscheid der Delegiertenversammlung, der Mehr- aber nicht einheitlich ausfällt. Damit ist klar: Die story dreht sich, und sie wird weiter gedreht. Das verspricht eine fortgesetzte Eskalation mit unsicherem Ausgang.

Arenen, Akteure, Aufpasser
Für Polit- und Kommunikations-BeobachterInnen gibt es nichts Spannenderes als ein solches Live-Experiment zu Machtfragen, politschem Stil und politischer Kultur. Die Massenmedien bilden die zentrale Arena der Auseinandersetzung. Sie können abbilden, aufladen, aufpassen. Auf jeden Fall setzten sie das Geschehen in Szene. Die KontrahentInnen in de Auseinandersetzung, ihre AnhängerInnen und deren Seilschaften sind die Akteure.

Doch wird es nicht bei ihnen bleiben. Bei jedem öffentlich ausgetragenen Konflikt gibt es Trittbrettfahrer, die von der Aufmerksamkeit profitieren wollen, Anheizer, die gerne zuspitzen und Abknaller, die als Parteien oder ähnliches ihren Nutzen aus der SVP-Auseinandersetzung ziehen wollen. Das Volk wiederum ist mindestens ein Teil des Echos, Pro-und-Kontra-DemonstrantInen, vielleicht auch der Schiedsrichter. Auf jeden Fall wird es sich lohnen, die Oeffentliche Meinung und ihre Dynamiken genau zu verfolgen. Das MINK-Schema, das auf diesem Blog schon vorgestellt worden ist, gibt eine erste Orientierungsmöglichkeit.

Lernfeld Blogosphäre
Spannender kann es nicht sein, gerade jetzt eine Kurs zu “Empirische Politikforschung in der Praxis” zu geben. Ein Eskalations-Monitoring wird hier – wie nur selten gehabt – möglich.
Eine Frage interessiert mich ganz besonders: In welchen Masse gelingt es der Blogosphäre, die Meinungsbildung darzustellen und die Entwicklung der Geschichte eigenständig zu vermitteln resp. verständlich zu machen. Es wäre ein Beweis dafür, dass es in diesem Bereich zwischenzeitlich genügend Rollenträger gäbe, die vernetzt eine eigene Oeffentlichkeitsplattform wären.

Claude Longchamp

Regiert Geld den politikwissenschaftlichen Geist?

(zoon politicon) Jüngst habe ich am IDHEAP in Lausanne über politische Kampagnen referiert. Und bin ich dabei auf ein wenig reflektiertes Phänomen gestossen.

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Der Olympische Geist verkommt mehr und mehr zum Geldgeschäft; verkommt jetzt auch der politikwissenschaftliche Geist zu zur unreflektierten Uebernahme von Marktkategorien in die Politikanalyse?

Das Phänomen
Nicht zum ersten Mal ist mir bei diesem oder einem mit ihm verwandten Thema aufgefallen, dass es dabei im studentischen Publikum nicht nur eine offizielle, sondern auch eine inoffizielle Leseweise gibt: Letztere lautet vereinfacht: Geld bestimmt Kampagnen, und Kampagne bestimmen die Politik. Also bestimmt Geld die Politik!

Ich muss da immer gleich nachfragen: Haben nicht die Grünen bei den jüngsten Parlamentswahlen in der Schweiz klar zugelegt, mit der Klimapolitik ein neues Thema gesetzt und den Anspruch angemeldet zu haben, nach den zahlreichen Erfolgen in den Städte, Kantonen und auch im Bund Teil der Regierungsparteien zu werden? Und wares es nicht sie, die – mangels Geld – auf eine nationale Kampagne “im gekauften Raum” verzichtet haben? – Ist nicht die Annahme der Verwahrungsinitiative in der Volksabstimmung gegen den fast einhelligen Willen von Regierung und Parlament – und ohne eigentlichen Abstimmungskampf – ein deutlicher Gegenbeleg dafür, dass man auch ohne Geld politische Mehrheiten für sich gewinnen kann?

Zu den Forschungsergebnissen
Die Wahl- und Abstimmungsforschung weltweit und auch in der Schweiz hat sich des Zusammenhangs angenommen. In den USA lassen sich positive Korrelationen nachweisen zwischen dem finanziellen Mitteleinsatz einerseits, und dem Wahlerfolg andererseits. Doch da hat das System: Die Geldbeschaffung ist eine Teil der Kampagnen. Sie ist ein Teil der vorherrschenden Kultur, auch in der Politik, die sich am rationalen Marktverhalten der Anbieter und Nachfrager ausrichtet. In der Schweiz sind die Belege für die Käuflichkeit von Wahlen und Abstimmungen deutlicher geringer. Unverändert gilt das sibyllinische Bonmont des Berner Politologen Wolf Linder: “Dass Wahlen und Abstimmungen in Schweiz käuflich seien, ist bisher nicht bewiesen worden, – allerdings ist auch das Gegenteil nicht bewiesen worden.”

Zur Analyse
Ich habe eine andere These, für die hidden agenda in der Wissenschaft, wenn es um den Einfluss von Geld in der Politik geht: Die Ansätze der politischen Oekonomie, die ein rationales Verhalten von Akteure annehmen, das sich auf materielle, sprich finanzielle Interessen reduzieren lasse, sind auch in der Politikwissenschaft zu vorherrschenden Deutungsmacht aufgesteigen. Der Vorgang verläuft mittlerweile kritiklos. Dabei übersieht man die Konsequenzen, die sich aus der Uebertragung von Vorstellungen ergeben, die für das Marktverhalten, das durch Angebot und Nachfrage resp. durch Geld als Kommunikationsmittel gesteuert wird, typisch sind.

Sozialphilosophisch inspirierte Theoretiker der europäischen Gegenwart – und zwar Jürgen Habermas bis Niklas Luhmann – haben letztlich immer darauf bestanden, Politik und Wirtschaft, als Teilsysteme wie auch als Lebenswelten, in eigenen Termini zu denken und zu untersuchen. Denn sie folgen unterschiedlichen Logiken, die aus der Geschichte der Demokratie, auch auch aus der Differenzierung von Funktionen hergeleitet werden können.

