Das Hoffen auf den entscheidenden Schlag

Angesichts der amerikanischen Finanzkrise waren die Erwartungen an die TV-Debatte zwischen Barack Obama und John McCain, die sich diese Nacht abspielte, hoch. Man erwartete, das mit diesem ersten Höhepunkt im amerikanischen Wahlkampf auch eine erste Vorentscheidung gefällt werde. Zwischenzeitlich ist die Stimmung gedämpfter: Unentschieden lautet das fast schon enttäuschende Verdikt der Auguren. Also waren wir Politikkonsumenten auf den entscheidenden Schlag in der nächsten Runde!

TV-Duelle und public viewing: Politische Entscheidung als sportlichere Wettkampf
TV-Duelle und public viewing: Politische Entscheidung als sportlichere Wettkampf


Position 1: Medien ohne Einfluss

Paul Lazarsfeld prägte mit seiner soziologisch inspirierten Wahlstudie “The people’s choice”, die 1944 erschien, den ersten Klassiker, der der bis heute gängigen Pole in der wissenschaftlichen Deutungen von Medien und Wahlen bestimmte. Typisch für seine Antwort ist die sog. Verstärker-These. Demnach üben die Massenmedien keinen genuin verändernden Einfluss auf die Wahlentscheidung aus, denn ihre Botschaften prallen an bestehenden Einstellung ab, wenn sie diese nicht bestätigen. Von meinungsbildender Wirkung bleibt da nicht viel übrig. Entsprechend ist nicht zu erwarten, dass sich diese Nacht etwas Wesentliches im amerikanischen Wahl verändert hätte. Vielmehr gilt: Demokraten bewerten Obama besser, und für Republikaner ist McCain der geeignetere Kandidat.

Position 2: Medienbild bestimmt Politikbild

1980 erschien unter dem Titel “The mass media election” die Studie von Thomas E. Patterson, die bis heute den klassischen Gegenpol zu Lazarsfeld und seinen Mitstreitern bildet. Anhand einer Untersuchung der Präsidentschaftswahlen von 1976 kam er zu folgenden Befunden und Schlüssen:

Erstens, die Bedeutung der Massenmedien liegt darin, dass sie mit ihrer Auswahl die für die WählerInnen relevante Wahrnehmung der Politik prägen.
Und zweitens, die Wahlentscheidungen fallen unterschiedlich aus, je nachdem wie die massenmediale Informationsauswahl ausfällt.

Das wichtigste Argument, das für einen Medieneinfluss spricht, ist die medienbestimmten Fokussierung auf kontroverse Themen mit klarer Pro- und Kontra-Struktur: Wer polarisiert, hat einen Vorteil. Wer indessen integriert, verliert bereits hier an Terrain. Denn Massenmedien neigen nach Patterson dazu, aus Spannungsgründen Politik als Spiel zu inszenieren, als Wettkampf bei dem es Helden und Versager, Gute und Böse, Gewinner und Verlierer gibt.

Kommentar

Nur schon die allgemeine Einschätzung von Patterson zu Medien und Politik erhellt unsere Erwartungshaltung an die amerikanischen TV-Duelle, die zwischenzeitlich weltweit die Medienberichterstattung bei Wahlen bestimmen. Es geht bei öffentlichen politischen Debatte nicht mehr darum, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Egal um was es geht, eine Politik der Verständigung ist massenmedial gar nicht mehr gefragt. Vielmehr sucht man wie fixiert nach den berühmten 10 Unterschieden. Bei Wahlen, die stets auch Auswahlen sind, kann man damit auch leben. Das Problem aber besteht darin, dass nicht mehr die politischen Inhalte bestimmend sind, sondern meist nur noch die medial inszenierte Persönlichkeiten der KandidatInnen.

Nach Patterson machte es einen Unterschied aus, ob man sich ausschliesslich über das Fernsehen oder im Mix von TV und Printmedien informiert. Das Fernsehen reicht weiter in die Wählerschaft, und es ist bei WählerInnen mit geringerem politischem Interesse die einzige zentrale Informationsquelle. Demgegenüber sind Printmedien bei die interessierteren WählerInnen wichtiger, und die Zeitungen können auch informativer sein.

