Auf zur neuen Wahlforschung!

Zum zweiten Mal in Folge werde ich im Herbstsemester 2010 an der Universität Zürich die Vorlesung zur Wahlforschung halten: eine grosse Herausforderung für einen Praktiker der Forschung im Tummelfeld der Theoretiker zu bestehen!

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Lichthof Hauptgebäude Uni Zürich, wo ich im Herbstsemester wieder unterrichten werde

Die erste Austragung der Vorlesung war ein voller Erfolg. Mehr als 50 Studierende kamen zu dieser (nicht-obligatorischen) politikwissenschaftlichen Veranstaltung. Ihr Feedback war überwiegend positiv. Gelobt wurden der gebotene Stoff, die Art der Präsentation während den Vorlesungsstunden, und der Bogen von der Theorie zur Praxis. Begeistert war man von den Bezügen zur Aktualität, zu Beginn der Stunden – wenn sie auch gelgentlich zu lange waren. Wie überhaupt, die Menge der Unterlagen und Themen, die angesprochen wurden wohl etwas zu gross waren.

Nun bekomme ich im Herbstsemester eine gute Gelegenheit, die Schwachpunkte anzugehen und die Starkpunkte auszubauen. Dafür habe ich den besten Prüfling der erster Runde, (Blogger) Simon Lanz, angestellt. Er überarbeitet gegenwärtig alle Unterlagen aus Sicht eines Lernenden.

Am 24. September beginnt die Vorlesung. Der Einstieg wird den Bundesratswahlen gewidmet sein, konkret der Frage, wie man sie gesamtgesellschaftlich analysieren, im politischen System verorten kann, und welche Beweggründe die ParlamentarierInnen die eine oder andere Kandidatur favorisieren lassen. Frischeres Material dafür kann man nicht haben.

Der erste Teil der anschliessenden Semesterveranstaltung wird den theoretischen Ansätzen gewidmet sein, wie sie in den verschiedenen Sozialwissenschaften entwickelt worden sind, um die Ausprägung von Parteiensystem zu untersuchen, ökonomische und psychologische Elemente im Wahlverhalten zu bestimmen, und die Transformation von Wahlkämpfen in der sich abzeichnenden Mediengesellschaft zu bestimmen.

Der zweite Teil wird sich mit der doppelten Praxis beschäftigen: der Grundlagenforschung einerseits, die von UniwissenschafterInnen betrieben wird, um sich bestehende Theorie zu testen, und der Anwendungsforschung anderseits, die mit dem Zweck betrieben wird, die im vielfältiger werdenden Realitäten zu untersuchen. Dabei werde ich mich, anders als das erste Mal, nicht fast ausschliesslich auf Wahlen, Wahlkämpfe und Wahlentscheidungen konzentrieren, sondern, ausgehend vom Schweizer Beispiel, Abstimmung und Wahlen etwa gleichwertig behandeln. Der Ausblick wird den Wahlen 2011 gewidmet sein: der Neubestellung des Parlamentes und – nicht zu vergessen, der Regierung!

Ich freue mich auf die grosse Herausforderung, eine zeitgemässe, spannende und fliessende Vorlesung an der Universität Zürich halten zu können.

Claude Longchamp

Direkte Demokratie ist eu-kompatibler als man gemeinhin denkt

Wäre die Schweiz 1992 dem EWR beigetreten, hätte sie 94 Prozent aller Volksabtimmung seither genau gleich durchführen können, und bei einem EU-Beitritt wären es 85 Prozent gewesen. Den Vorteilen im Einzelfall stehen aber Nachteile bei Grundsatzfragen gegenüber, bei denen die Schweiz mit den Bilateralen ausgeschlossen bleibt. Das sagt Thomas Cottier in einem Gutachten, das die Sonntagszeitung gestern veröffentlichte.

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Prof. Thomas Cottier, Verfasser der neuesten Gutachtens zu EU und direkte Demokratie in der Schweiz

Der neue Diskussionsstil
In diesem Sommer änderte sch einiges an der Art der Europa-Debatte in der Schweiz: ie Denkfabrik Avenir Suisse publizierte zuerst eine Analyse der Souveränitätswahrung mit dem Status Quo und denkbaren Weiterentwicklungen. Das Ergebnis fiel ausgesprochen nüchtern aus. Der EU-Beitritt hat finanzielle Nachteile, die durch politische Mitsprache kompensiert werden. Der Preis für einen EWR-Beitritt ist deutlicher geringer, allerdings fallen auch die politschen Möglichkeiten der Mitbestimmung entsprechend aus. Der Bilaterale Weg schliesslich ist der für die Schweiz optimale Weg in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, doch droht er in einer Sackgasse zu enden, wenn das Interesse der EU schwindet.