Mein Wunsch
Das würde dafür sprechen, bewusster mit Analysekategorien umzugehen. Geld ist das unbestrittene Steuerungsmittel der Wirtschaft, Macht jenes der Politik. Das sollte man auch in der Politikwissenschaft noch unreflektiert aufgeben, werde in den sichtbar-offiziellen, wie auch in den versteckt-inoffiziellen Deutungen!

Claude Longchamp

Unterstellte Auswirkungen von Umfragen auf Wahlen und Abstimmung nicht belegt

(zoon politicon) Für PolitikerInnen scheint bisweilen alles schnell klar: Umfragen, vor politischen Entscheidungen veröffentlicht, beeinflussen das Ergebnis. Sie können deshalb gezielt eingesetzt werden, um das Resultat der Entscheidung zu manipulieren.

Es ist Aufgabe der empirischen Sozialwissenschaften, Annahmen zur sozialen Realität, die auf dem common sense basieren, zu überprüfen. Dabei gehen sie wie immer in solchen Situationen nach der Logik der Forschung vor, die von Subjekt unabhängige, eben: intersubjektive gütlige Ergebnisse lieferen sollen.

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Alexander Gallus, Demoskopieforscher, kommt zu einem ernüchternden Schluss für PolitikerInnen, die sich gerne als KritikerInnen aufspielen


Eine nützliche Uebersicht zum Forschungsstand

Eine Zusammenstellung der diesbezüglichen Forschungsresultate hat jüngst Alexander Gallus, Politikwissenschafter und Professor an der Universität Rostok, der sich auf Demoskopiewirkungen spezialisiert hat, geliefert und sie auf der website der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht.

Zunächst unterscheidet Gallus mögliche Beeinflussungsfelder; namentlich sind das die Beteiligung und die Entscheidung selber. Dann sichtet er Hypothesen, die hierzu entwickelt wurden. Speziell erwähnt er bei den Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung:

. Mobilisierungs-Effekte: Demnach förderten Umfragen, speziell bei unsicherem Ausgang, die Beteiligung an der Entscheidung.
. Defätismus-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Mobilisierung der veraussichtlichen Verlierer.
. Lethargie-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Beteiligung der angenommenen Gewinner.
. Bequemlichkeits-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Beteiligung von Unschlüssigen.

Bezogen auf die Auswirkungen auf die Entscheidfindung selber unterscheidet der Autor zwei Effekte:

. Bandwagon-Effekt: Demnach kommt es zu einem Meinungwandel zugunsten des voraussichtlichen Gewinners.
. Underdog-Effekt: Demnach kommt es zu einem Meinungwandel zugunsten des voraussichtlichen Verlierers.

Erstaunliche Bilanz des Forschungsstandes
Die Arbeitshypothesen sind plausibel; sie lassen sich mit den Theorien des rationalen Wählens resp. mit Identifikationstheorien auch begründen. Doch, und das ist nach Ansicht von Gallus massgeblich, hat die Forschung keine stichhaltigen Beweise für für die Trifftigkeit der Hypothesen liefern können. “Handfeste Belege für die Richtigkeit dieser Vermutungen konnten bislang freilich nicht erbracht werden.” Das gelte, so der Autor, sowohl für die Beteiligung wie auch für die Entscheidungen selber.

Mein Schlussfolgerung
Das lässt aufhorchen; – und trifft sich mit meiner Erfahrung im Umgang mit diesere Frage: Höchstwahrscheinlich gilt, dass die Erwartungen, was geschieht, beeinflusst wird. Ob das allerdings die individuellen Entscheidungen beeinflusst, ist mehr als strittig; es ist schlicht nicht belegt.

Der veröffentlichten Demoskopie vor Wahlen und Abstimmungen ein eindeutig erkennbares Mass und eine klar bestimmbare Richtung zu unterstellen, ist unlauter. Wenn PolitikerInnen da mehr rasche Gewissheit entwicklen als die teilweise aufwendige Forschung hierzu, hat dies in erster Linie mit ihren Interessen bei Wahlen und Abstimmungen zu tun, indessen wenig mit rationaler Beweisführung!

Claude Longchamp

Erstanalyse des Fahrplanwechslers

(zoon politicon) Der Dokumentarfilm von Schweizer Fernsehen über die Abwahl von Christoph Blocher als Bundesrat mischte die Geschichte neu auf. Nun meldet sich einer der Wortführer des Fahrplanwechsels direkt zu Wort. Andi Gross, selber Politikwissenschafter, Publizist und Politiker, macht seine Diagnose zum wichtigsten Ereignis der jüngsten Zeitgeschichte in der “Berner Zeitung” deutlich. Ich fasse hier die vier Thesen von Andi Gross zu Ursachen und Folgen der Abwahl zusammen, lasse aber die eher parteipolitisch gefärbte Analyse der Parteien des SP-Nationalrates ganz weg.

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Gemeinsam mit KollegInnen untersuchte Andi Gross Ende August 2007 die Möglichkeit der Abwahl von Christoph Blocher als Bundesrat, und lancierte damit als Nationalrat die Kampagne gegen das Regierungsmitglied. Heute analysiert er als Politikwissenschafter, was wie die Abwahl zustande kam und was bisher daraus wurde.

1. These: Die Erklärungsebenen der Abwahl vob Bundesrat Blocher
Die Abwahl von Bundesrat Blocher hat nach Gross hat drei Erklärungsebenen: erstens, den persönlichen Umgang mit ParlamentarierInnen, der beleidigend und erniedrigend war; zweitens, das Kippen von ParlamentarierInnen, die 2003 Blocher gewählt hatten, um ihn zu zähmen und die SVP zu bändigen, bei den Parlamentswahlen 2007 aber enttäuscht wurden, und drittens, der politische Widerspruch zu Blocher und zur SVP, der Verfassungs- und Völkerrecht zum Gegenstand parteipolitischer Gefechte mit Blocher als Schiedrichter machen wollten.