Wenn man sich die heutigem Realtionen auf die gestrige TV-Debatte ansieht, kann man auch Zweifel an dieser Einschätzung haben. Die hohen Erwartungen an das Duell seien nicht eingelöst worden hört man da. Beide Kandidaten seien bezüglich der Finanzkrise vorsichtig aufgetreten. Und keinem sei es gelungen, sich wirklich vom anderen zu unterscheiden. So bleibt der sichtbarste Gegensatz bestehen: Obama und McCain vertreten je eine andere Generation.

Unentschieden war denn auch das Urteil der meisten Kommentatoren. Das wohl auf den entscheidenden Schlag bei einer der beiden kommenden Sendungen, den wir PolitikkonsumentInnen dannzumal hoffentlich alle gesehen haben werden.

Claude Longchamp

Quelle:
Paul Lazarsfeld, Bernard Berelson, Hazel Gaudet: The people’s choice. How the voter makes up his mind in a presidential campaign. New York 1944.
Thomas E. Patterson: The mass media election. How Americans choose their president. New York 1980.

Wählerprozent und Elektorenstimmen

“Obama überholt McCain”, “Palin-Effekt wirkt”, “McCain in der Defensive” oder “Finanzkrise lässt Obama siegen”. Dies und ähnliches bekam in den letzten Tagen über die amerikanischen Präsidentschaftwahlen zu hören. Die Nominationsversammlungen der Parteien liegen zurück, der Wahlkampft ist in vollem Gange, und die Medien veröffentlichen im Tagesrhythmus Wahlumfragen. Doch was sagt das alles aus?

Darstellung der demokratischen und republikanisch stimmenden Staaten bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen, gewichtet nach Bevölkerungsstärke.
Darstellung der demokratischen und republikanisch stimmenden Staaten bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen, gewichtet nach Bevölkerungsstärke.

Von der Hektik sollte man sich indessen nicht zu stark beeindrucken lassen. Zwar finden die Wahlen in den ganzen Vereinigten Staaten statt, doch gibt jeder Bundesstaat seine Stimmen geschlossen nur für einen der beiden Bewerber ab. Man erinnert sich: Al Gore kam im Jahr 2000 auf 49 Prozent der Stimmen; er lag damals vor George W. Bush. Doch dieser erhielt 4 Elektorenstimmen mehr als sein Kontrahent und gewann so die damaligen Wahlen.

Um zum amerikanischen Präsidenten gewählt zu werden, braucht es 270 Elektoren. Das ist eins mehr als die Hälfte der Abgeordenten im Repräsentantenhaus und im Senat zusammen. Denn jeder Bundesstat hat soviele Elektoren wie Vertreter in Washington.

Zwischenzeitlich gibt es zahlreiche Uebersichten über die Umfragen, die auf der Ebene der Bundesstaaten durchgeführt wurden. Sie alle systematisieren entweder die eigenen oder alle Umfragen und klassieren die Staaten aufgrund der Wahrscheinlichkeit, dass demokratisch oder republikanisch stimmen werden.

Zwar differieren auch hier die Plattformen in den genauen Zahlen. Das hängt damit zusammen, wie man die Staaten mit erwartetem knappen Ausgang klassiert. Doch eines ist allen Uebersichten gemeinsam: Es führt Barack Obama. Nachgeschlagen werden können die Uebersichten beispielsweise auf wikipedia.

Claude Longchamp

PS:
So berechtigt solche Uebersichten für die USA sind, so wenig sagen sie in der Schweiz aus. Zwar finden die schweizerischen Parlamentswahlen auch in den Kantonen statt, doch bei der Bestimmung der Parteistärken zu den Nationalratswahlen kommt das Proprozsystem zum Tragen, das sich erheblich vom Wahlverfahren in den USA unterscheidet.

Politische Gene statt politische Sozialisation?

Gibt es Gene, die politische Partizipation steuern? Mit dieser provokativen Frage versuchen gegenwärtig junge Forscher der Universität San Diego die Politikwissenschaft neu aufzumischen. Fragezeichen sind erlaubt, wenn man nicht nur auf Formeln und Grafiken schaut, sondern das Umfeld der Untersuchungen miteinbezieht.

Genetic Variation in Political Participation“, lautet der ungewöhnliche Titel eines Aufsatzes, der jüngst in der American Political Science Review” (2/102) erschienen ist. Das lässt aufhorchen: Prestigeträchtiges Journal und die renommierte Universität von San Diego sprechen schon mal für einflussreiches Umfeld. Eine Kritik des Zeitgeistes lässt aber auch verschiedene Zweifel aufkommen an der ersten Wirkung des Artikels aufkommen.