Gestern nun hat die Sonntagszeitung, seit dieser Ausgabe unter Martin Spieler als neuem Chefredaktor, die Frage mit den Plus und Minus einer verstärkten Integration mit Bezug auf die Volksrechte aufgenommen. Das Gutachten erstellte Thomas Cottier, auf einmal Schweizer Koryphäe für Europarecht und EU-Beitrittsbefürworter.

Fact-sheet Volksrechte
Wäre die Schweiz 1992 dem EWR beigetreten, hätten sich die folgenden Aenderungen ergeben: Bei 10 der 163 Vorlagen wäre es zu Problemen verschiedener Art gekommen. Acht davon betreffen Volksinitiativen, von denen 6 verworfen, zwei aber angenommen wurden. Namentlich sind dies die Alpen-Initiative von 1994 einerseits, das Gentech-Moaratorium von 2005 anderseits. Zwei der Abstimmungen aus jüngster Zeit hätten so wie gehabt nicht stattgefunden. Konkret sind dies die Einführung resp. die Erweiterung der Personenfreizügigkeit, bei denen aber auch die Folgen einer Ablehnung für die Bilateralen ein Gegenstand der Diskussionen waren.

Wäre die Schweiz im gleichen Zeitraum bereits EU-Mitglied gewesen, wären die Differenzen grösser, aber auch nicht fundamental gewesen. 3 Abstimmung wären obsolet gewesen und hätten gar nicht stattgefunden. Sie alle betreffen Fragen des EU-Beitritts oder der Teilmitgliedschaft wie den Bilateralen I. Ueber den Beitritt zum Schengenraum hätte man indessen auch bei einem vorgängigen EU-Beitritt abstimmen können. Die Zahl der problematischen Volksinitiativen erhöhte sich auf 14, von denen drei angenommen wurden. Zu den beiden oben erwähnten Fällen käme der Gegenvorschlag zur Landwirtschaftsinitiative von 1996 hinzu.

10 Mal wären Behördenvorlagen nicht ohne Schwierigkeiten zur Abstimmung gelangt. Die Erhöhung der Treibstoffzölle (1993), die Einführung der LSVA (1998) und der Getreideartikel (1998) widersprechen EU-Recht. In sieben weiteren Fällen hätten Folgeabstimmungen nach Grundsatzentscheidungen nicht durchgeführt werden können. Sie betreffen zweimal die Erweiterungen der Personenfreizügigkeit und das Referendum gegen die Biometrischen Pässe, während die Zahlungen an den Kohäsionsfonds in der Form obsolet gewesen wären.

Kommentare
EU-Optimisten und Skeptiker reagieren unterschiedlich auf das Gutachten. Auf der einen Seite hätten sich klar mehr Richtlinien ergeben, die man, einmal angenommen, hätte umsetzen müssen resp. deren Nicht-Realisierung ihren Preis gehabt hätte. Auf der anderen Seite sind die Möglichkeiten zu erwähnen, die uns entgangen sind. So hatte die Schweiz keinen Einfluss auf die Ausarbeitung oder Entscheidfindung bei den Verträgen von Amsterdam oder Nizza, und sie konnte bei den Erweiterungen nicht mitentscheiden, genauso wenig wie sie bei der EU-Verfassung abstimmen durfte.

Eines habe ich an diesem Wochenende gelernt: EU-Integration und direkte Demokratie schliessen sich nicht grundsätzlich aus! Sie haben aber wechselseitige Konsequenzen. Zunächst müsste sich das Verständnis der direkten Demokratie im nationalkonservativen Lager von der selbstbezogenen Souveränitätsdefinition in jeder Einzelfrage zu einem Prinzip der Entscheidfindung weiterentwickeln, das auf einmal getroffenen Beschlüssen aufbaut, ohne diese immer wieder in Frage zu stellen. Doch auch für die Oekokonservativen wäre eine vermehrte EU-Integration eine Herausforderung. Denn die wirklichen Problemfälle unserer Entscheidungen stammen vorwiegend aus ihrem Bereich, seien es Verkehrs-, KonsumentInnen- oder Landwirtschaftsbereich. Am geringsten wären die Auswirkungen wohl für das Parlament, das einige seiner Entscheidungen nicht hätte treffen dürfen oder müssen.

Das Wesentliche aber wurde nicht wirklich gesagt: Dass die Schweiz als Musterland der direkten Demokratie glaubwürdig zeigen könnte, wie diese Form der Entscheidung in einem mittelgrossen Staat Platz hat und damit Vorbild für eine Reihe von Nationalstaaten oder Bundesländern in EU-Mitgliedstaaten werden könnte.

