AHV21: Generationensolidarität oder spezielles Frauenrentenalter

In vier Monaten, am 25. September 2022, stimmt die Schweiz über vier Vorlagen ab. Zwei davon betreffen die Reform der Altersvorsorge. Hier meine Auslegeordnung.

Die beiden Vorlagen
Kommunikativ könnte man bei der AHV21-Reform von einer Vorlage ausgehen. Effektiv ist es aber ein Paket, das aus zwei formal separaten Abstimmungsgegenständen besteht, die einander inhaltlich bedingen. Scheitert eine Vorlage, scheitert auch das Paket.
Die Zusatzfinanzierung regelt die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0.4 Prozentpunkte. Das braucht eine Verfassungsänderung, weshalb Volk und Stände zwingend darüber entscheiden müssen.
Das revidierte AHV-Gesetz bestimmt die neue Rentenlimite für Frauen. Sie wird schrittweise derjenigen der Männer auf 65 Jahre angehoben. Für die neun ältesten, betroffenen Jahrgänge ist ein Ausgleich vorgesehen. Zudem eröffnet das neue Gesetz eine Flexibilisierung des Rentenalters.
Im Parlament polarisierte die Thematik perfekt. Die bürgerlichen ParlamentarierInnen stimmten alle dafür, die linken dagegen. Im Nationalrat sagten 125 VolksvertreterInnen Ja, 67 Nein. 1 Person enthielt sich der Stimme, 7 warten abwesend.
Bewilligt wurde so eine kleine Reform, die bei Annahme in der Volksabstimmung 2026 erweitert werden soll.
Dagegen haben die Gewerkschaften, unterstützt von SP und Grünen, das Referendum ergriffen. Eingereicht wurden insgesamt 124’337 Unterschriften. Die Überprüfung von 53’791 Signaturen mit Stimmrechtsbescheinigung ergab 53’209 gültige.
Hochgerechnet auf die die Volksabstimmung ergibt die parlamentarische Entscheidung zum AHV Gesetz ein erwartbares Zustimmungspotenzial in der Volksabstimmung von 59 Prozent. Es setzt aber voraus, dass die Geschlossenheit ähnlich wie in allen anderen Referendumsabstimmungen ist.
Diese frühe Einschätzung stimmt im grossen Ganzen mit verschiedenen Trendumfragen überein, die bei der Angleichung des Frauenrentenalters an das der Männer wiederholt Mehrheiten ausgewiesen haben.

Die Referenzabstimmungen
Zweimal sind in jüngerer Zeit grosse Reformen in einer Volksabstimmung gescheitert. 2004 opponierte die Linke gegen den Reformvorschlag der Behörden und gewann. 2017 kam der Widerspruch von rechts, und auch er reichte für eine ablehnende Mehrheit.
Beide Referenzabstimmungen zeigen eine erhebliche Links/Rechts-Polarisierung. Das gilt sowohl für die Parteien wie auch für die Sozialpartner. Doch ist das nur die halbe Wahrheit. Denn die Geschlossenheit der Anhängerschaften ist regelmässig weniger hoch.
Bei den weltanschaulich geprägten Personen sind Werthaltungen zum Staat resp. Sozialstaat entscheidend. Namentlich bei den Ungebundenen geht es um individuelle Kosten/Nutzen-Ueberlegungen. Da sagt man schnell einmal Nein, wenn man individuellen Nachteile hat.
Die nur beschränkte Geschlossenheit der Anhängerschaften resultiert aus drei teils querliegenden Interessenlagen: Je tiefer das Einkommen ist und je jünger die Menschen sind, desto skeptischer sind sie. Das gilt auch für Frauen im Vergleich zu Männern. Nur bei den ganz jungen Menschen gibt es davon eine Abweichung.

Komplexes Politikfeld auch in Zukunft
Die bisherige Auslegeordnung ist unvollständig. Denn im Hintergrund stehen mindestens zwei weitere, gegensätzliche Volksinitiativen zur Entscheidung an.
Da ist zum einen die Volksinitiative der Jungfreisinnigen. Sie verlangt eine Rentenalterserhöhung auf 66 für Mann und Frau, die danach an die Lebenserwartung angepasst werden soll. Und da ist zum anderen jene der Gewerkschaften. Sie fordert eine 13. Monatsrente für alle. Der Bundesrat lehnt beide ab.
Hinzu kommt eine eben angekündigte Volksinitiative, welche die Nationalbankgewinne für die Finanzierung der AHV hinzuziehen will. Die Unterschriftensammlung dazu beginnt aber erst.

