Wie ich meine frühen Einschätzungen zum Ausgang von Volksabstimmungen mache

Wie schätzt man frühzeitig das Zustimmungspotenzial von Abstimmungsvorlagen ein? Ein kleiner Lehrpfad, entstanden aus meiner Erfahrung. Mit einer Anwendung für die eidg. Abstimmungen vom 25. September 2022

Quantitative Rahmung
Wer wissen möchte, wie die Abstimmungschance einer Vorlage steht, kann – in einem ersten Schritt – auf diese neue Grafik des Zürcher Politologen Nick Glättli zurückgreifen. Sie zeigt, sortiert nach Rechtsformen, wie hoch der Anteil war resp. ist, dass eine Vorlage angenommen wird.


Quelle @nickglaettli

Fast 100 Prozent der direkten Gegenvorschläge, die Behörden zu Volksinitiativen ausarbeiten, werden angenommen. Drei Viertel der Verfassungsänderungen, welche die Behörden vorschlagen und die in Form eines obligatorischen Referendums zur Abstimmung kommen, finden die nötigen Mehrheiten.7 von 10 Vorlagen, die dem fakultativen Referendum unterliegen, werden im Sinne von Parlament und Regierung entscheiden.
Bloss ein Sechstel, der Volksinitiativen werden von Volk und Ständen befürwortet.
Auf die eidg. Abstimmungen vom 25. September angewandt, ergibt dies eine erste brauchbare Einschätzung:
Die Wahrscheinlichkeit für
• ein Nein zur Massentierhaltungsinitiative
• ein Ja zur Mehrwertsteuererhöhung zugunsten der AHV
• ein Ja zum AHV-Gesetz resp.
• ein Ja zum Verrechnungssteuergesetz
ist gegeben.
Doch sei hier auch gewarnt. Das stimmt nur in etwa 4 von 5 Fällen. Ausnahmen sind möglich.
Eine zweiter Schritt ergibt sich, wenn man die Höhe der Zustimmung im Parlament mit einbezieht. Denn es gilt, dass der Ja-Anteil in einer Volksabstimmung in einem recht gut bestimmbaren Verhältnis zum Ja-Anteil in der Schlussabstimmung des Nationalrats steht. Die Zürcher Politologin Michelle Huber hat das formalisiert. Er ist aber meist tiefer. Demnach kann man von rund
• 59 Prozent Nein zur Massentierhaltungsinitiative
• 59 Prozent Ja zu Verrechnungssteuergesetz und
• von je 55 Prozent Ja zu den beiden AHV-Vorlagen ausgehen. Das ist konkreter und zeigt bereits, wo Entscheidungen knapp und damit ihre Vorhersage unsicher sind. Aber auch das ist nur ein allgemeiner Rahmen, noch keine eigentliche Detailanalyse.
Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wartet man zu, bis weitere Prozessinformationen wie etwa der Text im Abstimmungsbüchlein oder die Parteiparolen vorliegen resp. man beobachtet den Abstimmungskampf, die Medienberichterstattung und Werbung, und man wartet weitere Tools wie Umfragen ab.