Claude Longchamp

Vom Versagen der öffentlichen Kommunikation und den Phänomenen hierfür

Zur Debatte gestellt wird mit den neuen Jahrbuch “Qualität der Medien” der Zustand der Infrastruktur der Demokratie. Darauf beziehen sich die Medien gerne, wenn sie ihre Bedeutung herausstreichen müssen, zeigen aber Mühe, den Zusammenhang anzuerkennen, wenn andere darüber kritisch sprechen. Der Start zur Debatte durch Medien, in Medien und über Medien ist gemacht.

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Bestelladresse des Jahrbuches “Medien und Qualität” hier.

Eines ist klar: Wenn Kurt Imhof im Nu das bis anhin öffentlich nicht bekannte Phänomen des Botellons mit einem Interview bekannt macht, in dem er sich selber leicht beschwippst von Frage zu Frage labbert und mit jeder Antwort das Thema genial trifft, dann klatschen die Medien einhellig und lautstark dem Star und den hiesigen Sozialwissenschaftern.

Wenn der gleiche Mediensoziologe indes genau diese Medien einer Qualitätskontrolle unterzieht, reagieren sie unterschiedlich irritiert: Im schlechtesten Fall schweigen sind, im Einzelfall diskreditieren sie seine Forschung ohne sie gesehen zu haben, und nur im guten Fall setzten sie sich mit der Medienkritik durch Aussenstehende auseinander.

Denn seit Beginn des 21. Jahrunderts ist es, ausgehend von den USA, üblich geworden, sozialwissenschaftlich angeleitete Qualitätsmessungen der Medienberichterstattung vorzunehmen, sie wissenschaftlich und öffentlich zu diskutieren. Zu dieser Kategorie Forschung zählt auch die erste Publikation des neuen Observatoriums “Medien und Qualität” des Forschungsbereich für Oeffentlichkeit und Gesellschaft an der Universität Zürich.

Im gestern erschienenen gleichnamigen Jahrbuch haben die versammelten MedienwissenschafterInnen ihre vorläufigen Einsichten in die Versorgung durch das Mediensystem Schweiz und in die qualitätsrelevanten Trends, die hierzu beobachtbar sind. Finanziert wurde das gross angelegte Unterfangen durch verschiedenen Stiftungen in der Schweiz, die meisten aus dem Bereich der Privatwirtschaft, teilweise auch mit gemeinnützigem Hintergrund.

Zu den Hauptbefunden des Berichts auf der übergeordneten Ebene der Medienarena zählen:

* Erstens, die Printmedien im einstigen «Presseland Schweiz» verlieren bezüglich Auflagen, Nutzung und ihrer wirtschaftlichen Grundlagen an Bedeutung. Nur die Gratistitel und teilweise die Sonntagszeitungen können innerhalb der Presselandschaft noch Zuwachsraten verbuchen und so den generellen Abwärtstrend der Presse abmildern, allerdings ohne den Qualitätsverlust auffangen zu können.

* Zweitens, der Onlinebereich ist klar fast flächendeckend und auf in vielerlei Hinsicht auf dem Vormarsch. Allerdings ist ihre Refinanzierung prekär. Sie ziehen jedoch den Newssites anderer Medien substanzielle Publikumssegmente ab. Dies betrifft insbesondere die Abonnementszeitungen und die öffentlichen Radiosender.

* Drittens, das Fernsehen verzeichnet Reichweitenverluste bei den Jungen, ohne diese mit Reichweitengeiwnnen bei den Aeltern kompensieren zu können. Generell leidet die Nutzung von Informationsformaten von Radio und Fernsehen, ohne dass ihre überragende Bedeutung verschwunden wäre. Private Angebote sind hier allenfalls als komplementär einzustufen, vor allem im Lokalbereich.

* Viertens, es hat sich eine Gratiskultur durchgesetzt, die die nötigen Ressourcen für guten Journalismus nicht bereitstellt und Publizistik ausserdem von der hohen Volatilität eines schwindenden Werbeaufkommens abhängig macht. Das fördert den Konzentrationsprozess sowie Einsparungen bei den Redaktionen.

* Fünftens, die verschiedenen Mediengattungen tragen in höchst unterschiedlichem Mass zur Vielfalt und Relevanz der Berichterstattung in der Schweiz bei. Zudem kann man davon ausgehen, dass die Bedeutung gerade derjenigen Typen und Gattungen in Zukunft zunehmen wird, die weniger zu Relevanz und Vielfalt beitragen.

* Sechstens, bei Boulevard- und Gratiszeitungen, den Privatsendern sowie den Onlinemedien finden generell personenzentrierte Human Interest-Themen Aufmerksamkeit. Auch die Politik wird viel stärker über Geschichten einzelner Personen aufbereitet. Bei diesen Typen ist die Forumsfunktion ist nur bedingt erfüllt.