2. These: Die Motivation von Bundesrätin Widmer-Schlumpf
Ueber seine Rolle bei der Suche nach einer Alternative zu Blocher, schweigt sich Gross jedoch aus. Die Wahlannahme durch Eveline Widmer-Schlumpf sieht er doppelt begründet: Sie habe das höchste der irdischen Güter, die man als PolitikerIn anstreben können, angenommen; Kollege Schmid habe ihr auch klar gemacht, dass der Sitz sonst an die CVP gehe.

3. These: Der selbstverschuldete Trugschluss der SVP
Den Aerger der SVP nach der Abwahl versteht Gross; andere Parteien hätten mit vergleichbaren Situationen auch schon umgehen müssen. Die SVP sei nach den erneut gewonnenen Parlamentswahlen übermütig geworden. Sie sei Opfer ihres eigenen Trugbildes, ihrer eigenen Rhetorik und ihrer unscharfen Analyse geworden. Zudem habe sie auf das Erfolgsrezept von 2003 vertraut: «Blocher oder Opposition».

4. These: Die Herausforderung der republikanischen Mehrheit gegen Blocher
Die republikanische Mehrheit, welche Blocher abgewählt hat, steht nach Auffassung von Gross nun in der Verantwortung. Sie müsse verhindern, dass die SVP zu einer Partei mit einem Wähleranteil von 35 Prozent werde. Sie habe ihre Aufgabe noch nicht begriffen und handle aufgrund innerparteilicher Ueberlegungen nicht koordinert. In zentralen Fragen werde sie das aber tun müssen, selbst wenn sie keine Koalition der Sieger werde; vielmehr sieht Gross kleine Konkordanzen kommen, die angesichts des Referendumsdruckes situativ geschlossen werden und ein fallweises Ausscheren auch weiterhin erlauben.

Mein Kommentar
Andi Gross hat seine Fähigkeit bewiesen, sowohl als Politikwissenschafter zu denken, als auch als Politiker zu handeln. Das gilt, was die Abwahl betrifft, und es gilt auch, was die Herausforderungen angeht.

Dabei vertritt Gross seit Jahren eine Position, die in der Politikwissenschaft nicht unbestritten ist. Es geht um das Verhältnis von politischer Konkordanz und direkte Demokratie, das er, anders als die Mehrheit der hiesigen Politikwissenschafter, stets recht flexibel interpretiert hat. Institutionell hat er gute Argumente auf seiner Seite, gegen die kleinen Konkordanzen, gibt es aber auch erhebliche Einwände.

Richtig ist an der Diagnose von Gross, dass es in der Schweiz keine Tradition gibt, in Mehr- und Minderheiten zu denken. Ohne diese Ueberlegungen wäre aber die Abwahl von Blocher nicht möglich gewesen. Sie hat sich hier, fallweise, personenbezogen und als Negativ-Allianz ergeben. Als Positiv-Allianz, die auch thematisch und strategisch denken würde, existiert sie indessen nicht, und ist das Bewusstsein dafür, eine solche zu schaffen, nur schwach entwickelt.

Claude Longchamp

Das Interview in der vollen Länge

Die sieben Schweizen

(zoon politicon) Mitten im turbulenten Wahlkampf 2007 sind Roger de Weck und Kurt Imhof durch eine historisch inspirierte, auf die Gegenwart zielende Kurzfassung der neuesten Schweizer Gesichte aufgefallen. Hier ihre Thesen, die nicht nur geschichtlich gelesen werden können, sondern auch einiges zur politischen Kultur der Schweiz erzählen in meiner eigenen Zusammenfassung.

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“Wir waren/sind viele”, analysieren die beiden Publizisten Roger de Weck und Kurt Imhof das Selbstbewusstsein der Schweiz in Geschichte und Gegenwart; doch arbeite kaum mehr jemand am “Projekt Schweiz” suggerieren sie in ihrem Beitrag für “Das Magazin” im Wahljahr 2007 (Foto: cal)

1. Die Kuh-Schweiz
Die Kuh-Schweiz hatte ihr Herz in den Voralpen. Sie lebt von der Erinnerung an die vorindustrielle Zeit des Ancien Régimes. Diese Schweiz korrespondiert mit dem Bild, das die intellektuellen Eliten namentlich im 18. Jahrhundert von ihrem Land, ihrer Natur und ihren Menschen entwarfen, bevor es die Schweiz als gemeinsamen Staat gab. 13 Orte waren souverän; sie waren patrizisch, zünftisch oder in Form von Landsgemeinden verfasst. Allesamt hatten sie einen oligarchischen Charakter, der in den minderberechtigten Untertanengebieten kritisiert wurd. Dort fasste die Aufklärung am stärksten Fuss und verabschiedete sich von der Kuh-Schweiz.

2. Die Revolutions-Schweiz
Napoléon Bonaparte war der General der Revolutions-Schweiz. Doch seine Revolution von oben scheitertr an der Kraft des Föderalismus. Diese wiederum hatte angesichts der beginnenden Industrialisierung nur in einem weiter gefassten Bundesstaat eine Zukunft. Die meisten Revolutionen von 1848 misslangen; jene in der Schweiz brachte eine neue fortschrittlich Republik hervor, umgeben von konservativen Monarchien. Die Willensnation Schweiz hatte ihre eigene Verfassung, ihre eigenen Organe: den Bundesrat, die Bundesversammlung mit National- und Ständerat, das Bundesgericht, das Volk und die Kantone. Sie waren nach den Prinzipien der repräsentativen Demokratie aufgebaut, machten aber Konzessionen an die demokratische Bewegung gegen die neuen Bundesbarone: die Einführung der Volksrechte komplettierte die Führung des Staates auf mehreren Ebenen, durch mehrere Treiber und Behörden nach dem Muster der Gewaltentrennung. Die kulturellen Spaltungen des Landes, seit der Reformation dominant, wurden endlich überwunden. Das eröffnete Spielräume für den vorbildlichen Gotthard-Tunnel, die Eisenbahnen, die Hochschulen, das Banken- und Versicherungswesen.

