Wem schadet es, wenn über die AHV21 Reform im Dreierpaket abgestimmt wird, wie der Bundesrat jüngst entschieden hat

Am 25. September entscheidet die Schweiz über vier Vorlagen: Die Massentierhaltungsinitiative, die AHV21 Reform (2 Gegenstände) und die Teilabschaffung der Verrechnunssteuer. Wer zieht daraus Vor- resp. Nachteile?

Spätestens seit dem 13. Juni 2021 gibt es Spekulationen bei der Auswahl von eidg. Vorlagen, über die gleichzeitig abgestimmt wird. Damals kursierte schon am Abend des Abstimmungssonntags das Gerücht, das CO2-Gesetz sei an der unüblich starken Mobilisierung der bäuerlichen Organisation zu den Agrarinitiativen gescheitert. Tobias Keller vom gfs.bern bestätigte das mit der Vox-Analsye: “Die Mobilisierung von «rechts», von Personen, die dem Bundesrat weniger vertrauen, und vom Land hat nicht nur zu einem klaren Nein bei den beiden Agrar-Initiativen, sondern eben auch zu einem Nein beim CO2-Gesetz geführt.”

Ueber die AHV21 Reform alleine oder im Paket entscheiden
Im Vorfeld der Volkabstimmung vom 25. September 2022 lagen dem Bundesrat dem Vernehmen nach zwei Diskussionsvarianten vor: die eine besagte, man solle aufgrund der staatspolitischen Bedeutung über die Reform AHV21 alleine abstimmen. Gemäss der andern sollten alle abstimmungsreifen Vorlagen miteinander zur Entscheidung vorgelegt werden.
Wie wir wissen, entscheid sich der Bundesrat für das Paket. Wem nützt das, wem schadet es?
Man kann die Vor- oder auch Nachteile der gewählten Abstimmungskombination in dreierlei Hinsicht bewerten: Dabei geht es erstens um die Gewichtung der Vorlagen im Abstimmungskampf, zweitens um die Stimmbeteiligung und ihre Auswirkungen und drittens um die Interaktionen der vorlagenspezifischen Kampagnen.

Die Vorlagengewichtung
Wäre über die AHV21 alleine abgestimmt worden, hätte sich die Frage nach der Gewichtung gar nicht gestellt. Die einzige Vorlage wäre im Zentrum des Abstimmungskampfes gestanden.
Das dürfte allerdings auch jetzt der Fall sein: Denn die AHV-Vorlage greift tief in den Alltag der BürgerInnen ein. Sie betrifft eine Baustelle der Schweizer Politik, die sich in den Rankings der BürgerInnen-Sorgen meist unter den Top-3 befindet. Es ist zu erwarten, dass sich auch die mediale Aufmerksamkeit daran orientieren wird. Zudem kann man von einem recht offenen Ausgang ausgehen, was den Fokus der Akteure gleich nochmals zuspitzen wird.
Damit besteht hier kein Anlass, hier eine veränderte Ausgangslage für die AHV-Reform durch die Entscheidung des Bundesrats anzunehmen.

Die Stimmbeteiligung
Es ist bekannt: Die Zahl der Vorlagen beeinflusst die Teilnahmequote. Je höher sie ist, desto höher fällt Stimmbeteiligung aus. Statistisch gesehen kann von einer Differenz von 10 Prozentpunkten ausgehen, wenn über 4 statt 2 Vorlagen abgestimmt wird. Das erhöht die Unsicherheit des Ausgangs. Denn das Stammpublikum bei Abstimmungen ist berechenbarer als die punktuell Teilnehmenden.
Damit nicht genug: Aufgrund der obigen Ausführung geben wir davon aus, dass die Abstimmung zur Verrechnungssteuer im Windschatten der AHV Vorlage segeln wird; sie wird das Beteiligungsprofil im Links/Rechts-Spektrum maximal verstärken, nicht aber verändern. Das ist bei der Massentierhaltungsinitiative nicht zwingend so. Denn hier werden sowohl die grünen InitiantInnen wie auch ihre bäuerlichen WidersacherInnen speziell mobilisieren. Je nachdem wer dabei das mehr Wirkung zeigt, kann das einen Einfluss auf die beiden anderen Vorlagen haben. Vorerst können wir diese Frage aber nicht eindeutig beantworten.
Der Ausgang der AHV Entscheidung ist aus heutiger Sicht im Dreipaket etwas unwägsamer geworden.

Interaktion von Kampagnen
Bei unserem dritten Kriterium fällt die Antwort klarer aus. Namentlich die Kombination von AHV21 Reform und Verrechnungssteuer an einem Abstimmungstag dürfte der linken Opposition helfen und der bürgerlichen Allianz die Sache erschweren. Denn bei der Verrechnungssteuer muss diese glaubhaft machen, dass deren Abschaffung zu keinen finanziellen Ausfällen führt und wenn, dieses verkraftbar seien. Umgekehrt muss sie bei der AHV-Frage aufzeigen, dass die Kosten aus dem Ruder laufen und eine strukturelle Aenderungen sind.
Seit der Analyse der Abstimmung vom 16. Mai 2004, als man ausgerechnet gleichzeitig über die 11. AHV-Revision und das Steuerpaket abstimmte, weiss man, was das bedeutet:. SVP, FDP und CVP befürworteten beides, SP und Grüne lehnten beides ab. Die Ja-Vermittlung im Abstimmungskampf war erschwert, und der stärkere Block scheiterte gleich doppelt. Das Steuerpaket scheiterte mit 66 Prozent Nein-Stimmen, die AHV Revision mit gar 68 Prozent Ablehnung.
Man kann auch so sagen: Sicher ist der dritte der drei Faktoren zur Beurteilung des kommenden Abstimmungspaketes nicht neutral. Er erschwert es den bürgerlichen BefürworterInnen, Mehrheiten zu finden. Das bedeutet noch nicht, dass sie es nicht schaffen können. Es heisst aber, dass die Herausforderung durch Paket-Abstimmung grösser geworden sind.

Warum trotzdem ein Dreierpaket?
Damit bleibt die Frage, warum sich der Bundesrat für dieses Vorgehen entschieden hat. Da er die AHV-Reform und die Teilabschaffung der Verrechnungssteuer befürwortet, sei ihm keine Sabotage unterstellt. Möglich ist es aber, dass er solche Ueberlegungen gar nicht angestellt hat. Denkbar ist es auch, dass er so den November 22 zu einem abstimmungsfreien Blankotermin geschaffen hat.
Das hätte zwei Vorteile: Die Parteien müssten in den kosten- und zeitintensiven 12 Monaten vor den eidg. Wahlen einen Abstimmungssonntag weniger bestreiten. Und der Bundesrat bekäme ein grösseres Fenster, die denkbar gewordene Volksabstimmung für die «Stop F-35» Initiative kommunikativ ungestört vorzubereiten.

Claude Longchamp