* Siebtens, in der schweizerischen Medienarena steigt die Binnenorientierung im Zeitverlauf auf Kosten der Auslandsberichterstattung. Die Fokussierung auf den Medienkonsumenten und die Kostenreduktion lässt die Welt ausgerechnet im Zeitalter der Globalisierung zugunsten des Nationalen und des Regionalen in den Hintergrund treten. Die neuen Medien beschränken die Welt zudem auf Krisen, Kriege und Katastrophen.

* Achtens, für eine einordnende, reflexive und Hintergrundinformation vermittelnde Berichterstattung sorgen primär die Abonnementszeitungen, die Sonntagszeitungen und das Magazin sowie die öffentlichen Programme von Radio und Fernsehen. Umgekehrt ist die Berichterstattung der Newssites, der Boulevard- und Gratiszeitungen sowie der Nachrichtensendungen des Privatfernsehens überwiegend episodisch.

Es liegt nun an den Angesprochenen, sich damit auseinander zusetzen: den Medien, Medienverlagen und Medienschaffenden selber, aber auch den politischen und wirtschaftlichen Akteuren, den gesellschaftlichen Kräften, die von der Oeffentlichkeit leben und denen die aufgezeigten Entwicklungen nicht egal sein können.

Ihnen haben die ForscherInnen jedenfalls eine kecke Behauptung zugeworfen, die sie nicht kalt lassen kann, sprechen die Obervatoren doch recht generell von einem Systemversagen der öffentlichen Kommunikation in der schweizerischen Demokratie. Die Diskussion lanciere ich mit folgender Differenzierung hierzu: Niemand mehr kann über eine Vielzahl von Phänomenen des Versagens öffentlicher Kommunikation in der Schweiz hinweg sehen, doch bleibt die Frage offen, ob man sie soweit verallgemeinern kann, wie das hier geschieht. Denn untergegangen sind bis jetzt weder die Schweiz noch ihre Demokratie. Vielmehr bleibt die Assoziation auf den kritisierten Katastrophismus neuen Medien(wissenschaften)!

Claude Longchamp

Rotationsprinzip zwischen FDP und CVP: ein Vorschlag mit Stärken … und Schwächen!

Im heutigen Tages-Anzeiger schlägt Urs Altermatt vor, angesichts vergleichbarer Stärken von FDP und CVP einen Bundesratssitz zwischen beiden Parteien zu rotieren. Hier eine kritische Diskussion, die auch Schwächen der Argumentation aufzeigt.

SCHWEIZ BUNDESRAT REISE
Mit etwas Wehmut schaut der Tagi auf die Zeiten zurück, als es mit dem Bundesrat scheinbar besser ging.

Urs Altermatts Stimme ist nicht ohne. Der angesehene Freiburger Zeitgeschichtler, seit Kurzem emeritiert, ist der Bundesratshistoriker par excellence. Sein Bundesratslexikon ist seine wissenschaftliche Basis; seine Interventionen in Wahlgänge hat seine Reputation auch über Fachkreise hinaus gestärkt. Beseelt waren sie immer vom Wunsch, stabile Verhältnisse zu garantieren, auch wenn dabei nicht zu übersehen ist, das CVP-nähe Begründungen besondere Gewicht erhielten.

Nun nimmt Altermatt im Tagesanzeiger zur anstehenden Ersatzwahl von Hans-Rudolf Merz eine Idee auf, mit der ich insbesondere 2007 auch schon sympathisiert habe, sie zwischenzeitlich aber nicht mehr propagiere. Sie lautet: Angesichts vergleichbarer Stärken können weder FDP noch CVP davon ausgehen, auf eine gewisse Dauer selber einen Bundesrat mehr als die andere zu beanspruchen, was für die Rotation eines FDP/CVP-Sitzes bei Rücktritten aus diesen Reihen spricht.

Pellis Avance

Anlass, den Vorschlag wieder aufzunehmen, ist die interessante Aussage von FDP-Präsident Fulvio Pelli. Demnach müsse jeder und jede aus der FDP mit ambitionen wissen, dass letztlich erst die anstehenden Parlamentswahlen 2011 über den Verbleib in der Regierung entscheiden. Sollten sie zwischen FDP und CVP einen Positionstausch bringen, habe die FDP keinen Anspruch mehr auf zwei Sitze und sei ein Rücktritt fällig.

Altermatts Folgerungen

Altermatt irrtiert das. Mit der Abwahl von Ruth Metzler habe man 2003 einen ersen Tabubruch begangen, indem die parteipolitische Stabilität des Bundesrates aufgegeben worden sei. Jetzt drohe ein zweiter, wenn auch die personelle Konstanz aufbreche. Beides sei dem Konkordanzsystem abträglich, das mit der Berechenbarkeit der Regierungszusammensetzung seinen wichtigsten Trumpf verspielen würde.

