FPOe gewinnt Landtagswahlen in Vorarlberg dank Mobilisierung gegen Establishment

Nicht zuletzt wegen der an die SVP angelehnten Wahlwerbung der FPOe schaute man hierzulande heute gespannt auf das Ergebnis der Vorarlberger Landtagswahlen. Die OeVP behält zwar die absolute Mehrheit und regiert, wie angekündigt, ohne die FPOe. Doch diese ist nun zweite Partei und verdoppelte ihre WählerInnen-Stärke, vor allem dank eine sensationellen Neumobilisierung.

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Quelle: Der Standard

Man erinnert sich: Die nationalkonservative FPOe setzte im Wahlkampf auf heimatliche Themen. Mit Plakaten rief sie zum “Schluss mit der falschen Toleranz” auf. Im Visier hatte sie türkische MigrantInnen und Minarette bei islamischen Gotteshäusern. Damit gewann sie die Medienaufmerksamkeit für sich. Diese hielt sie Kritik am Direktor des Jüdischen Museums Hohenems hoch, was der bisherigen Regierungspartei ihre Akeptanz bei der stärkeren OeVP kostete.

Gemäss vorläufigem Wahlergebnis hat das der FPOe im Vorarlberg genützt. Im neuen Landtag hat sie nun 9 der 36 Sitze. Ihre WählerInnen-Stärke erhöhte sie von 12,9 auf 25,9 Prozent.

Die Wählerstromanalyse des Instituts SORA benennt den Hauptgrund für den Erdrutsch im Vorarlberg: Der FPOe gelang es wie keiner anderen Partei Neuwählende für sich zu gewinnen. Fast die Hälfte der aktuellen Stimmen machte sie bei Nicht-Wählenden der Vorwahl. Beschränkt legte die FPOe auch zu Lasten der OeVP zu. Und sie sammelten Stimmen bei bisherigen Aussenseiterlisten.

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Die OeVP konnte den Schaden in recht engen Grenzen halten, weil sie zwar nach rechts verlor, gegenüber links aber gewann. Ihre Wechlerbilanzen sind sowohl gegenüber der SPOe wie auch den Grünen positiv. Marginal nutzte die gestiegene Wahlbeteiligung auch der OeVP. Die Grünen, die ihren WählerInnen-Anteil hielt, kompensierten die Verluste an die OeVP durch Neumobilisierung. Genau das gelang der SPOe nicht, weshalb sie einbrach.

Bilanziert man den Wahlkampf der FPOe kann man vorerst festhalten: Sie setzte inhaltlich focussiert auf verdrängten Themen und kombinierte das stilmässig mit den Mitteln der Provokation. Das kostete ihr zwar die Reigerungswürdigkeit. Doch gelang es ihr, die angedrohte Verlagerung auf die Oppositionsbänke zu nutzen, um sich bei den bisherigen NichtwählerInnen massiv zu empfehlen, und der OeVP verärgerte WählerInnen abzunehmen. Die Partei hat damit nicht die Mehrheit bekommen, aber mehr WählerInnen angesprochen als bisher, wie das die SVP in der Schweiz auch macht. Zuerst braucht es die Oberhoheit über die Oeffentlichkeit, um die eigenen Themen ins Zentrum zu rücken. Und dann dann setzt man voll auf Mobilisierung gegen das irritierte Establishment, womit sich das wählende BürgerInnenspektrum nach rechts bewegt.

Claude Longchamp

Der Machtpoker ist eröffnet

Kaum sind die jüngsten Bundesratswahlen in der Schweiz vorbei, beginnen die Planspiele für den kommenden Machtpoker. Spätestens für das Wahljahr 2011 zeichnen sich verschiedene Angriffe auf die jetzige parteipolitische Zusammensetzung der Bundesregierung ab, denn es gibt 10 Ansprüche, aber nur 7 Sitze.

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Selbstredend fühlt sich die SVP als wählerstärkste politische Partei in der Schweiz untervertreten. Doch steht im Raum, dass sie daran nicht unverschuldet ist, hat sie doch Evelyne Widmer-Schlumpf aus der Partei ausgeschlossen. Mit einer Aufstockung auf zwei Sitze ist deshalb nur zu rechnen, falls sich die beiden zerstrittenen Parteien untereinander arrangieren oder die Bündnerin nicht mehr im Bundesrat ist. Das kann durch Rücktritt oder Abwahl erfolgen. Genau dieses Ziel verfolgt die SVP, braucht dafür aber nicht nur die FDP, sondern eine Mehrheit der Bundesverammlung. Ohne eine Avance zugunsten einer weiteren Partei geht das wohl nicht. Mit einem Angriff der SVP auf die BDP resp. auf Widmer-Schlumpf ist deshalb erst nach den nächsten Parlamentswahlen zu rechnen.