Kein neuer Befund
Alles andere als neu ist, dass sich eine hohe Uebereinstimmung in der politischen Partizipation zwischen der Eltern- und der Kindergeneration finden lässt. Gerade in den Vereinigten Staaten sind seit 50 Jahren unzählige Studien vorgelegt worden, wonach Jugendliche aus unpolitischen Haushalten vermehrt dazu neigen, selber unpolitisch zu werden und umgekehrt.

Die bisher zentrale Erklärung dafür griff auf sozialwissenschaftliche Konzepte der 70er Jahre zurück: die Sozialisation. Wenn man so will: auf die Vergesellschaftung des Menschen, die durch Vorbilder in Medien, Kulturen von Schulen, Nachahmung von Eltern und Vergleiche mit Peers entsteht. Umfeld-Faktoren haben seither ihren festen Stellenwert in der soziologisch ausgerichteten Erklärung politischen Verhaltens, die sich von einer Generation auf die andere überträgt.

James H. Frowler, Laura A. Baker und Christopher T. Dawes deuten das Neue anders: “Our results show participation ist heritable”. Da geht es nicht mehr über soziale Ueberträgung, da spricht man schlicht und einfach vom Vererbung.

Ihr Hauptargument beziehen die Politikwissenschafter auf Experimente in Los Angeles mit ein- und zweieiigen Zwillingen, die man um politische Fragestellungen erweitert hat. Demnach kann man einen signifikanten Anteil des politischen Verhaltens (nicht der politischen Entscheidungen) bei Wahlen auf bestimmte Genvariationen zurückführen. Kausal ist das zwar nicht belegt, statistisch aber schon. Vermutet wird nicht ein einzelnes “Politik”-Gen, jedoch eine Reihe von Genen, die das Verhalten mitbestimmen.

Wäre das alles mehr als statistische Evidenz, wäre es Aufsehen erregend: Der freie Wille, der politischem Verhalten zugrunde liegt, wäre nicht nur relativiert, wie das Studien zu institutionellen Rahmenbedingungen, kulturellen Faktoren, gesellschaftlichen Einflüssen und psychischen Dispositionen schon lange annehmen. Vielmehr würde er den genetischen Determinismus ersetzt. Das würde die abendländische Philosophie zutiefst erschüttern, denn Politik wäre nicht mehr wie seit Aristoteles ein Produkt des sozialen Wesens. Sie wäre nach den San-Diego-Boys und -Girls nur noch eine bstimmbare Folge vererbter biologischer Funktionen.

Eine distanzierte Analyse
Ich will das alles gar nicht richtig ernst nehmen! Nicht nur, weil ich eine andere Forschungsrichtung vertrete. Ich bin vielmehr überzeugt, dass man auch in Zukunft aus Speichelproben weniger über Wahlbeteiligungen herauslesen wird als aus Umfrageergebnissen bei Inidividuen und Vergleichen zwischen Wahlsystemen. Ich sehe in den Schlagzeilen aus der amerikanischen Forschung vor allem ein forschungsimmanentes Problem: Wichtige Geldgeber aus der nationalen Wissenschaftsförderung sponsoren immer wieder ausgefallene Ideen. Das belebt die Grundlagenforschung zurecht resp. prägt die wissenschaftlichen Journals. Das kann zu neuen Erkenntnissen jenseits einspielter Denkmuster führen, muss es aber nicht! Es können auch wissenschaftliche Moden sein, die weniger aus der Empirie als aus dem Zeitgeist abgeleitet sind. Und genau dahin zielt meine Kritik.

Ich will die Testergebnisse per se gar nicht bestreiten. Ueber ihre Relevanz kann man geteilter Meinung sein. Ich sehe vor allem eine Vermengung von theoretischen Ueberlegungen. In der Diskussion der emprischen Befunden ist man nämlich viel vorsichtiger als im Lead zum genannten Artikel. Da heisst es dann typischerweise: “The results presented here suggest that there is some (possibly large) set of genes whose expression – in combination with environmental factors – regulates political participation.” Weicher kann man es gar nicht mehr sagen!

Politik: ein soziales oder als biologisches Phänomen?
Denn damit sind wir trotz aufwendiger Datenbeschaffungen mit neuen Experimenten wieder bei den bekannten Umfeldeinflüssen. Sie haben die Modernisierung der politischen System seit den bürgerlichen Revolutionen als Voraussetzungen der politischen Breitenbeteiligung gesehen. Sie haben gezeigt, dass diese mit einer Vielzahl sozio-kultureller und sozio-ökonomischer Faktoren entsteht. Und sie haben uns ausgeführt, dass es in diesem Uebergang bestimmte Einstellungs- und Verhaltens-Inidikatoren gibt, die ihrerseits schicht-, generations- und geschlechtsspezifisch verteilt sind.