Vorboten des Abstimmungskampfes
Die drei bürgerlichen Parteien SVP, FDP und Mitte stellen die Sicherheit der Altersvorsorge ins Zentrum ihrer Kampagnen. Es gelte das wichtigste Sozialwerk angesichts der Alterung der Gesellschaft mittelfristig zu sichern.
Dem widersprechen die Opponenten. Sie kommunizieren, dass die Finanzierungslücke bei der AHV nicht grösser, sondern kleiner werde. Die regelmässig skeptischen Annahmen zu den Abschlüssen hätten sich Jahr für Jahr nicht bewahrheitet.
Ueberblickt man die Pro- und Kontra-Argumentarien, schälen sich weitere Schwerpunkte des Abstimmungskampfes heraus:
Für die Ja-Seite geht es erstens um sichere Renten in der Zukunft, die es mit der Vorlage ohne Kürzungen geben würde. Zweitens gehe es um mehr Selbstbestimmung durch Flexibilisierung des Rentenalters, die breit gewünscht werden. Und dritten brauche es Generationensolidarität, wonach alle etwas hergeben müssten.
Die Nein-Seite sieht die AHV als solide und verlässlich an. Für 92 Prozent der Arbeitnehmenden lohne sie sich. Unter Druck sei aber die Kaufkraft der normalen Menschen. Es sei in einem Land mit rekordhohen Profiten und immensen Nationalbankgewinnen nicht der richtige Weg, die Mehrwertsteuer anzuheben und gleichzeitig AHV-Leistungen zu senken. Man müsse jetzt Nein stimmen, um Morgen ein AHV-Alter 67 zu verhindern.
Absehbar ist auch, dass es zu einer Zuspitzung auf eine Hauptfrage kommen dürfte: Für die Ja-Seite geht es um Generationensolidarität, für die Nein-Seite um das spezielle Frauenrentenalter.

Was zu erwarten ist
Der kommende Abstimmungskampf selber dürfte heftig werden. Beide Seiten dürften vor dem Sommer eine Vorkampagne fahren, um den für sie vorteilhaften Rahmen zu setzen. Der Höhepunkt wird im Spätsommer sein.
Beide Seiten arbeiten mit Umfragen für die interne Planung und externe Kommunikation. Von der Ja-Seite wurde eine Demoscope Erhebung veröffentlicht. Gemäss Zusammenfassung der Sonntagszeitung ergab sie eine hohe Bereitschaft zur prinzipiellen Angleichung des Rentenalters der Frauen an die der Männer. Bei den Stimmabsichten zur aktuellen Vorlage resultierte eine knappere Ja-Mehrheit von 55 Prozent.
Die Forschungsstelle sotomo erstellte für die Nein-Seite eine ausführliche Planungsstudie, die integral veröffentlicht wurde. Demnach wollen aktuelle 45 Prozent zustimmen und 48 Prozent ablehnen. Erheblich sind die Unterschiede namentlich beim Geschlecht. Denn 59 Prozent der Männer, aber nur 31 Prozent der Frauen wollen momentan Ja sagen. Bliebe es dabei, wäre es die höchste Geschlechter-Differenz in der Schweizer Abstimmungsgeschichte.
Weniger klar polarisiert sind die Wählenden. Zwei Drittel der FDP- resp. GLP-Wählenden wollen heute zustimmen. Bei der Mitte ist es gut die Hälfte. An der Basis der SVP herrscht sogar ein Patt. Nein-Mehrheiten gibt es bei den SP- und GPS-Wählenden. Geschlossen sind die Wählerschaften auch hier nicht. Am meisten gegen die aktuelle Reform sind die parteipolitisch Ungebundenen.

Erste Zwischenbilanz
Die Ausgangslage für die Abstimmung halte ich für offen. Beide Seiten haben Stärken, aber auch Schwächen. Entscheiden wird die Dynamik im Abstimmungskampf.
Am 14. Juni, dem Frauenstreiktag, demonstrieren Gewerkschaft und Frauennetzwerke gegen den Abbau der AHV. Umgekehrt hat sich namentlich die Mitte-Partei dem Thema angenommen und unüblich frühzeitig die Mutter-, Frauen- und Jungpartei auf die Ja-Position eingeschworen.
Denkbar sind zwei Szenarien: Unschlüssige werden vor allem von der Ja-Seite angesprochen und die Vorlagen gehen durch. Oder aber es kommt zu einer Verunsicherung der an sich positiv eingestellten Teilnahmewilligen, das AHV Gesetz wird abgelehnt und das Paket scheitert.
Ich halte beides für möglich!

Claude Longchamp

PS:
Morgen dann, wie sich die Kombination der Abstimmungen zur Massentierhaltungsinitiative, zur AHV21 Reform und zur Verrechnungssteuer auf die Mobilisierung und das Abstimmungsergebnis auswirkt.