Spätestens mit der Vorbereitungen der jüngsten Bundesratswahlen wurde offensichtlich, dass die BDP ihre Position zwischen FDP und CVP hat und es sich mit beiden Parteien nicht verderben will. Schafft sie es 2011 nicht, elektoral vor den Grünen zu liegen, dürfte ihr Sitz in der Bundesregierung erheblich wackeln. Aus der ungemütlichen Situation könnte sich die Partei befreien, wenn sie sich an eine der beiden anderen bürgerlichen Regierungsparteien anlehnt. Momentan hat die CVP das grössere Interesse an einer solchen Allianz, könnte diese auf diese Weise das Zentrum verstärken und bei einem späteren Rücktritt Widmer-Schlumpf den frei werdenden Sitz für sich reklamieren. Ganz auszuschliessen sind solche Ueberlegungen aber auch bei der FDP nicht, jedenfalls dann nicht, sollte es zu einem vorzeitigen Rücktritt von Hans-Rudolf Merz kommen und es der FDP misslingen, den Sitz selber zu behalten. Denn dann könnte es auch für die FDP interessant werden, mit der BDP zu koalieren, um sich bei der Nachfolge der Bündner Bundesrätin selber zu empfehlen. Wie auch immer, dieses Planspiel dürfte bis zu den Wahlen 2011 aktuell bleiben. Fast sicher steht es danach zur Debatte.

Sollte Hans-Rudolf Merz als Folge der anstehenden Aufarbeitung der Libyen-Krise zurücktreten, ist mit dem Angriff der Grünen zu rechnen. Ihre 2+1-Strategie lautet, mit der SP die ökologisch-soziale Linke im Siebnergremium zu stärken. Begründet werden kann es mit dem eigenen WählerInnen-Anteil, sind die Grünen nach Nationalratsproporz näher an einem Sitz als die FDP an zwei Sitzen. Die Schwäche der Strategie besteht indessen darin, dass letztlich keine dritte Partei an einem solche Vorgehen Interesse haben dürfte: die FDP sicher nicht, die SVP nicht und die CVP kaum. Bleibt ein grüner Angriff auf die rote SP; das könnte die rechte Seite durchaus freuen, würde links aber kaum verstanden.

Damit eröffnen sich vier Szenarien für die kommenden zweieinhalb Jahre:

Erstens, bis Ende 2011 kommt es angesichts des multiplen Drucks auf die Bundesratszusammensetzung zu keinem Rücktritt und damit auch zu keiner weiteren Bundesratswahl vor den nächsten Parlamentswahlen. Alles bleibt, so wie es ist, selbst wenn viel geredet und geschrieben wird.
Zweitens, bei den kommenden Parlamentswahlen gibt es klare Gewinner und Verlierer, sodass es starke Hinweise gibt, wer im Bundesrat vermehrt oder abgeschwächt vertreten sein sollte. Davon könnten die SVP und die Grünen profitieren, die BDP und die SP jedoch die Zeche bezahlen.
Drittens, die Bundesratswahlen von 2011 verlaufen nicht vorhersehbar; sie bringen das Ende der Konkordanz unter den politisch divergenten Lagern. Das politische System entwickelt sich in Richtung Regierung/Opposition, wobei voraussichtlich die Linke als Erstes in den sauren Apfel beisst.
Viertens, die Zahl der Sitze im Bundesrat wird mit der Regierungs- und Departementsreform erhöht, sodass Platz für eine neue Konkordanzformel entsteht – zum Beispiel so: die drei grösseren Parteien je zwei, die drei kleineren je einen Sitz erhalten.

Und noch etwas: Die zurückliegende Bundesratswahl hat gelehrt, dass es nicht nur um parteipolitischen Ueberlegungen geht, sondern auch um solche der Sprachregionen. Eine Partei kann ihre Chancen, bei einer Wahl zu gewinnen, erhöhen, wenn sie von Beginn weg nicht nur an Sitze, sondern auch an Personen denkt, die dem entsprechen.