3. Die Bürgerblock-Schweiz
“Belle Epoque oder Klassenkampf?2, das ist die Frage für die Zeit von 1874 bis 1919. Das Bürgertum, bisher regional und konfessionell gespalten, bemühte sich angesichts des Aufstiegs der Arbeiterbewegung um Einheit. Die Geburt der Nation Schweiz, gerade mal 43 Jahre zurückliegend, wurde ins Jahr “1291” zurückdatiert, und sie wurde gebührend gefeiert. Die Linke war gespalten zwischen Internationalismus und Nationalismus, zwischen revolutionärer und bürgerlicher Demokratie. Der Generalstreik am Ende des Ersten Weltkrieges spaltete das Land in Sprachgruppen und soziale Klassen. Angesichts der bolschewistischen Gegenposition zum Kapitalismus musste das Bürgertum nunkonfessionelle und interessenmässig unterschiedliche politische Parteien auf eine Linie bringen; die Linke diente ihr dabei als inneres Feindbild. Doch die Stabilität stellte sich nicht ein; die bürgerliche Demokratie stürzte in ihre tiefste Krise.

4. Die Geistige-Landesverteidigung-Schweiz
Die äussere Bedrohung durch Nationalsozialismus und Faschismus einigte die Schweiz. Die Demokratie wurde im Zweiten Weltkrieg durch ein autokratisches Vollmachtenregime ausser Kraft gesetzt. Wahlen und Volksabstimmungen wurden ausgesetzt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren jetzt Sozialpartner der blühenden Exportwirtschaft. Die Spitzen der Parteien arbeiteten unter der Führung der Armee zusammen. Das Reduit und das Rütli avancierte zum Sinnbild für die Befindlichkeit. In den Voralpen zelebrierte man Neutralität, in den Städten arbeitete die Wirtschaft für den Export. An der Grenze half man Flüchtlingen, die die Politiker am liebsten gar nicht gehabt hätten. Die Rückkehr zur Demokratie nach dem Krieg verlief nicht reibungslos: Der Bundesrat wollte ein repräsentatives System. Das Volk wiederum machte seine Rechts geltend. Zur versöhnung wurde die AHV geboren; die Gleichberechtigung der Geschlechter musste nochmals warten.

5. Die Musterschüler-Lehrmeister-Schweiz
1959 wurde das Konkordanzsystem in Wirtschaft und Politik vollendet. Die Zauberformel wurde geboren. Jetzt wird die politische Macht numerisch, nicht ideologisch geteilt: 4 Parteien, allesamt gezähmt, regieren seither das Land gemeinsam. Das Wirtschaftswunder folgtr auf den Fuss. Die Autobahnen liessen das Land zusammenwachsen. Der Service Public befriedigte die Interessen der Konsumenten. Die Schweiz wurde zum friedfertigen Paradies, und man erzählt es liebend gerne allen auf der Welt. Doch die Idylle bekam Kratzer: Die Intellektuellen beklagten die Denkblockade und das helvetische Malais. Es beschäftigte sie die schwindende Partipation im entideologisiert Land; sie riefen nach den Frauen, die in die Politik miteinabezogen wurden.

6. Die Anti-Schweiz
Die Ueberfremdung ist das Gegenstück zum ökonomischen Aufstieg. Die nationale Rechte machte Ende der 60er Jahre gegen die Wirtschaft mobil. Die studentische 68er Linke erklärte das Private zum Oeffentlichen und rebellierte gegen die Kleinbürgergesellschaft. Dissonanz statt Konkordanz war angesagt. Selbst die FDP, die staatstragende Partei, machte rechtsumkehrt und begründete ihren epochalen Slogan: “Mehr Freiheit, weniger Staat”. Die Anti-Schweizer aller Lager wurden zur neuen Norm: Die Feministinnen sagten PorNo, die Oekologen Nein zu Atomkraftwerke, und die Autoparteiler waren gegen Tempolimiten. Das Volk, vereint im berühmten Nein-Sager, war schliesslich massiv gegen die UNO.

7. Die Weniger-Schweiz
Die vorläufig letzte Wende kam 1989. Der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum und zur EU misslang schon in den Anfängen. Die siegreiche nationalkonservative Bewegung stärkte die SVP. Das geschwächte Zentrum wollte statt des Alleingangs die Oeffnung via Bilateralismus, war dabei aber auf die Unterstützung der aufstrebenden SP und Grünen in den linksliberalen, urbanen Schichten angewiesen. Die wiederum setzten den UNO-Beitritt durch. Damit grifg Bi-Polarisierung der Parteienlandschaft endgültig um sich und blockierte weitere innere Reformen. Die neue Bundesverfassung geriet in Vergessenheit, bevor sie in Kraft gesetzt wurde. Die Wirtschaft wiederum denkt in den Kategorien der globalen Funktionssysteme, die lokale Politik kümmert sie nicht mehr gross um die Politik. Sie will stabile Verhältnisse. Und Geld, als die Swissair abstürzte. Sonst präfereiert sie Steuersenkungen, und verlangt sie Liberalisierungen der Wirtschaft. Doch die Kantone rebellieren, haben Angst, immer mehr Lasten übernehmen zu müssen. Das alles ist widersprüchlich, “Uebervater” Christoph Blocher soll das mit seinem Kommunikationstalent zusammenhalten. Dafür wird er Bundesrat, doch er lässt sich nicht bändigen. A suivre!


Kommentar

Kurz vor den Parlamentswahlen vom 21. Oktober 2007 fassen die beiden Publizisten die Lage der Nation wie folgt zusammen: “Die Verkürzung der Debatte um die Erneuerung der Eidgenossenschaft auf Steuern, Staatsdefizit und Standort verrät ein Desinteresse am Projekt Schweiz. Dahinter steht eine staatspolitische Null-Bock-Haltung, deren Sinnbild das Maskottchen der SVP ist, der kastrierte Geissbock.”

Die Analyse der beiden herausragenden Publizisten der Gegenwart ist geistreich, witzig. Sie ist aber auch massiv verkürzt, und wohl etwas elitär gehalten.

Claude Longchamp

Der Originaltext
Mein Gespräch mit Roger de Weck zum “Projekt Schweiz” in der Sternstunde Philosophie von Schweizer Fernsehen

Kann Bloggen ihrer Karriere als WissenschafterIn schaden?