Wenn man nun den ganzen Vorspann weglässt, um ihn undiskutiert mit der generellen Evolution des Menschen zu ersetzen, wenn man gleichzeitig das Politische im Menschen negiert, und das auf die Genstrukturen reduzieren will, dann spiegelt das meines Erachtens mehr den Zeitgeist als die Daten. Den Menschen auf seine Gene beschränken zu wollen, ist eine in die Naturwissenschaften durchaus vorherrschende Sichtweise, die sich bei der Untersuchung physischer Prozesse bewährt hat. Ob sie aber auch die Psyche erklärt, ist, mit Verlauf, mehr als umstritten.

Gerade in den Sozialwissenschaften, die versuchen, sich methodisch an die Naturwissenschaft anzulehnen ohne deren Philosophie zu übernehmen, muss man hier Einspruch erheben. Und man muss einmal mehr Emil Durkheim erinnern. Demnach sind soziale Erklärungen des Sozialen immer vorzuziehen, um nicht erneut in die Fehler der frühen Sozialwissenschaften zu verfallen, die sich im Gefolge der Positivisten des 19. Jahrhunderts verbreitet hatten.

Claude Longchamp

BDP repräsentiert 2-3 Prozent der gewählten PolitikerInnen

Wie stark ist die neu entstanden Bürgerlich-demokratische Partei?

Aus WählerInnen-Sicht weiss man das noch nicht. Man kann es aber aufgrund der Stärken in den kantonalen resp. nationalen Parlamenten und Regierung schätzen.

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um ihre wiederwahl muss die neu gegründete bdp kämpfen: bundesrätin eveline widmer-schlumpf

. Bundesrat (Regierung/national): (voraussichtlich) 2 VertreterInnen, entspricht 28,6 Prozent
. Ständerat (Parlament/national): 1 Vertreter, entspricht 2,3 Prozent
. Nationalrat (Parlament/national): 4 VertreterInnen, entspricht 2,0 Prozent
. Regierungsräte (Regierung/kantonal): 4 VertreterInnen, entspricht (gewichtet) 2,9 Prozent
. Kantonsräte (Parlament/kantonal): 57 VertreterInnen, entspricht (gewichtet) 2,1 Prozent

Quelle: eigene Berechnungen / NZZ 26.6.2008

Man kann es einfach zusammenfassen: Ausser im Bundesrat, wo die BDP voraussichtlich das ganze Erbe der SVP, die sich in die Opposition verabschiedet hat, antreten kann, repräsentiert die BDP national hochgerechnet minimal 2 maximal 3 Prozent der gewählten PolitikerInnen. Sie ist damit eindeutig kleiner als die vier grossen Parteien SVP, SP, FDP und CVP. Sie kommt auf einen Wert, der mit jenem der LP und der EVP vergleichbar ist.

Ohne eine Ausdehung in andere Kantone ist man von der Aussicht, national auf 10 Prozent zu kommen und damit den Anspruch zu haben, in der arithmetischen Konkordanz eine Regierungspartei auf nationaler Ebene zu sein, recht weit entfernt.

Es bliebt abzuwarten, was herauskommt, wenn auch nationale WählerInnen-Befragung vorliegen. Als Beispiel: Die Grünliberalen, die 2007 in drei Kantonen für den Nationalrat kandidierten, deckten damit rund die Hälfte des Potenzials ab, das sie gemäss Wahlbarometer national hatten.

Claude Longchamp

Ein erstes Bild des jüngsten SVP-Wahlsiege im Kanton St. Gallen (Rückblick auf heute, Teil VI)

(zoon politicon) Letzten Freitag war in meiner Lehrveranstaltung an der St. Galler Universität Prüfungstag, nicht nur für die Studieren, sondern auch für mich. Ich glaube, alle können zufrieden sein.