Claude Longchamp

Wahlbörsen zu Deutschland: eher grosse als bürgerliche Koalition

Die führende Prognose-Börse bei den deutschen Bundestagswahlen heisst „Wahlstreet“. 9 Tage vor der Wahl haben CDU/CSU einen Marktwert von 33.7, gefolgt von der SPD mit 24.8 und der FDP, die auf 13.2 kommt. An viertes Stelle sind die Grünen mit 11.5, gefolgt von der Linken mit 10.8. Marktanteile in Wahlbörsen entsprechen dem WählerInnen-Anteil bei der effektiven Wahl.

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Wahlbörsen prognistizieren mit den Mitteln des Marktes Wahlausgänge recht zuverlässig, bieten aber keine Möglichkeit, das Wählerverhalten zu analysieren.

Betrieben wird die virtuelle Wahlbörse für Deutschland vom Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, die damit ein Forschungsprojekts zur politischen Einstellungs- und Meinungsforschung durchführt. Dabei setzt jeder Teilnehmer, jede Teilnehmerin ein Startkapital von maximal 50 Euro ein und kann mit diesem Einsatz Aktien der Parteien ihren Erwartungen zum Ausgang der Wahl handeln. Kommt es zu einem Tausch, stellt sich der Marktwert der Partei ein. Da sich die Ausschüttungen am Wahltag nach dem tatsächlichen Wahlergebnis orientieren, besteht ein Anreiz für die HändlerInnen, ihr eingesetztes Geld so zu investieren, dass ihr Depot möglichst genau dem Wahlausgang ähnelt.

Gemäss Wahlstreet verlieren bei der Bundestagswahlen 2009 sowohl SDP wie CDU/CSU. Es legen die drei kleineren Parteien ausserhalb der grossen Koalition zu. Am meisten profitieren würde die FDP.

Bezüglich der Koalitionsaussage vermittelt Wahlstreet das Bild eines offenen Rennens. Der Kurswert für eine CDU/CSU-Koalition mit der FDP liegt bei 48.4, jener für eine Fortsetzung der bestehnden Koalition bei 49.4.

Unterstützt vom Schweizer Fernsehen realisiert auch www.wahlfieber.ch eine vegleichbare Wahlbörse. Deren HändlerInnen sind bezüglich der CDU/CSU noch skpetischer, rangieren aber die Linke höher. Koalitionsaussagen werden nicht gehandelt, doch reicht es letztlich nur für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen CDU/CSU und SDP.

Claude Longchamp

Umfragen in Deutschland: CDU/CSU mit FDP vorne

Dank Gewinnen für die FDP werden die bürgerlichen Parteien bei den deutschen Bundestagswahlen 2009 obsiegen. Das ist der Schluss aller Umfrageinstitute in Deutschland. Unterschiede ergeben sich vor allem bei der Grösse des Vorsprungs auf eine rot-rot-grüne Koalition.

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Neun Tage vor der deutschen Bundestagswahl liegen die CDU/CSU bei 36, die SPD bei 24 und die FDP bei 13 Prozent. Es folgen die Grünen und die Linke, die es auf je 11 Prozent der Wählenden bringen. Das jedenfalls ist die Zusammenfassung von www.wahlumfrage.de, einer unabhängigen Plattform für Wahlumfragen. Ausgewertet wurden hierzu die jüngsten Publikationen der sieben Institute, welche mit der Sonntagsfrage den Stand der Wahlabsichten zur anstehenden Bundestagswahl erforschen.

Gegenüber der Bundestagswahl 2005 bedeutet dies Verluste für die SPD, Gewinne für die FDP, die Grünen und beschränkt auch für die Linke. CDU/CSU könnte sich demnach halten.

Bei CDU/CSU und FDP sind die Schwankungsbreiten der Angaben aus den verschiedenen Instituten mit zwei Prozentpunkten gering. Bei den Grünen und der Linken sind es mit drei, bei der SPD dreieinhalb Prozentpunkte etwas. Das hat vor allem mit den Gewichtungsfaktoren der Institute zu tun, die angewendet werden, um den Entscheid der Unentschiedenen vorwegzunehmen. Die Institute arbeiten dabei mit individuellen Erfahrungsregeln, die im Detail nicht bekannt sind.