Sinnvoller sei es, wenn die FDP nun in einem geregelten zugunsten der Zentrumsfraktion verzichte, dafür aber, in einem ebenso ordentlichen Verfahren die Nachfolge aus deren Reihen wieder stellen könne. Im Rahmen der Regierungsreform könne das Parlament die Zahl der Regierungssitze auf 9 erhöhen, um die Ansprüche der SVP und der Grünen zu bedienen. Ueber den Verbleib von Eveline Widmer-Schlumpf resp. ihrer BDP in der Regierung könne man dann 2011 streiten. Sie könnte auch der FDP beitreten.

Drei Schwächen der Argumentation Altermatts

Die erste Schwäche ist, dass der Zeithistoriker fallweise mit den Parteistärken argumentiert. Wenn man Machtfragen mit Anteilen entscheiden will, hat das seine Logik. Doch muss sie konsequent eingehalten werden. Denn dann ist der Sitz der BDP unter keinen Umständen zu rechtfertigen, genauso wenig wie die Zurückstufung der SVP. Bei einer rein arithmetisch begründeten Konkordanz müsste der neue Bundesrat je zwei Vertreter der SVP und SP haben, je einen von FDP und CVP, und der siebte Sitze könnte rotiert werden. Nichts spricht dafür, bei einem parteipolitischen Wechsel die FDP zu schwächen, die BDP zu schonen und die SVP zu übergehen.

Dass man hier nicht mit Messers Schneide vorgeht, hängt von der zweiten Schwäche rein rechnerischer Verteilregeln ab. Denn es ist nicht eindeutig, auf welches Kriterium abgestellt werden soll. Die FDP argumentiert mit der Parteistärke bei Nationalratswahlen. Das hat den Vorteil, ein nicht manipulierbares Kriterium zu sein, verbunden mit dem Nachteil, der föderalistischen Struktur des schweizerischen Politsystems nicht Rechnung zu tragen. Genau umgekehrt ist es, wenn man, wie in CVP-Kreise üblich, auf Fraktionen abstellt. Das berücksichtigt zwar die Ergebnisse in beiden Parlamentskammer. Er kann aber die elektorale Stärke von Parteien, die sich zu Fraktionen zusammenfinden, beeinflusst werden. Für dieses Kriterium spricht letztlich nur, dass wir keine Volkswahl, sondern eine Parlamentswahl des Bundesrates haben; dagegen muss man aber einwenden, das Fraktionsstärken über Parteigrenzen hinweg rasch zerfallen können und damit der gewünschten Stabilitätsausrichtung nicht wirklich dienen.

Es bleibt auch ein dritter kritischer Diskussionspunkt. Ein Rotationssystem mit einer mittleren Verweildauer von Bundesräten, die bei rund 10 Jahren liegt, ist nur bei einer längerfristigen Stabilität in den Parteistärken sinnvoll. Wer aber garantiert, dass FDP und CVP in den nächsten 10, 20 oder 30 Jahren stets Wahlergebnisse einfahren, die im 2 Prozent-Bereich gleich sind? Niemand! Ohne diese Garantie ist eine scheinbar gute Lösung für den ersten, der davon profitiert, von Vorteil, ohne dass der zweite eine Garantie hat. Deshalb sollte Altermatt besser gleich von einem Sitztausch weg von der FDP hin zu CVP sprechen.

Das ist, unabhängig von der betroffenen Partei, aus meiner Sicht die grösste Schwierigkeit mit dem Ansatz, und es ist das Argument, das auch mich, nach anfänglicher liason mit der Idee, hat Abstand nehmen lassen.

Claude Longchamp

Schweiz, Oesterreich, Deutschland: politische Kulturen im Forschungsvergleich

Es hat gedauert, bis der Band wirklich erschienen ist. Doch liegt mit dem Buch „Deutschland, Oesterreich und die Schweiz im neuen Europa“ nun ein umfangreicher Sammelband vor, der in der ländervergleichenden politischen Kulturforschung mittels Umfragen neue Massstäbe setzt.

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Oscar Gabriel, Politikprofessor in Stuttgart, hat die Einleitung zu „Citizen Politics“ als wissenschaftliches Konzept verfasst, in der es ihm um eine Neudefinition des Verhältnisses von „Bürger und Politik“ (in der Demokratie) geht. Politische Einstellungen, politische Kommunikation und politisches Verhalten sind seine Grundkonzepte. Damit definiert er den Gegenstand offener, als es die Begründer in den USA taten, aber auch im deutschsprachigen Raum nach Max Kaase üblich war. Auch geht der Kenner der Materie über die individualistischen und funktionalistischen Ansätze der bisherigen Politischen-Kultur-Forschung hinaus, wenn er zwei neue Forschungsperspektiven diskutiert: einerseits die Differenzierung in zentrale und periphere Elemente der Staatsbürgerkultur, anderseits eine stringentere Verknüpfung zwischen Mikro- und Makroebene einschliesslich der damit verbundenen Kausalitätsfragen.