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Visualisierung des SVP-Wahlerfolges im Kanton St. Gallen nach Gemeinden (Quelle: Rüegger)


Drei Gruppenarbeiten aus dem Kurs “Empirische Politikforschung in der Praxis”

Präsentiert und diskutiert wurden die rechtzeitig fertiggestellt Gruppenarbeiten. Drei davon beschäftigten sich direkt oder indirekt mit dem Wahlsieg der SVP bei den Wahlen 2008 im Kanton St. Gallen. Der war ja spektakulär. Er bracht der aufsteigenden Partei eine klaren Sieg im Parlament und den erstmaligen Einzug in die Regierung. Mit Stephan Kölliker, dem neuen Erziehungsdirektor im Kanton St. Gallen, weiss die SVP neu auch einen der ihren an der Spitze der renommierten Wirtschaftshochschule HSG.

Weder beschleunigtes, noch verlangsamtes WählerInnen-Wachstum
Die erste Arbeit, die sich mit dem Wahlsieg der SVP bei den kantonalen Wahlen (und Schwyz) beschäftigte, ging der Frage nach, ob es einen speziellen Blocher-Effekt gibt. Sie überprüfte dies anhang kantonaler und nationaler Trends, und sie verwendete drei Interpretationsmöglichkeiten bon Wachstumsraten: Erstens, der Anstieg der SVP im Kanton St. Gallen entspricht der bisherigen Entwicklung der Parteien; zweitens, der Anstieg der SVP verlangsamt sich im Gefolge der jüngsten Ereignisse; und drittens, der Anstieg eben dieser Partei beschleunigt sich seither. Die jungen ForscherInnen kamen zum Schluss, der Anstieg der SVP habe sich 2007/8 weder beschleunigt nicht verlangsamt. Die Partei gewinne etwas gleich viel an WählerInnen-Anteil hinzu wie 2004, als es keinen Blocher-Effekt gab. Der Wandel des Parteiensystems im Kanton St. Gallen hat spät, das heisst in den 90er Jahren eingesetzt. Die SVP legt seither zu, weil sie oppositionelle Potenziale sammelt, mit neuen Personen antritt, mit thematischen Positionsbezügen die Medienaufmerksamkeit focussiert und damit eine wertmässig klar erkennbare Parteilinie jenseits der historischen Partei aufbaut(e).

WählerInnen-Gewinne vor allem durch Mobilisierung, kaum jedoch durch Wechselwählende
Die zweite Arbeit versuchte, die Herkunft der WählerInnen-Gewinne der SVP direkt zu schätzen. Sie stützte sich dabei nicht auf WählerInnen-Befragungen, sondern auf Analysen der Gemeinderesultate in allen 88 Kommunen des Kantons. Hierfür arbeitete sie mit dem Instrument der Wählstromanalyse, wie es im benachbarten Oesterreich serienmässig eingesetzt wird. Die Hauptaussage hier war recht klar: 2008 gewann die SVP vorwiegend aufgrund der Mobilisierung bisheriger Nicht-WählerInnen. Die Wahlbeteiligung nahm zwar insgesamt nicht zu, doch verloren die anderen Parteien durch innere Demobilisierung, während die SVP in erster Linie durch NeuwählerInnen-Mobilisierung profitieren konnte. Die Wechselwahl-Tendenzen im bürgerlichen Lager blieben ausgesprochen gering; gegenüber der CVP ist die Bilanz der SVP nicht signifikant, aber positiv, während sie gegenüber der FDP eher sogar negativ ist.

Panaschierneigung abnehmend – Parteitreue steigend

Die dritte Arbeit beschäftigte sich mit der Panaschierstatistik in den Kantonen St. Gallen und Thurgau. Dabei wurde mit dem Instrument der Parteitreue von WählerInnen gearbeitet, – einem Mass, das anzeigt, wie wahrscheinlich es ist, dass die Wählenden einer Partei auch KandidatInnen anderer Parteien unterstützen. Generell zeigte sich, dass bei den jüngsten Wahlen die Parteitreue der Parteiwählerschaften zunahm. Dies gilt ganz besonders für den Wahlsieger der SVP. Alles in allem sprechen die Daten dafür, dass die Polarisierung zwischen allen Parteien zwischenzeitlich so gross ist, dass die Bereitschaft, Kandidaturen anderer Parteien zu unterstützen, erstmals zurück geht.