Auf die Koalitionsaussagen hat das kaum einen Einfluss. Alle sieben Institute sehen nämlich die CDU/CSU im Verbund mit der FDP vorne. Einzig bei Emnid ergibt sich ein Patt mit einer rot-rot-grünen Regierung. Derweil weisen die Forschungsgruppe Wahlen und die GMS Dr. Jung GmbH ein Verhältnis von rund 53:47 aus. Bei Forsa und info ist es bei 52:48 und bei Allensbach und dimap bei 51:49. Demnach kommt nur gemäss Emnid auch eine grosse Koalition in Frage.

Das Ganze bleibt allerdings ein wenig hypothetisch. Denn in der Endabrechnung zählen nur die Stimmen der Parteien im Bundestag. Direkte Schlüsse von Umfragen auf Fraktionsstärken sind noch nicht möglich. Dafür braucht es nämlich Angaben zu Direktmandaten, WählerInnen-Anteilen und allfälligen Ueberhangmandaten. Bundeskanzlerin Merkel kündigte an, auch mit nur eine Stimme Mehrheit im Bundestage eine Koalition ihrer CDU/CSU mit der FDP eingehen zu wollen.

Claude Longchamp

Steinmeier gewann Fernsehduell für sich, nicht aber für die SPD

Als Teilmodul der grossangelegten German Longitudinal Election Study untersuchen vier Politik- und KommunikationswissenschafterInnen das Fernsehduell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier (SPD). In ihrer ersten Publikation weniger als eine Woche danach vermitteln sie einen Punktevorsprung für Steinmeier, der sich in seiner Bewertung messen liess, bisher aber kaum auf die SPD abfärbte.

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Fieberkurve des Fernseh-Duells zwischen Merkel und Steinmeier

Torsten Faas veröffentlicht auf seinem lesenwerten Blog zum Wahlkampf erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung, die mittels Instant-Bewertungen eines Querschnitts von WählerInnen in Echtzeit erfolgten.

Den besten Moment hatte Steinmeier gemäss Fieberkurve zur Sendung in der 24. Minute als er sagte, “Wir müssen diese Lohnspirale nach unten aus mehreren Gründen aufhalten: weil hier auch der Aspekt von Würde von Arbeit bedroht ist. Wer den ganzen Tag arbeiten geht, muss von seinem Einkommen aus Arbeit auch leben können. Wirklich leben können.” Stark war er auch in seiner Schlussrede, als er in Abrenzung zur bürgerliche Koalition nochmals zur Einkommensfrage sprach: “Schwarz-Gelb wird bedeuten, dass eine Rückkehr zur Atomkraft stattfindet. Das ist nicht mein Weg. Das ist kein sozialdemokratischer Weg, ich steh dafür, dass jeder, der arbeitet, aus seinem Einkommen auch leben kann.”

Merkel triumphierte vor allem am Anfang. Nach 11. Minuten erhielt sie die Bestnote für das Statement zur globalen Finanzmarktaufsicht: “Und jetzt sage ich: wir brauchen Regeln für die internationalen Finanzmärkte und wir brauchen auch einen Export der Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft, davon bin ich zutiefst überzeugt.”

In der Bilanz spricht Faas von relativen Vorteilen für Herausforderer Steinmeier. Im gelang es seine Kanzler-Eignung von von 23 auf 29 Prozent zu steigern. Dabei legt er nicht zulasten von Kanzlerin Merkel zu, die bei 57 blieb. Es gelang ihm aber, bei Unschlüssigen einen Bewegung mit positiven Saldo zu seinen Gunsten auszulösen.

Weiter Auswertungen, vor allem aufgrund von Befragungen werden folgen. Unmittelbar kann man das vorläufige Ergebnis an den Trendumfragen zur Wahlabsicht verifizieren. Hier trifft zu, dass sich die CDU/CSU hält, während die SPD bisher nur minimal zunimmt. Der unmittelbare Effekt auf die Partei ist geringer als auf die Person.

Claude Longchamp

Ueber die positiven Zeichen des Entscheids für Burkhalter hinaus Bundesratswahlen neu denken

Drei Tage nach der Wahl von Bundesrat Didier Burkhalter legt der emeritierte Politologie-Professor Wolf Linder eine erste Diagnose zu den Bundesratswahlen der Gegenwart vor, und macht er im newsnetz-Interview auch Vorschläge, wie die bisherigen Strukturen und Prozesse weiter entwickelt werden müssten, um wieder stabile Regierungsverhältnisse zu garantieren.