Im Sammelband folgen drei Länderkapitel, je eines zu Deutschland, Oesterreich und der Schweiz. Sie sind im Ansatz gleich aufgebaut, um als Nachschlagewerk über Zeit und Raum die aktuellen Ergebnisse aus der Umfrageforschung. Verfasst wurden Oscar Gabriel und Kajta Neller (Stuttgart) aufgrund deutscher, von Fritz Plasser und Peter Ulram (Innsbruck/Wien) anhand österreichischer und von Bianca Rousselot und mir (beide Bern) mit schweizerischen Daten. Dabei schöpfen alle AutorInnen aus dem Fundus der nationalen Forschungsergebnisse, soweit ihnen diese aus der theoretischen und vergleichenden Perspektive sinnvoll erscheinen. Die Bezüge zu Demokratie, politischer und medialer Involvierung und der Unterstützung nationaler und europäischer System interessieren dabei in allen drei Kapiteln gleichermassen.

Das alles wir im Synthesekapitel der beiden Editoren Gabriel und Plasser in zwei Schritten vereinheitlicht und summarisch mit den Resultaten in Verbindung gebracht, welche ein analoges Unterfangen vor 20 Jahren für die drei (damals noch vier) Länder hervorgebracht hatte. Der wichtigste Befund hierzu ist, dass die nationalen Besonderheiten, die stark aus der Struktur des jeweiligen nationalen politischen Systems abgeleitet werden konnten, zwar nicht verschwunden sind, aber erheblich eingeebnet wurden. Rangierte die Schweiz hinsichtlich der “Citizen Politics” Ende der 80er Jahre überraschender Weise nur auf Rang 3 im Dreiländer-Vergleich, und lag (für mich ebenso erstaunlich) Oesterreich an der Spitze, hat sich, aufgrund der Neudefinition der Kriterien ein Platzwechsel zwischen der Schweiz und Deutschland ergeben.

Konkret sind Demokratieunterstützung und -zufriedenheit in allen drei Ländern vergleichsweise hoch (letzteres kennt in der Schweiz einen Spitzenwert). Das gilt etwas eingeschränkt auch für die politische Einbettung, gemessen am kognitiven Engagement und an der Parteiidentifikation (wobei die Abstriche in Oesterreich und Deutschland etwas grösser ausfallen). Indes erweist sich die mediale Involvierung in politischen Fragen im Vergleich generell tief (ganz besonders in der Schweiz), ohne dass sich das nachteilig auf die politische Partizipation im konventionellen wie auch unkonventionellen Sinne auswirkt, während die Wahlbeteiligung in der Schweiz der direkten Demokratie wegen auffällig tief ist, und es weitgehend auch geblieben ist. Keine Auswirkungen lassen sich jedoch beim Vertrauen nachweisen, das gerade in der Schweiz am höchsten ausfällt – und zwar nicht nur auf die nationale Ebene bezogen, sondern auch auf die europäische. Dabei ist zu erwähnen, dass die Euroskepsis namentlich in Oesterreich, aber auch in Deutschland angesichts unerwarteter Hoffnung mit der EU-Mitgliedschaft am wachsen ist. In den beiden untersuchten EU-Staaten drückt sich das auch in einer mittleren Unzufriedenheit mit der nationalen Regierung und dem Output des politischen Systems aus, was in der Schweiz (noch?) wenig beobachtet werden kann.

Ganz interessant ist der Schluss des Buches, der alle Befunde im grossen europäischen Massstab diskutiert. Er legt nahe, dass die politische Kultur Russland nur mit sich selber verglichen werden kann. Darüber hinaus macht er deutlich, dass ein osteuropäischer, ein nordeuropäischer und westeuropäischer Typ existiert. Deutschland und Oesterreich gehören zum letzteren, während die Schweiz aus der Sicht der empirischen Komparatistik am meisten Gemeinsamkeiten mit Luxemburg (und mit Finnland) kennt und zu keinem Typ passt.

Der grosse Vorteil des übersichtlich gemachten Buches ist, die vergleichende politische Kulturforschung recht systematisch erfasst und ein Stück weit auch vorangetrieben zu haben. Die Länderkapitel können sowohl für die länderspezifische Forschung nützlich werden, wie auch den internationalen Vergleich befruchten. Am innovativsten ist sicher auch die Synthese, die auf den insgesamt 14 Indikatoren beruht, die national und europäisch sinnvoll erscheinen, inskünftig zum Kern der politischen Kulturmessungen gezählt zu werden. Wohl noch am wenigsten eingelöst wurde der Anspruch zu klären, wie politischen Strukturen und politischen Kulturen mehr als über ihre jeweilige Geschichte in ihrer Entstehung zusammenhängen.