Qualitative Vergleiche
Oder man orientiert sich an vergangenen vergleichbaren Abstimmungen. Dafür gibt es keine strengen Regeln, man muss die Erfahrung spielen lassen. Brauchbare Kriterien für die Auswahl sind gleiche Rechtsform, vergleichbarer Inhalt gleiches Konfliktmuster und Entscheidung vor möglichst kurzer Zeit.
• Bei der Massentierhaltungsinitiative stelle ich dazu auf die Fair-Food-Initiative ab. Sie kam 2018 zur Abstimmung. Lanciert wurde sie von den Grünen. Verlangt wurde im Wesentlichen, dass schweizerischen Auflagen betreffend Tier- und Umweltschutz auch für importierte Lebensmittel gelten müssten. Im Nationalrat stimmten 139 VolksvertreterInnen dagegen, 37 dafür. Ja-Parolen beschlossen die SP, Grüne, EVP und PdA. In der Volksabstimmung resultierten 61 Prozent Nein.
• Beim Verrechnungssteuergesetz greife ich auf die Abstimmung vom Februar 2022 zur Stempelsteuer zurück. Auch da ging es um eine fiskalische Entlastung meist überdurchschnittlich reicher Bevölkerungsteile. Im Nationalrat waren 120 dafür, 70 dagegen. Nein Parolen gab es bei SP, Grünen, EVP, EDU und PdA. Nein stimmten 62 Prozent.
• Etwas schwieriger ist es, Referenzen zu den beiden AHV-Abstimmungen zu finden. Letztmals von links wie aktuell kam die Opposition 2004. Damals ging es um die 11. AHV-Revision resp. die Mehrwertsteuererhöhung dafür. Die Entscheidungen im Parlament fielen recht knapp aus. Der Nationalrat stimmte mit 130 zu 43 für die Mehrwertsteuererhöhung, und er war mit 109 zu 73 für die 11. AHV-Revision. In der Volksabstimmung wurde diese mit 67 Prozent Nein abgelehnt, jene hatte sogar 68 Prozent Nein. Das ist nicht ideal, aber es gibt nichts besseres. Diese Referenzabstimmungen zeigen auf jeden Fall, wo mit abweichende Fällen gerechnete werden sollte.

Szenarien
Wenn die allgemeinen Einschätzungen aufgrund der Rechtsform und der Schlussabstimmung im Nationalrat mit der Konkretisierung anhand der jüngsten Referenzabstimumung übereinstimmen, kann man eine frühe Prognose machen. Sie ist entsprechend den einhelligen Aussagen aus den bisherigen Abklärungen.
Wenn das nicht Fall ist, rate ich zu Vorsicht. Am besten ist es, man betrachtet den Ausgang vorläufig als offen und sammelt weitere Informationen.
Konkret heisst das, die Massentierhaltungsinitiative dürften mit rund 40 Prozent Zustimmung abgelehnt werden.
Bei den drei anderen Vorlagen, über die die Schweiz am 25. September abstimmt, ist das allerdings nicht der Fall. Letztlich ist der Ausgang hier vorerst offen.
Hauptgrund dafür ist, dass in den Referenzabstimmungen der parlamentarischen Minimalkonsens im Abstimmungskampf regelmässig zerbrach. Urheber war jeweils wie im Parlament die Linke, doch blieb sie im Abstimmungskampf nicht wie im Parlament isoliert. Es kamen ganz Bevölkerungsschichten hinzu, aber auch Bürger:innen mit Systemmisstrauen und parteiungebundenen Personen.
Damit ist auch der Schlüssel bekannt, wie es auch vor dem 25. September zu Elite/Basis-Konflikten kommen kann. Frühe Umfragen zum Rentenalter der Frauen konkretisieren das: Starke widerstände sind von Frauen zu erwarten, überdurchschnittliche auch von den jüngeren Generationen (wenn auch nicht von der jüngsten) und bei tiefem oder mittleren Einkommen. Politisch reicht die Skepsis bis tief in die SVP und Mitte-Partei hinein.

Tabelle: Zusammenstellung der bisherigen Analyse aufgrund der allgemeinen Regeln und der Referenzabstimmungen für die Gegenstände vom 25. 9. 2022

Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Kleine Bilanz
Bei der Massentierhaltung spricht bisher alles für eine Ablehnung der Volksinitiative. Bei den drei anderen Vorlagen, lohnt es sich, von zwei Szenarien auszugehen: Dem Regelfall, der für Annahmen spricht, und den Referenzfall, bei dem eine Ablehnung durchaus möglich ist.
Geschärft mit diesen Informationen kann man nun den Abstimmungskampf beobachten, der vor der Sommerpause in seine Vorphase tritt, danach in die Hauptphase.