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Wolf Linder, zwischen 1987 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhles für Schweizer Politik in der Bundesstadt Bern

Burkhalters Wahl habe drei positive Zeichen gesetzt, bilanziert Wolf Linder, in jungen Jahren SP-Politiker und Thurgauer Richter: Alle Parteien hätten betont, Konkordanz sei unverändert wichtig. Mehrere hätten auch transparent gemacht, wie sie stimmen werden, um Intrigen zu vermieden. Und der Bundesrat habe in seinem Herzen einen Anhänger der Regierungsreform mehr.

Der Verfasser des Standardwerkes “Schweizerische Demokratie” widerspricht der Auffassung, die Konkordanz sei heute brüchig, betont aber ihren anspruchsvollen Charakter. Jahrelang habe es nur die bürgerliche Konkordanz gegeben. Heute gäbe es wechselnde Mehrheiten aufgrund punktueller Absprachen im Bundesrat. Genau deshalb zieht Linder die arithmetische Konkordanz vor. Sie verhindere Diskriminierungen der politischen Ränder, weil sie sich parteipolitisch neutral auswirke. Dabei bevorzugt der Politologe die Parteistärken als Entscheidungsgrundlage, weil sie dem Demokratie-Prinzip verpflichtet seien.

Um den Handlungsspielraum des Parlaments nicht einzuschränken, wendet sich der emeritierte Berner Professor gegen jede Vorauswahl von KandidatInnen durch ihre Parteien. Ziel der Bestrebungen, Bundesratswahlen wieder berechnbarer zu machen, sei die gegenseitige Sitzgarantie bei freier Personenwahl. Das müsse letztlich auch für Abwahlen gelten.

Wolf Linder erwartet, dass eine Stabilisierung der parteipolitischen Beistzansprüche nicht auf der alten 2:2:2:1-Formel zustande kommt, sondern erst dann, wenn die erstarkten Grünen ihren Platz im Bundesrat gefunden haben. Aus seiner Sicht werde das zu Lasten der Mitte-Parteien gehen. Darüber hinaus schliesst er nicht aus, dass dereinst auch die SVP drei der sieben Sitze beanspruche könnte. Die Ansprüche von Parteien, die sich aus WählerInnen-Gewinnen ergeben, müssten allerdings nicht sofort eingelöst werden, sondern erst, wenn die Parteistärken über mehr als eine Wahl hinaus konsolidiert seien.

Bezogen auf die Regierungsreform fordert Linder eine aktivere Rolle des Bundespräsidenten. Verbessert werden müsse die Kommunikation, Verstärkung brauche auch die Zusammenarbeit. Die Rolle des Vorsitzenden werde inskünftig sein, nicht selber Aussenpolitik zu betreiben, sondern die vielfach mit dem Ausland verbundenen Geschäfte aller Departement besser zu koordinieren. Das Hauptproblem ortet der jüngste Pensionär unter den Politologen im Mangel an Zeit, um aus der departementalen Perspektive heraus eine kohärente Gesamtpolitik des Bundesrates zu entwickeln.

Wolf Linder entwickelt damit über die ersten Kommentare hinaus eine ausgeglichene Gesamtschau auf den Stand und die Perspektiven von Bundesratswahlen. Er ist und bleibt ein Anhänger der (grossen) Konkordanz als System und der wechselnden Mehrheiten, die flexible Politik ermöglichen. Polarisierungen steht er nicht ablehnend gegenüber, erwartet aber eine höhere Koordinationsleistung. Noch nie so pointiert gehört habe ich die Forderung, die Bundesversammlung in ihrer Personenwahl (ausser hinsichtlich des selbstredenden Sprachenproporzes) gar nicht einzuschränken.

Claude Longchamp

Die SVP bremst die BDP aus

Mit den Nominationen für den Berner Regierungsrat ist Einiges geklärt worden. Bei den Empfehlungen bleibt aber unverändert Vieles unklar. Das wirft auch ein Licht auf die Chancen der BDP, sich auf kantonaler wie nationaler Ebene als Regierungspartei zu halten.

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Nationalrat Rudolf Joder, Parteipräsident der kantonalbernischen SVP, hält nichts von einer gemeinsamen bürgerlichen Unterstützung für die BDP

Rotgrün besetzt im Kanton Bern derzeit vier der sieben Regierungssitze; geht es nach dem Willen der SP und der Grünen soll das auch in Zukunft so bleiben. Auf bürgerlicher erhebt die SVP als grösste Partei im rechten Lager Anspruch auf zwei Sitze; gleiches will die FDP. Ds wäre ein Plus von je einem Sitz. Die BDP schliesslich möchte ihren Sitz behalten, den sie durch Parteiübertritt geerbt hat.

