Das politische System der Schweiz – neu dokumentiert und analysiert

589 Seiten sind ein langes Stück. Noch stärker ist allerdings das inhaltliche Stück Einsicht, das darin steckt. Denn Adrian Vatter legt mit dem UTB-Buch “Das politische System der Schweiz” ein neuartiges Werk vor, das sich rasch als Standard durchsetzen dürfte.

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Adrian Vatter, Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern, Autor des neuen Buches “Das politische System der Schweiz”

Drei Gründe nennt der Berner Politikwissenschafter, weshalb man sich mit dem hiesigen Politsystem beschäftigen solle: den Mikrokosmos in Europa, der früh den Integrationsprozess zum Bundesstaat schaffte, die politische Willensnation auf multikultureller Grundlage, die durch Machtteilung befriedet wurde, und das moderne direktdemokratische Labor, das Vorreiterin für zeitgemässe Formen der unmittelbaren Bürgermitsprache ist.

Was der Professor für Schweizer Politik dann auftischt, ist nicht eine Institutionenkunde, wie man sie vom Staatsrechtshandbuch hinlänglich kennt. Nein, es ist eine genuin politikwissenschaftliche Analyse des hiesigen Demokratiemusters. Hierfür folgt der Autor, mit Modifikationen, dem weltweit führenden Theoretiker Arend Lijphard, der vor gut 10 Jahren zwischen Mehrheits- und Konsensdemokratien zu unterscheiden begann und damit die bisherige Polarität von parlamentarischer und präsidentieller Demokratie ablöste.

Aus dieser Überlegung heraus entstehen im Buch Vatters 10 Kapitel – vom Wahlsystem, über Parteien und Verbände, Regierung und Parlament, der Gleichheit von Volk und Ständen, der direkten Demokratie, der Verfassung, dem Föderalismus bis hin zum Justizsystem. Jedes dieser Buchteile ist, wie es sich für Übersichtsbuch gehört, systematisch aufgebaut, beginnend mit einer historisch fundierten Herleitung, darauf aufbauend die Präsentation der politikwissenschaftlichen Forschungsergebnisse bis hin zum internationalen Vergleich der Schweiz. Eine Zusammenfassung des gegenwärtigen Diskussionsstandes mit Entwicklungslinien schliesst ein jedes Kapitel ab.

Das Ganze endet in einer fulminanten Synthese, mit der Vatter seine These von der “durchschnittlich gewordenen Konsensdemokratie” begründet. Anders als im 19. Jahrhundert ist die Schweiz heute keine liberale Mehrheitsdemokratie mehr, denn diese liess sich nicht auf Dauer stabilisieren. Doch ist die Schweiz, anders als in der Mitte des 20. Jahrhunderts, heute auch kein exemplarischer Fall mehr für eine Konsensdemokratie, denn die aktuellen Entwicklungen namentlich im Eliteverhalten lassen Zweifel entstehen. Dennoch, in der Polarität Lijpharts gehört die Schweiz immer noch auf die Seite einer Konsensdemokratie, im internationalen Vergleich ist sie aber kein Vorbild mehr, sondern zum Normalfall geworden. Damit einher geht, dass die Demokratiequalität nicht mehr ganz top ist, die Schweiz aber immer noch in der Spitzengruppe der OECD-Staaten rangiert.

Zu den absoluten Stärken des neuen Buches zur Schweiz gehört, dass es die bisweilen verstreut vorliegenden Forschungsergebnisse zum Schweizer Politsystem aufgearbeitet hat. Davon zeugen die Literaturlisten nach jedem Kapitel, die Publikationen bis 2013 berücksichtigen. Deutlicher noch kommt es in der Vielzahl von Tabellen mit Daten zum Ausdruck, die ebenfalls so aktuell sind, wie wenn sie in der heutigen Zeitung erschienen wären. Schliesslich werden auch die zentralen Trends beschlossen, denen die Schweiz unterliegt, namentlich der Konfliktkultur, die in den letzten 10 Jahren an zahlreichen Orten ihre Spuren hinterlassen hat.

Vielleicht, könnte man sagen, gibt es da eine Schwäche im kommenden Standardwerk. Denn zu den grossen Einflussfaktoren auf das politische System der Schweiz gehören heute Globalisierung und Europäisierung. Die kommen im Schlussteil, bisweilen auch in den Kapiteln, kurz zur Sprache, werden aber nirgends zu einer integrativen Perspektive zusammengefasst, die erhellend aufzeigen würde in welchem Masse sich das System durch innere resp. durch äussere Kräfte verändert.

Das alles ist für jene halb so wild, die das Buch ganz bewusst als Nachschlagewerk verwenden werden. Denn sie finden zahlreiche Übersichten, die es bisher nicht gab oder erst mit den Vorarbeiten zu diesem Buch veröffentlicht wurde: So der Überblick über die institutionellen Grundlagen der Parlamentswahlen in jedem Kanton, so der erweiterte Stammbau der Schweizer Parteien, so die Ausbildung des Verbandssystems in den Kantonen, so die Koalitionstypen kantonaler Regierungen für die letzten 30 Jahre, so eine Typologie der direkten Demokratie in den 23 OECD-Staaten, so die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesgerichts und so eine Demokratiekarte der Kantone.

Man kann es nur so zusammenfassen: Wer sich für das politische System der Schweiz interessiert, der oder die wird hier sicherlich bedient, sei er oder sie StudentIn der Politikwissenschaft in der Vorlesungen Vatters, DoktorandIn im Ausland vor der Herausforderung stehend, sich kompetent im Forschungsstand zurechtfinden zu müssen, DozentIn an einer Hochschule, gestresst, die Vorlesungsunterlagen ganz rasch aufdatieren zu müssen, JournalistIn, mit dem Auftrag versehen über Eigenheiten der Schweiz berichten zu dürfen, bis hin zur PolitikerIn mit einem wachen Auge für Grundfragen des politischen Systems der Schweiz.

Bedient ist vielleicht nur das Vorwort, denn das neue Kompendium informiert von Geschichte zur Gegenwart, empirisch wie theoretisch, aus der Binnen- wie auch auch aus der vergleichenden Aussenperspektive. Genau deshalb sollte man sich das Buch gleich anschaffen. Als Weihnachtsgeschenk für sich, denn der Autor hat soeben der Schweiz ein solches überreicht.

Claude Longchamp