(zoon politicon) Wenn WissenschafterInnen bloggen, ist das schnell mal suspekt. Wenigstens für jene, die Wissenschaft als reine Veröffentlichung von Artikeln in Fachjournalen verstehen und die Produktion des Wissens auf Bücher in renommierten Fachverlagen reduzieren.

Ich will das gar nicht schlecht machen. Denn auch ich halte mich gerne an gute Lexika, übersichtliche Handbücher, lesenswerte Einführungsliteratur, kritische Buchbesprechungen, von denen ich annehmen darf, dass das Publizierte geprüft ist und sich am Stand der Diskussion ausrichtet.

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Sichere Karriereleitern gibt es nicht. Kommunikation ist eine Möglichkeit, sie besser zu meistern.

Doch stelle ich die Gegenfrage: Gibt es nicht auch wissenschaftliche Seminare, in denen man bewusst übt? War man noch nie in einem Kongress-Workshop, wo gerade die vorläufigen Gedanken am meisten angeregt haben? Und hat man noch nie einen Feuilleton-Artikel von Professoren, Institutsleitern und Wissenschaftspublizisten gelesen, die ganz ohne wissenschaftlichen Apparate daher kamen?

Natürlich, all das hat man doch schon selber erlebt. Denn: “Wissenschaft entsteht nicht mehr im Kopf von Genies”, sagt die unkonventionelle Konstanzer Wissenssoziologin Katharina Knorr-Cetina. Vielmehr wird sie produziert, in Laboratorien, in sozialen Strukturen wie Universitäten, Think Tanks und Massenmedien. Und das alles ist Kommunikation.

Zu den Problemen der Wissenschaftskommunikation zählt, dass sie Schleusen hat wie Zugangsbeschränkungen, die Hierarchien entstehen lassen, wie Fachgrenzen, die Leistungsvergleiche hemmen, und meist mit viel Prestige verbunden wird, was die Innovation der Wissensproduktion nicht unbedingt fördert.

Die Oeffnung der Schleusen in der Wissenschaftskommunikation ist deshalb von allgemeinem Nutzen. Das ist mein genereller Rat an die Wissenschaft und die WissenschafterInnen. Wissenschaftsblogs sind dabei ein Element, denn sie können Werkstätten der Forschung und ihrer Diskussion sein, ohne hohe Hürden der Kommunikation für Fachkreise zu haben.

Mehr noch: Wissenschaftsblog sind auch eine einfache und schnelle Form der Wissensschaftskommunikation. Was sich als richtig erwiesen hat, wird nicht ohne Weiteres als richtig eingesetzt. Denn es muss vermittelt werden. Es muss sich vor allem auf dem Marktplatz der Gegenwartsideen erst einmal durchsetzen. KollegInnen müssen informiert werden; möglichen AnwenderInnen müssen interessiert werden, und PublizistInnen müssen die Möglichkeit bekommen, sich selber ein Bild vom Fortschreiten der Wissensproduktion zu machen.

Wissenschaftsblogs haben denn auch diese Funktion. Sie sind ein Medium der Wissensvermittlung für spezifische Publika. Sie helfen, Wissens zu verbreiten, und sie helfen diese Verbreitung einfach zugänglich zu machen.

Klar: Wer eine Karriere als WissenschafterIn einzig als internen Reputationsprozess versteht, der oder die braucht nicht zu bloggen. Wer indessen an seiner Entwicklung als WissenschafterIn dauerhaft arbeitet, der oder die sollte weder bei der Produktion noch bei der Diffusion seines Wissens und Können auf eine so einfache Form der Kommunikation wie dem Bloggen verzichten!

Notabene genau so wenig wie zum Beispiel auf www.scienceblogs.de, einem inspirierenden Experiment der Wissenschaftskommunikation in der Blogosphäre.

Claude Longchamp

Forschungsvorbilder aus der abendländischen Wissenschaftsgeschichte

(zoon politicon) Das neues GEO kompakt auf Deutsch verspricht viel, denn es porträtiert die 100 grössten Forscher aller Zeiten.

Das Wissenschaftsverständnis
Zwei Einschränkungen muss man gleich zu Beginn machen: Es sind die 100 grössten Natur-ForscherInnen, die hier vorgestellt werden. Und sie stammen alle aus der abendländischen Wissenschaftstradition.

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Titelbild der gegenwärtig GEO kompakt Ausgabe

Doch, und das ist das bleibende an der Uebersicht, es sind alles Vorbilder der Forschung. Es sind Philosophen, Universalgelehrte, Genies und Direktoren von Forschungslaboratorien. Sie haben …

… ein bestehendes Phänomen erstmals in den Begriffen und mit den Theorien der Wissenschaft beschreiben und erklären können oder
… ganz neue Phänomene entdeckt oder
… ein komplexes Phänomen aus einer ganz neuen Perspektive heraus gedeutet oder
… eine neue Fachdisziplin begründet.

Sie haben die Grundlagen gelegt für Wissenschaften, Forschung und Lehre oder die Denk-, Frage- und Forschungstraditionen seit dem 16. Jahrhundert, die in den 2000 Jahren davor entwickelt worden waren, revolutioniert und so die Basis für die moderne Wissenschaft gelegt.

Das färbt seit dem 18. Jahrhundert auch auf die Oekonomie, die Soziologie, die Psychologie und die Politologie ab, hat diese sozialwissenschaftlichen Disziplinen begründet oder befruchtet.

Die Vorbilder
Die Liste, die so für das Publikum von GEO kompakt entstand, kann hier nachgeschlagen werden. Da findet sich auch die online-Möglichkeit, eine persönliche Gewichtung vorzunehmen. Mehr als 5000 BesucherInnen haben bereits davon Gebrauch gemacht und die nachstehenden Top-Ten oder populärsten (Natur)Forscher bestimmt:

Albert Einstein *1879
Physiker: Entwickelt ein neues Verständnis von Raum und Zeit und verändert so wie kein anderer Wissenschaftler das Bild unseres Kosmos.

Galileo Galilei *1564
Astronom: Streitet für das copernicanische Weltbild und vertritt ein neues Prinzip der Erkenntnis – Beobachtung und Experiment.