Im schlechtesten Fall machen die drei bürgerlichen Parteien drei Sitze im Berner Regierungsrat, im besten fünf. Vier sind nötig, um die Wende einzuleiten, welche die Wirtschaftsverbände erwarten.

Ganz in diesem Sinne ist vor Kurzem die FDP vorstellig geworden. Wenn die anderen Parteien Gegenrecht halten, wolle sie alle bürgerlichen KandidatInnen zur Wahl empfehlen. Die BDP schloss sich dem postwendend an. Denn die beiden kleineren bürgerlichen Parteien können davon nur profitieren.

Nun lässt die SVP des Kantons Bern selbstbewusst verlautet, dass sie nicht mitmacht. Ein Support für die FDP reiche für die Wende. Die BDP-Kandidatin brauche es hierzu nicht. Ihre Partei habe sich vor Jahresfrist von der SVP abgespalten; seither politisiere sie in Konkurrenz zur SVP.

Die SVP bleibt damit sich selber treu. Denn nach ihrer Leseart ist die BDP nur ein Zwischenspiel – entstanden durch die Wirren nach der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat. Sie soll so schnell wie möglich wieder von der Bildfläche verschwinden: als Erstes im Regierungsrat, als Zweites im Ständerat und danach auch in den kantonalen und nationalen Volksvertretungen.

Das hier aufgegriffene Thema ist nicht nur eine innerbernische Angelegenheit. Denn nächsten Jahr stehen für die BDP entscheidende kantonale Wahlen auch ïn Fraubünden und Glarus an. Da wird sich zeigen, wie stark die jüngste politische Gruppierung in der schweizerischen Parteienlandschaft ist. Umfragen sprechen von 3 bis 4 Prozent WählerInnen-Anteil. Ohne eine sichtbare Steigerung wird es 2011 für die BDP eng, um den Anspruch der Partei auf den Sitz von Evelyne Schlumpf im Bundesrat verteidigen zu können. Enger, als der Partei lieb sein kann.

Claude Longchamp

Von der Theorie zur Praxis und zurück: meine Vorlesung zur Wahlforschung

Heute beginnt meine Vorlesung an der Universität Zürich zur “Wahlforschung in Theorie, Empirie und Praxis“. Ein Glanzlicht während der Vorbereitung hierzu sei hier nochmals angezündet.

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Richard Lau, Psychologe und Professor für Politikwissenschaft, der eine neue Theorie des Wählens entwickelt hat.

Während meinen Vorbereitungen entdeckte ich eine Theorie, die mir so nicht bekannt war. Publiziert wurde sie vom Psychologen Richard R. Lau, Inhaber eines politologischen Lehrstuhls an der Schule für Künste und Wissenschaft der Ruthgers Universität in der Vereinigten Staat. Gemeinsam mit seinem Schüler David P. Redlawsk fasst seine Ueberlegungen aus 25 Jahren emprischer Forschung mit Blick auf die amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 2008 in einem von der Internationalen Vereinigung für politische Psychologie preisgekränten Buch zusammen.

Ausgangspunkt der so dargestellte Theorie sind Beobachtungen zu simulierten Kandidatenauswahlen, die 4 Entscheidungsarten nahelegen:

Die wenigsten verarbeiteten alle verfügbaren Informationen, um dann die Bewerbung auszuwählen, die ihren Präferenzen am nächsten kommt. Doch genau das postulierte die Rational-Choice-Theorie vor rund 50 Jahren. Häufiger nachweisbar sind drei andere Vorgehensweisen. Eine davon besteht darin, KandidatInnen zu vergleichen und sich anhand der Uebereinstimmung zu Grundwerten festzulegen, die man in der Regel in der frühen politischen Sozialisation via Eltern, Schulen oder Medien entwickelt hat. Eine zweite setzt vor allem auf Effizienz. Die vorhandene Informationen hinsichtlich der Charakteristiken ausgewählt, die Bewertungen zu den unmittelbaren Problemen der Wählenden im Moment der Entscheidung machen. Drittens gibt es Alltagserfahrungen, die in früheren, vergleichbaren Situationen zu Entscheidungen geführt haben, die bisher nicht bereut wurden. Diese Schematas lassen schon bei geringer Information intuitive Entscheidungen zu.