Claude Longchamp

8 Jahre Bundesrat sind genau richtig!

Die Freiheiten der Schweizer Bundesräte zu bleiben oder zu gehen, wie sie oder ihre Parteien es für gut finden, geht zu weit. Es braucht eine Amtszeitregelung mit klarer definierten Möglichkeiten und Grenzen für die Zeit in des Bundesregierung.

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Der jetzige Bundesrat ist im Umbruch, nötig ist es auch, die Regel für die Amtszeit in der Regierung zu ändern.

Aus meiner Sicht sind 8 Jahre im Bundesrat nötig und genug. Eine Legislatur ist meist zu kurz, mehr als zwei in der Regel zu lang. Das gilt mehr oder minder für kantonale RegierungsrätInnen. Nicht aber für BundesrätInnen. Und das ist nicht von Gutem.

Im Rahmen der Regierungsreform muss das heikelste Thema, die Amtszeitregelung der Bundesräte und Bundesrätinnen aufgenommen werden. Die Initiative müsste wohl vom Parlament ausgehen. Denn wir haben zwei offensichtliche Probleme: Zunächst können die BundesrätInnen bleiben, solange sie wollen. Und dann können sie gehen, wann sie wollen.

Zwischenzeitlich haben auch die Parteien gelernt, dass man auch erfolgreich taktieren kann. Der der Zeitpunkt eines Rücktritts aus dem Bundesrat legt die Chancen der denkbaren NachfolgerInnen mitunter ziemlich verbindlich fest. So können Wunschkandidaturen gefördert, und Bewerbungen, die man nicht will, gebremst werden. Das macht das Ganze nicht besser.

Zweien Legislatur sind richtig, weil es Aufgaben gibt, die nicht im Hauruck-Verfahren besprochen, geregelt und gelöst werden können. Eine wäre der Kohärenz der Sachpolitik abträglich. Bei drei Amtszeiten kennen wir ein anderes Phänomen: die entsprechenden BundesrätInnen äussern mitte der zweiten Amtsperiode dann Wunsch, noch einmal etwas Neues machen zu können, was dann in einem Departementswechsel endet.

Beides ist nicht sinnvoll: Weder braucht die Schweiz einen Politikwechsel im Legislaturrhythmus, noch haben wir Tausendsassas in der Bundesregierung nötig, die mehr als ein Departement leiten können. Vielmehr sind PolitikerInnen gefragt, die in vernünftiger Frist zur Lösung der Probleme in einem Sachbereich beitragen wollen.

Damit ist auch gesagt, dass die Rücktritte im Normalfall nicht irgendwann geschehen sollten, sondern am Ende einer Amtszeit. Da sind die RegierungsrätInnen in den Kantonen ehrlicher. Wenn sie zur Wahl antreten, verpflichten sie sich in der Regel auch, das angestrebte Amt ordentlich zu Ende zu bringen. Mehr von dem, würde auf Bundesebene nicht schaden.

Der vorgeschlage Modus würde wohl zu drei bis vier Rücktritten auf Ende Legislatur führen. Damit würden sich bei Neuwahlen viele Vorteile ergeben: Die individuelle Auswahl würde steigen, weil in der Kombination mehr BewerberInnen in Frage kommen. Auch parteipolitische Anpassungen liessen sich so besser bewerkstelligen, was den WählerInnenwillen vermehrt repräsentieren würde

Mit klaren Vorgaben könnte man vor allem unwürdige Diskussionen verhindern, wie sie in letzter Zeit vorkamen. Dass Bundesräte für 2 bis 3 Jahre gewählt werden sollten, wenn weil sie schon im Pensionsalter sind. Oder dass man BundesrätInnen nach mehr als 12 Jahren das Lola-Prinzip erklären muss.

Ich weiss, dass sind nur zwei Ideen, die einer weiteren Klärung bedürfen. Es sind aber zwei Erwartungen, die sich immer klarer herausschälen, wenn man die Nachteile des weitgehend deregulierten Verständnisses von BundesrätInnen studiert, die sich ergeben, wenn wir uns im vollen Uebergang befinden zwischen dem Bundesratsdasein als Lebensaufgabe und dem Profiverständnis der Regierungsarbeit.

Amtzeitregelung bedeutet deshalb, an den notwendigen Normen zu abreiten die es braucht, dass die guten PolitikerInnen, die wir haben, 8 Jahre ihre Zeit im öffentlichen Leben voll und ganz dem Regieren widmen wollen – und danach Schluss ist!

