Von der Theorie zur Praxis und zurück: meine Vorlesung zur Wahlforschung

Heute beginnt meine Vorlesung an der Universität Zürich zur “Wahlforschung in Theorie, Empirie und Praxis“. Ein Glanzlicht während der Vorbereitung hierzu sei hier nochmals angezündet.

photo
Richard Lau, Psychologe und Professor für Politikwissenschaft, der eine neue Theorie des Wählens entwickelt hat.

Während meinen Vorbereitungen entdeckte ich eine Theorie, die mir so nicht bekannt war. Publiziert wurde sie vom Psychologen Richard R. Lau, Inhaber eines politologischen Lehrstuhls an der Schule für Künste und Wissenschaft der Ruthgers Universität in der Vereinigten Staat. Gemeinsam mit seinem Schüler David P. Redlawsk fasst seine Ueberlegungen aus 25 Jahren emprischer Forschung mit Blick auf die amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 2008 in einem von der Internationalen Vereinigung für politische Psychologie preisgekränten Buch zusammen.

Ausgangspunkt der so dargestellte Theorie sind Beobachtungen zu simulierten Kandidatenauswahlen, die 4 Entscheidungsarten nahelegen:

Die wenigsten verarbeiteten alle verfügbaren Informationen, um dann die Bewerbung auszuwählen, die ihren Präferenzen am nächsten kommt. Doch genau das postulierte die Rational-Choice-Theorie vor rund 50 Jahren. Häufiger nachweisbar sind drei andere Vorgehensweisen. Eine davon besteht darin, KandidatInnen zu vergleichen und sich anhand der Uebereinstimmung zu Grundwerten festzulegen, die man in der Regel in der frühen politischen Sozialisation via Eltern, Schulen oder Medien entwickelt hat. Eine zweite setzt vor allem auf Effizienz. Die vorhandene Informationen hinsichtlich der Charakteristiken ausgewählt, die Bewertungen zu den unmittelbaren Problemen der Wählenden im Moment der Entscheidung machen. Drittens gibt es Alltagserfahrungen, die in früheren, vergleichbaren Situationen zu Entscheidungen geführt haben, die bisher nicht bereut wurden. Diese Schematas lassen schon bei geringer Information intuitive Entscheidungen zu.

Nach den Beobachtung von Richard Lau können nur einzelnen Entscheidungen, nicht aber einzelnen Menschen klassiert werden. Denn Lebensgeschichten, bisher gemachte Erfahrungen und Interessenlagen können ebenso zu Veränderungen der Entscheidungsmodi führen, wie die Variantion von Wahlen, Parteien und KandidatInnen.

Das Buch hat mich aus drei Gründen angeregt: Erstens, weil hier nicht der klassischen Frage der Wahlforschung nachgegangen wird, wer wen wählt, vielmehr der Prozess der Entscheidung selber interessiert. Zweitens, weil das einzigartige Modell der Entscheidung, wie es die rational-choice Theorie meist unterstellt, empirisch hinterfragt und zu einer umfassenderen Entscheidungstheorie weiterentwickelt wurde. Und drittens, weil politische Entscheidungen, die davon abweichen, nicht zwingend identisch, aber auch nicht einfach unkorrekt ausfallen müssen, denn BürgerInnen sind aufgrund von Erfahrung und Intuition selbst unter knapper Zeit, die sie für Entscheidungen aufwenden, in der Lage, (einigermassen) kohärente Entscheidungen zu treffen.

Selbstredend wird nicht nur diese Studie in der Vorlesung diskutiert. Denn es geht um eine Uebersicht zu allen vorherrschenden Theorie des Wählens, um die Frage, wie diese aufgrund von Fakten geprüft, kritisiert und weiterentwickelt werden können, und was Forschung in der Praxis als PolitikwissenschafterIn bringt, sei es, wenn man Parteien berät, Kampagnen plant, für Medien Analysen verfasst oder bloggend Vorträge hält. Werde laufend berichten …

Claude Longchamp

Richard R. Lau, David P. Redlawsk: How Voter Decide. Information Processing during Election Campaign, Cambridge 2006