Nach den Beobachtung von Richard Lau können nur einzelnen Entscheidungen, nicht aber einzelnen Menschen klassiert werden. Denn Lebensgeschichten, bisher gemachte Erfahrungen und Interessenlagen können ebenso zu Veränderungen der Entscheidungsmodi führen, wie die Variantion von Wahlen, Parteien und KandidatInnen.

Das Buch hat mich aus drei Gründen angeregt: Erstens, weil hier nicht der klassischen Frage der Wahlforschung nachgegangen wird, wer wen wählt, vielmehr der Prozess der Entscheidung selber interessiert. Zweitens, weil das einzigartige Modell der Entscheidung, wie es die rational-choice Theorie meist unterstellt, empirisch hinterfragt und zu einer umfassenderen Entscheidungstheorie weiterentwickelt wurde. Und drittens, weil politische Entscheidungen, die davon abweichen, nicht zwingend identisch, aber auch nicht einfach unkorrekt ausfallen müssen, denn BürgerInnen sind aufgrund von Erfahrung und Intuition selbst unter knapper Zeit, die sie für Entscheidungen aufwenden, in der Lage, (einigermassen) kohärente Entscheidungen zu treffen.

Selbstredend wird nicht nur diese Studie in der Vorlesung diskutiert. Denn es geht um eine Uebersicht zu allen vorherrschenden Theorie des Wählens, um die Frage, wie diese aufgrund von Fakten geprüft, kritisiert und weiterentwickelt werden können, und was Forschung in der Praxis als PolitikwissenschafterIn bringt, sei es, wenn man Parteien berät, Kampagnen plant, für Medien Analysen verfasst oder bloggend Vorträge hält. Werde laufend berichten …

Claude Longchamp

Richard R. Lau, David P. Redlawsk: How Voter Decide. Information Processing during Election Campaign, Cambridge 2006

Wider den Mythos der “Nacht der langen Messer”

Insbesondere seit der Bundesratswahlen von 1983 gibt es in der Schweizer Politik den Mythos der “Nacht der langen Messer“. Gemeint ist damit, dass am Vorabend einer Bundesratswahl mit einer aus dem Hut gezuaberte Ueberraschung noch einmal alles umgestossen werden kann. Das beschert den einschlägigen Bars in Bern viele Gäste, denn “ganz Politbern” trifft sich, um dabei zu sein, wenn es geschieht, und die Medien berichten live in den Abendsendungen vom Ort des Geschehen.

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vlnr: Claude Longchamp, Hubert Mooser, Reto Hunziker und Roman Weber, die letzten drei von der Berner Zeitung (Foto: Otmar von Matt)

Nun eröffnen die Blogs die Möglichkeiten, die Szenarie sachlich zu erweitern. Die “Berner Zeitung” schickt zwischenzeitlich drei Blogger unterwegs. Und auch ich habe vor einem Jahr angefangen, meine Blogs (diesen hier und www.stadtwanderer.ch) hierfür einzusetzen. Das kann im small talk enden, oder in der analyse.

Das hat zwischenzeitlich auch die Printausgabe der BZ gemerkt. Denn nach den Fraktionssitzungen vom Dienstag und den Erklärungen, die danach zu Mehrheits- oder Stimmverhältnissen gemacht worden sind, konnte man die Ausgangslagen, Entwicklungschancen und Ausgänge der Bundesratswahl ganz gut abschätzen. So entschied ich mich, statt des vorgesehenen Stimmungsberichtes aus dem Bellevue kurzfristige das wichtigste Szenario zu platzieren. Ueberraschungen waren zwar nicht auszuschliessen, erschienen aber wenig wahrscheinlich.

Den überraschten Bloggerkollegen der BZ, die ich unterwegs zweimal traf, erzählte ich davon, und sie verbreiteten meine Anaylse (Version 1830, Version 2400) sofort über ihren Kanal.

In der Tat lief der Mittwochmorgen weitgehend so ab. Nachdem sich Dick Marty empfahl, war definitiv es klar. Die FDP hatte den Schlüssel selber in der Hand, zu entscheiden, wer in den Schlussgang kommt, und hatte da auch den Trumpf in der Hand. Insbesondere war auch klar, dass die von Medien verbreitete Spannungsmache, alles sei offen und die SVP oder die SP hätte es der Hand, die Wahl zu entscheiden, als Mythen entlarvt waren. Die Strategen der FDP wussten schon lange, dass dem nicht so ist, und jene der CVP hatten auch begriffen, was es geschlagen hatte.