Charles Darwin *1809
Evolutionsforscher: Erkennt, dass Tier- und Pflanzenarten nicht unveränderlich geschaffen sind, sondern sich durch “natürliche Zuchtwahl” entwickeln.

Isaac Newton *1643
“Physiker Gottes”: Überwindet die aristotelische Trennung von Himmels- und irdischer Physik, schafft so die Grundlagen der klassischen Mechanik.

Max Planck *1858
Begründer der Quantentheorie: Erkennt, dass es in der Welt der Atome zu absonderlichen Sprüngen kommt und legt damit das Fundament für eine gänzlich neue Physik.

Aristoteles *384 v. Chr.
Universaldenker: Entwickelt mit seinen Lehren über den Aufbau der Welt Voraussetzungen für die Entfaltung jeglicher Wissenschaften.

Pythagoras *um 570 v. Chr.
Wirkungsmächtiger Mathematiker: Ihm zufolge ist die Zahl eine die gesamte Natur konstituierende Kraft.

Marie Curie *1867
Physikerin: Erforscht die radioaktive Strahlung und kämpft sich als erste Frau an die Spitze ihrer Profession.

Archimedes *um 287 v. Chr.
Der erste Ingenieur: Entdeckt das Prinzip des Auftriebs, erfindet den Flaschenzug, konstruiert Waffen und löst komplexe mathematische Probleme.

Nicolaus Copernicus *1473
Revolutionär wider Willen: Will die Modelle alter Astronomen verbessern und erkennt, dass die Erde nicht still steht, sondern um die Sonne wandert.

Meine Freu(n)de

Natürlich freut es mich, dass Aristoteles, der griechische Universalwissenschafter, der den Begriff zoon politicon prägte, unverändert zu den SpitzenforscherInnen der abendländischen Wissenschaftsgeschichte gezählt wird. Und selbstverständlich bin ich als Berner stolz, dass Albert Einstein, der seine grundlegenden Arbeiten alle 1905 in Bern verfasste, ganz oben im Forscher-Ranking figuriert!

Claude Longchamp

Von den Schwierigkeiten bei kantonalen Wahlen Erstanalysen zu machen

(zoon politicon) Die kantonalen Wahlen von gestern in St. Gallen und Schwyz wurde mit Spannung erwartet. Erstmals seit den eidgenössischen Wahlen traten wieder Parteiformationen und ihre KandidatInnen an.

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Die SVP und ihr Kandidat in St. Gallen: offensichtliche Wahlsieger des gestrigen Tages, dessen Analyse noch nicht gemacht ist (Quelle: Keystone).

Das Ergebnis ist vordergründig klar: In beiden Kantonsparlamenten von diesem Wochenende ist die SVP die stärkste Kraft. Sie hat in beiden Fällen die CVP überrundet. In beiden Kantonen gilt ab sofort: SVP vor CVP vor FDP vor SP.

Die Praktiker-Methode
Doch nun beginnen die Schwierigkeiten mit Erstanalysen: Was vergleicht man womit, um zu Trendaussagen zu kommen und auch Gewinner und Verlierer zu kennen?

Die Praktiker-Methode greift, wie bei der Bestimmung der Fraktionsstärken, auf Sitze zurück, benennt so, wer zugelegt und wer verloren hat. Wer mit dieser Faustregel arbeitet, geht häufig noch weiter: Die Sitzgewinne einer Partei werden mit den Sitzverlusten einer anderen Partei direkt verrechnet, und schon hat man auch eine WählerInnen-Analyse.


Zweifel an Schnellstschüssen

Es gibt vier gute Gründe, die Gültigkeit dieses Vorgehens zu bezweifeln:

1. Zuerst wäre dieses Verfahren nur dann sinnvoll, wenn die Sitzzahlen und das Wahlsystem identisch bleiben würden. Nur schon das ist durch die Verkleinerungen verschiedener Parlamente schwierig geworden. Zudem sind in jüngster Zeit verschiedentlich Wahlverfahren verändert worden.

2. Sitzzahlen und Parteistärken müssen nicht identisch sein. Sitzzahlen bilden nur jene Stimmen ab, die zu einer Partei geführt haben. Parteistärken lassen sich effektiv nur anhand der abgegebenen Stimmen bestimmen. Publizierte Anteile für Parteien basieren mitunter nur auf den Sitzverteilungen.

3. Gewinne- und Verluste von Parteien sind letztlich die Folge der Mobilisierung des Elektorates. Ohne Angaben zur Wahlbeteiligung kann diese aber nicht bestimmt werden. Denn ohne diese Erweiterung werden Gewinne und Verluste einer Partei, die allein durch Beteiligungsänderungen entstehen, nicht erfasst.

4. Annahmen zur WählerInnen-Wanderung sind mit grösster Vorsitz zu geniessen. Reine Schätzungen aufgrund des common senses können sich irren. Häufig sind kompelexe Wählerwanderungsmodelle adäquater als einfache. Ohne spezifische statistische Analysen geht da gar nichts.

Meine Schlussfolgerung
Ich ziehe daraus eine wichtige Schlussfolgerung: In der Regel bewegt man sich bei Erstanalysen ohne spezifische Daten und Analysen unter dem Anspruchsniveau, das hier formuliert worden ist. Das hat mir dem Zeitdruck der Medien, mit der Information der Statistischen Aemter und mit den Auswertungen der AnalystIn zu tun.

Wünschenswert ist, dass solche Uebungen inskünftig mit AnalystInnen und mit statistischen Aemtern vorbesprochen werden; es sind mit beschränktem Aufwand klare Verbesserungen der Aussagemöglichkeiten machbar.

Ich schreibe das nicht, um Gewinner oder Verlierer der aktuellen Wahl in einanderes Licht zur rücken. Schreibe es aber, damit man über die vorherrschende Praxis der Resultatevermittlung und ihrer Analyse überdenkt!