Toni Judt, der lebendigste Geist unter den Zeithistorikern, ist nicht mehr

Toni Judt, einer der bedeutendsten Zeitgeschichtler der Gegenwart, ist seiner schweren Krankheit im Alter von 62 Jahren erlegen. Mit ihm verschwindet ein wacher Geist unserer Zeit, der diese kannte und erzählen konnte, wie kaum ein anderer.

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Toni Judt, 1948-2010, verfasser der umfassende Geschichte des “Postwar”

“Aber ist der Vergangenheitscharakter einer Geschichte nicht desto tiefer, vollkommener und märchenhafter, je dichter “vorher” sie spiel?” Mit dieser Frage aus Thomas Manns Zauberberg wandte sich Toni Judt kritisch an seine Historikerkollegen. Denn normalerweise sind die der Auffassung, man könne nur mit der gebührenden Distanz erkennen, was Geschichte sei. Davon grenzte sich der prominente britische Historiker gerade mit seiner “Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart” klar ab, aber auch mit seinen viel beachteten Interventionen in der Aktualität.

Judts Hauptwerk hat vier Teile, die gleichzeitig zum gebräucherlichen Vorschlag wurden, die Nachkriegsepoche zu periodisieren: die eigentliche Nachkriegszeit bis 1953, der Wohlstand und das Aufbegehren bis 1971, die grosse Rezession bis 1989 und die Zeit nach dem Zusammenbruch. Diese Einteilung hat den Vorteil, nicht an die Geschichte eines Staates, sei es Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Spanien oder Polen gebunden zu sein. Am ehesten noch lehnt sie sich an den Aufstieg und Fall der Sowjetunion mit dem Kalten Krieg und seiner Ueberwindung an. Doch auch das war nicht Judts wirkliche Absicht, als er sein wissenschaftliches Hauptwerk schuf. Vielmehr interessierten ihn die Grundzüge der Politik, der Wirtschaft, der Kultur, ja selbst des Alltags, als er begann, die ersten 60 Jahre des alten Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg zu erzählen.

Selbst wenn sich auf die grossen Linien der europäischen Zeitgeschichte beschränkte, resultierte ein Buch von 1000 gut lesbren Seiten. Das hat wohl damit zu tun, dass sich der Historiker gegen die postmodernen Theoretiker der Gegenwart klar abgrenzte und die Reduktion der Geschichte auf eine Dimension ablehnte. Dennoch prägen mindestens fünf Leitideen Judts Sicht auf die Zeitgeschichte des alten Kontinents:

. dem Niedergangs durch den Zweiten Weltkrieg, beschleunigt durch die Distanz zu Europa, auf die sich mit Grossbritannien und der Sowjetunion zwei der Siegermächte begaben,
. dem Verblassen der grossen Fortschrittstheorien des 19. Jahrhunderts wie dem Liberalismus im Westen und dem Kommunismus im Osten,
. der Entwicklung des “Modells Europa” durch die verbindliche Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen und der innergesellschaftlichen Verhältnisse,
. der Amerikanisierung der Kultur, die indessen beschränkt blieb und
. der Homogenisierung des Kontinents, sei es durch Grenzverschiebungen, Vertreibungen und Völkermord, deren weitere Verhinderung dann zum einigenden Band wurde, ohne sie wieder aufzuheben.

Solche Einsichten ergeben sich aus der Gabe Judts, sich sowohl für die Unmittelbarkeit der Jetzt-Zeit zu interessieren, als auch die Zusammenhänge in der historische Dimension treffend zu erkennen. Bei Judt kam hinzu, dass er ein wahrhafter Intellektueller war, aus dem jüdischen Milieu stammend und dennoch anders als so viele seiner Kollegen nicht einfach kritiklos gegenüber Israel. Als junger Wissenschaftler war er auch Marxist, doch löste er sich von dieser Ideologie, um eine uuniversalistische Demokratie als Verteidigerin der sozialen Gerechtigkeit gegenüber der neoliberalen Marktgesellschaft zu vertreten.

Nun ist Toni Judt, der Paneuropäer, der in New York forschte und lehrte, nach einer schweren Krankheit 62jährig gestorben. Die Zeit, die er vorbildlich analysierte, ist die Zeit, in der er selber lebte – und auch ich noch lebe. Genau das macht seine Hauptwerk für Zeitgenossen und nachfolgende Generationen interessant. Das alles ist und bleibt umso spannender, wenn er von dem vorgeführt wird, der, wie der Londoner Guardian nur einen Tag vor dem Tod des Meisters schrieb, “the liveliest mind in New York” war.

Claude Longchamp