Die BZ sieht da in ihrem heutigen Kommentar genau so. “Der Politologe hatte damit (“FDP entscheidend”) ebenso recht, wie mit seiner Aussage, dass wenn Burkhalter im Schlussgang sei, dies Schwaller genau jene Stimmen kosten könne, die es ausmachten, wer Bundesrat wird.”

Danke für die Blumen, und für die Bekanntmachung meines Blogs, der seit dieser Nacht Höheflüge bei den BenutzerInnen-Zahlen kennt …

Claude Longchamp

Erstanalyse des Wahlergebnisses bei den Bundesratswahlen

Die Wahl ist vorbei. Didier Burkhalter ist der neue Bundesrat. Die “FDP.Die Liberalen” behalten ihren zweiten Sitz in der Bundesregierung. Gestärkt worden ist die arithmetische Konkordanz bei Bundesratswahlen aufgrund der WählerInnen-Anteile.

Wahrscheinlichste Verteiliung der Stimmen im 4. Wahlgang bei den BR-Wahlen vom 16. September 2009
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Im alles entscheidenden vierten Wahlgang machte Didier Burkhalter 129 der 240 gültigen Stimmen. Sein Herausforderer, der CVP-Ständerat Urs Schwaller vereinigte 106 ParlamentarierInnen hinter sich. 5 Stimmen waren leer, 1 ungültig.

Natürlich ist die Bundesratswahl in der Schweiz geheim, sodass man das letztlich nie wissen wird. Immerhin, im Vorfeld der Wahlen wurde recht offen über Präferenzen gesprochen. Zudem ergab sich beim Ergebnis, bei der Schlusspaarung und beim Verlauf in etwa das, was man als Hauptszenario erwarten konnte und sich vor allem gestern Abend nach den Erklärungen der Fraktionen abzeichnete.

Demnach erscheinen die folgenden Verhältnisse plausibel. Didier Burkhalter machte im entscheidenden Umgang wohl alle 47 Stimmen seiner Fraktion. Er wurde von einer Ueberzahl der SVP- resp. BDP-VertreterInnen gewählt. Zirka 60 resp. ungefähr 4 dürften es aus diesen Fraktionen gewesen sein. Das macht dann 111 Stimmen, sodass der gewählte FDP-Kandidat wohl etwa 18 Stimmen von der SP resp. den Grünen bekommen hat. Das entspricht einem Viertel der beiden Fraktionen.

Theoretisch hätte Urs Schwaller auf 125 Stimmen kommen können, hätten alle aus seiner Fraktionen, aber auch von der SP und den Grünen für ihn votiert. Zudem wären noch 2 Stimmen aus der BDP denkbar gewesen. Schliesslich lauteten 106 gültige Wahlzettel auf seinen Namen. Das spricht dafür, dass er 21 der möglichen Stimmen nicht gemacht hat. Die meisten linken Stimmen davon dürften an Burkhalter gegegangen sein, einzelne können sich auch unter den Ungültigen befinden.

Gestimmt wurde damit in erster Linie nach parteipolitischen Ueberlegungen. Doch reicht diese Hypothese nicht, um alles zu erklären. Denn sonst hätte Urs Schwaller gewinnen müssen. Demnach machte die Sprachenfrage, die zweite relevante Hypothese zur Erklärung des Wahlverhaltens die Differenz Sie verhindert eine einheitliche Sammlung hinter Schwaller, dem man attestierte, die Romandie vorübergehend vertreten zu können, selber aber kein Romand zu sein. Das die Linke schliesslich teilweise gespalten agierte, hat wohl auch damit zu tun, dass die nächsten oder übernächsten Bundesratswahlen ihren Schatten warfen.

Die Konkordanz, wie sie im Halbrund des Parlamentes diesmal von rechts her definiert worden ist, hat sich durchgesetzt. Die Parteistärken sind das Kriterium, das über Ansprüche entscheidet. Respektiert wurden diesmal auch die Nominationen der Parteien, wobei das durchaus risikoreichere Angebot mit zwei KandidatInnen mindestens für Parteien nahe dem Zentrum von Vorteil sein kann, weil es der Dynamik von Bundesratswahlen in der Schweiz besser Rechnung trägt als eindeutige Vorgaben einer Fraktion.

Claude Longchamp