Claude Longchamp

PS:
Beispiel einer nachträglichen Beschreibung des Wahlergebnisses aufgrund von gesicherten Daten im Kanton Schwyz
Beispiel einer nachträglichen Analyse des Wahlergebnisses aufgrund der Wählerstromanalyse für den Kanton Schwyz

Die Kampftruppen der Freiheit

(zoon politicon) Man erinnert sich: Als der Kalte Krieg zu Ende war, zwangen juristische Untersuchungen über mysteriöse terroristische Aktionen in Italien Premierminister Giulio Andreotti 1990 zu bestätigen, dass die NATO in Italien und anderen europäischen Staten, eine Geheimarmee unterhalte. Koordiniert wurde sie durch den CIA und den MI6. Gerichtet war die Aktion, die in Italien unter dem Decknamen “Gladio” lief, gegen den Kommunismus in Westeuropa.

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Daniele Ganser vom Basler Historischen Institut, der die Geschichte der Nato-Geheimarmeen während des Kalten Krieges aufgearbeitet hat und provokativ die Frage nach der Souveränität der europäischen Staaten zwischen 1945 und 1989 stellt.

Diese Aufdeckung hat den Basler Zeithistoriker und Politikwissenschafter Daniele Ganser beflügelt, ein unübliches Dissertationsprojekt zu starten: Die Geschichte der NATO-Geheimarmeen in Europa sollte für die ganze Nachkriegszeit bis in die Gegenwart aufgearbeitet werden.

Bedenken, die renommierte Professoren wie Georg Kreis wegen des Quellen an die Adresse des Projektes formulierten, überging der Doktorand. Er arbeitet, während drei Jahren und nun unterstützt von Georg Kreis, zugängliches Archivmaterial auf, erhielt weiteres von verschiedener Seite zugestellt und entwickelte dabei die Kunst, immer mehr auch bisher uneditiertes Quellenmaterial zu erschliessen. Damit doktorierte Ganser bei Professor Jussi Hanhimäki an der LSE in Politikwissenschaft. Sein Werk erschien 2005 auf Englisch und avancierte in dieser Sprache zum Bestseller. Zwischenzeitlich ist es in Italienische, Türkische, Slowenische, Russische, Französische und Estnische übersetzt worden. Und seit einigen Tagen liegt auch eine deutsche Fassung vor, die, erweitert um ein Vorwort von Georg Kreis und ein Nachwort von Albert A. Stahel auf dem Buchmarkt erworben werden kann.

Der Doppelcharakter von Geheimarmeen
Daniele Ganser fasst seine Forschungsergebnisse so zusammen: Die NATO-Armeen hätten einen Doppelcharakter gehabt. Zunächst seien sie eine kluge Vorsichtsmassnahme gewesen, die aus den Erfahrugnen des Krieges entstanden, während der Zeit des Friedens vorbereitet worden sei. 19 Nato-Staaten, aber auch vier Neutrale, darunter auch die Schweiz, seien daran beteiligt gewesen. Handumkehrt seien diese NATO-Truppen aber auch eine Quelle des Terrors gewesen. Denn mit dem Ausbleiben der erwarteten Invasionen der Roten Armee in Westeuropa habe sich das Ziel verlagert. Aus Angst, das linke Parteien namentlich in Italien, Frankreich, Belgien, Finnland und Griechenland, die Regierungen übernehmen und so die NATO von Innen her zerstörten könnten, hätten die Geheimdienste der USA und Grossbritannien die Geheimarmee als Instrumente verwendet, um die Demokratien Westeuropa von innen her zu manipulieren und zu kontrollieren. Das habe weder die europäische Bevölkerung noch deren Regierungen wissen dürfen und so einen rechtsfreien Raum geschaffen.

Genau hier greift der Politikwissenschafter Ganser dezidiert ein: Der dokumentierte Sachverhalt stelle die Souveränität der Staaten Westeuropas zwischen 1945 und 1989 in Frage. “Die Manipulation durch Washington und London, deren Umfang für viele in der Europäischen Union auch heute noch schwer zu glauben ist, hat eindeutig gesetzlichen Regeln verletzt.” In einigen Operationen seien linke Politiker nur beobachtet worden. In anderen sei antikommunistische Propaganda betrieben worden, der schliesslich auch vor Blutvergiessen nicht zurückgeschreckt habe. Das sei entstanden, weil man sich mit rechtsextremen Terroristen zusammengetan haben, die zu Terroranschlägen, Folterungen, Staatsstreichen und andere Gewalttaten geführt habe. Das meiste davon, sei im Geheimen unterstützt und erfolgreich vertuscht worden.

Demokratische Kontrolle und staatliche Souveränität
Das ist dicke Post, die man auf dem Büchertisch von Schweizer Buchhandlungen erwerben kann. Dabei kann es schon mal Vorkommen, dass man das Buch zwischen Krimis und James-Bond-Geschichten vorfinden kann. Doch es sind nicht nur Erfindungen und Fiktionen, die da aufgeführt werden. Es handelt sich um eine Stück zeitgeschichtlicher Realität, die man vielleicht vermutet und befürchtet hat, jetzt aber in einer bisher unbekannte Form vorgeführt vorfindet. Deshalb liesst man fast noch aufmerksamer als bei einem Krimi das Buch von A bis Z durch, und staunt von der Aufdeckung der Aktion “Gladio” vor 18 Jahren in Italien über die detaillierten Länderberichte quer durch die europäischen Staaten bis zur Würdigung. Diese nimmt, nach 450 flüssig geschriebenen Seite, die für die Politik zentrale Frage auf: jene nach der demokratischen Kontrolle von Geheimarmeen, die aus inhärenten Gründen zwischen Oeffentlichkeit und Geheimhaltung abwägen muss.

Ganser ist in der Beantwortung dieser Frage unmissverständlich: “Der Exekutive sollte keinen Verschwiegenheit gewährt werden, und sie sollte jederzeit von der Legislative kontrolliert werden”, denn die Gewährung komme einen fundamentalen Versagen der demokratischen Institutionen gleich. Doch der Zeithistoriker hält auch hier nicht inne. Seine Ueberlegung werden bis in die Gegenwart, sprich bis zum 11. September 2001, nachgezeichnet. Und sie führen ihn zu folgendem Schluss: Die Spirale der Frucht, der Manipulation und der Gewalt müsse durchbrochen werden. Der Terorismus können nicht durch Krieg besiegt werden. Denn der Krieg sei kein Teil der Lösung, sondern des Problems. Die Aussteigsstrategie müsse sich auf jeden einzelnen Menschen und sein Bewusstsein konzentrieren. “Der Einzelne kann sich von Furcht und Manipulation befreien, indem er sich ganz bewusst auf die eigenen Gefühle konzentriert, auf seine Gedanken, seine Worte und Handlungen achtet und damit immer friedliche Lösungen anstrebt.”

Das Stauen verarbeiten
Wahrlich, ich habe seit langem keine so provokante und spannende Disseration in Geschichte oder Politikwissenschaft gelesen, die nur schon deshalb berichtenswert ist, selbst wenn man sie noch nicht vertieft verarbeitet hat. Denn die Problematik, dass die Freiheit sich mit nicht freiheitlichen Mittel verteidigt kann weder demokratietheoretisch noch demokratiepraktisch stehen gelassen werden. Das wäre eine Kapitualtion von den Kampftruppen der Freiheit!

Claude Longchamp

Daniele Ganser: Nato-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, Zürich 2005 (Original 2005 auf Englisch erschienen)

“Paradigma”, “turn” oder bloss Mode

Geht man an einen (sozial)wissenschaftlichen Kongress, wähnt man sich normalerweise nicht an einere Mode-Show. Weder die Kleidungen, noch die Frisuren und schon gar nicht die Haltungen der Akteure verleiten einen zu dieser Annahme. Schaut man sich indessen die Beiträge an, die an (sozial)wissenschaftlichen Kongressen präsentiert werden, wird man häufig den Verdacht nicht los, dass da vor allem Modisches vorgestellt wird. Nur versteckt es sich häufig hinter anderen, hochtrabenden Begriffen: turn ist heute besonders in, Paradigma war das mal!

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Immer mehr macht sich das Phänomen der rein modischen Weltdeutungen auch in den Sozialwissenschaften breit. Ich halte mal dagegen!

Paradigmen
Der Philosoph Thomas S. Kuhn hat mit alle dem 1970 angefangen und rasch Furore gemacht. Er untersuchte die Wissenschaftsgeschichte, und er unterstellt, dass sich das wissenschaftliche Wissen diskontinuierlich entwickle, – in Paradigmen eben. Zwar gelang es ihm nie, den Begriff selber verbindlich zu definieren, doch war das Paradigma nach Kuhns Vorstoss auf die philosophische Bühne weit herum bekannt und wurde es vielerorts begeistert aufgenommen.

Paradigma war eigentlich als Beispiel, als Vorbild oder als Muster gedacht. Es umschrieb das, was beobachtet und überprüft wird, die Art der Fragen, welche gestellt und geprüft resp. wie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung vorbildlich interpretiert werden sollten. In den Naturwissenschaften machte das noch einigermassen Sinn: die kopernikanische Wende, die Physik Newtons und Einsteins Denkrevolution markierten das, was Kuhn als Paradigmenwechsel vorgeschwebt hatte.

In den Sozialwissenschaften erwies sich der Begriff schlicht als Uebertreibung. Die Entstehung der Oekonomie, der Soziologie oder Psychologie sind allenfalls ein Paradigmenwechsel, – eine Abkehr von geistes- und sozial- und humanwissenschaftlichen Denk- und Forschungsweisen. Innerhalb dieser Wissensgebiete fand man jedoch kaum Paradigmenwechsel.

turns
Die aufstrebenden Revolutionswissenschaften der 70er Jahre reagierten entsprechend: In den Kulturwissenschaften entdeckte man als Erstes die Sprache als Gegenstand der Forschung, sprach im Gefolge von Richard Rorty vom linguistic turn und meinte damit die Entstehung von neuen Fachgebieten wie Linguistik und Semiotik. In den 90er Jahren wandte man sich dem voll von neuen Hoffnungen dem Bild zu, das im Begriff war, die elektronische Welt zu erobern, ohne dass sich schnell genug auch eine Bildwissenschaft etabliert hätte. Schliesslich kam es zum spatial turn, der Entdeckung des Raumes statt der Zeit als wichtigster kultureller Determinante überhaupt.

Für all das kann man noch einiges Verständnis aufbringen. Immerhin entwickelte sich (vor allem die deutschsprachige) Kulturwissenschaft in den letzten 40 Jahrenn sprunghaft, indem sie ihre Betrachtungsweise stufenweise veränderte, und, würde ich beifügen, sich damit auch erweiterte verbesserte.

Moden
Was sich indessen sonst noch alles auf Klippen, Wenden, Kehren und Sprünge in den(Sozial)Wissenschaften überall kapriziert, ist meist nicht mehr als eine Mode unter WissenschafterInnen. Anstatt neue Fakten zu präsentieren, übersehene Argumente zu liefern oder Kombiationen zu entwickeln, die zu wirklich neuen Theorie führen, erhält man nicht selten nur dünne Vermutungen vorgesetzt, bekommt man Botschaften durchgegeben und unbelegte Hypothesen aufgetischt. Damit man die Dürftigkeit der sog. Innovationen übersieht, überziehen die Vorreiter der neuen Moden ihre Produkte mit einem rhetorischen Zuckerguss, die der vermeintlichen Neuerung höhere Bedeutungen zumessen. Revolutionen mindestens im Denken, wohl auch im Wissen, vielleicht sogar im Können, und wenn’s ganz hoch kommt, selbst auch im Handeln begleiten die meist bloss begrifflichen Verschiebungen für einfache Beobachtungen, Aussagen, Zusammenhänge und Modelle, die längst bekannt sind, nun aber neu verpackt daher kommen.

Mode ist, so ihre eigentliche Definition, die Art Dinge zu tun, zu nutzen und zu schaffen, die für einen bestimmten, meist kurzen Zeitraum und für eine bestimmte, meist unwichtige Gruppe von Menschen typisch ist. Deren einzige Sicherheit darin besteht, durch die nächste Mode abgelöst zu werden.

Bei Kleidung, Frisur und Auftritt finde ich das, selbst an wissenschaftlichen Kongressen, gelegentlich noch amüsant; in der Wissenschaft selber jedoch fehl am Platz!

Claude Longchamp