Eine neue These zu den SVP-Wahlsiegen
Das Bild des aktuellen Wahlsiegers verdichtete sich im Verlaufe des vergangenen Freitags zusehends: Das gilt, obwohl die Fragestellungen verschieden waren, – und die Gruppenarbeiten, nicht zuletzt aufgrund des Zeitdruckes – kaum aufgrund einer koordinierten Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsgruppen entstanden. Wenn sie dennoch ein recht einheitliches Bild des Wahlsiegers vermitteln, spricht dies dafür, dass man sich auf verschiedenen Wegen derselben Realität annäherte. Die These, die so entstand, lautete: Dank ihrer klaren Positionierung einerseits, ihre Mobilisierungsfähigkeit anderseits ist dieses Partei für prinzipiell Wählende besonders attraktiv geworden. Je konsequenter sie daran weiter arbeitet, umso eher kann die Partei auf diesem Weg Erfolge erwarten, – selbst wenn sie dabei Gefahr läuft, sie in einem gewissen Sinnen von den anderen Parteien zu isolieren.

Schon mal eine ganze Menge, was unsere Truppe von Jung-ForscherInnen nur schon zum jüngsten politischen Hauptereignis im Standortkanton der HSG herausfand, mit selber arbeiteten Daten teils gut belegen und in der kritischen Diskussion untereinander auch Aufrecht erhalten konnte.

Alle, die den anspruchsvollen Kurs bis am Schluss durchstanden, haben ihn auf jeden Fall mit Bravour bestanden!

Claude Longchamp

Besprochene Präsentationen:
. Philippe Aeschi: Der aus Christoph Blochers Abwahl resultierte Blocher-Effekt – gibt es den?
. Oliver Rüegger: Der Sieg der SVP im Kanton St. Gallen
. Maurus Berni, Andrea Cristuzzi: Steigt die Parteitreue der SVP-Wähler seit der Bundesratswahl 2007 an?

Wahlen und Werbung

(zoon politicon) Die Wahlanalyse der Forschungsgruppe “selects”, der heute erschienen ist, wirft die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Wahlergebnis und Werbeaufwand erneut auf.

Schon die Wahlbeobachter, die sich 2007 in der Schweiz aufhielten, problematisierten den Zusammenhang, indem sie auf die Abhängigkeit der Massenmedien von Wahlwerbung verwiesen, und bei ungleichen Aufwendungen der Parteien eine Asymmetrie zwischen Parteien und Zeitungen festhielten.

Nun doppelt das universitäre Wahlforschungteam “selects” nach. Die Wahlwerbung der KandidatInnen seien ungleich verteilt gewesen:

. SVP-KandidatInnen Total: 6,1 Millionen Franken
. FDP-KandidatInnen Total: 5,9 Millionen Franken
. CVP-KandidatInnen Total: 4,9 Millionen Franken
. SP-KandidatInnen Total: 2,5 Millionen Frnaken
. Grüne-KandidatInnen Total: 1,2 Millionen Franken

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Schon im November veröffentlichte die Werbebeobachtungsagentur Mediafocus ein ähnliches Rating. Demnach war sich der sichtbare Werbeaufwand der Parteien, nicht der KandidatInnen in den Medien in den nachstehenden Grössenordnungen:

. SVP: 12,2 Million Franken
. FDP: 6,1 Millionen Franken
. SP: 2,5 Millionen Franken
. CVP: 2,2 Millionen Franken
. Grüne: 0,7 Millionen Franken

Die Datailauswertung der Verteilung der Ausgaben, die wir selber vorgenommen haben, zeigt hier Zusätzliches.

Erstens, alle Parteien konzentrieren sich beim Mitteleinsatz auf die Schlussphase des Wahlkampfes. Die Intensität war im Oktober höher als im September, und sie war im September stärker als im August.
Zweitens, die Dauer der intensiveren Ausgaben hängt von der Gesamthöhe des Budgets ab. Bei Grünen, SP und CVP, welche die kleinsten Aufwendungen betrieben, setzte der werberische Auftakt im wesentlichen im September ein. Bei der FDP gilt ähnliches, allerdings in schon ganz anderen Dimensionen.
Drittens, die SVP-Kampagne hatte dagegen ihren take-off im August 2007. Sie Schäfchen-Kampagne war es denn auch, welche das Klima, indem der Wahlkampf stattfand, einsetzte.

Das wirft die Frage auf, wie Wahlwerbung wirkt: Ich werfe die nachstehende Hypothese in die Debatte: Wahlwerbung verspricht nicht einfach Wahlerfolge. Wahlerfolge ergeben sich dann, wenn man in der Werbung die Top-Position einnimmt. Das garantiert am intensivsten und am längsten zu werben. Und das kann das Klima prägen, indem der Wahlkampf stattfindet, was für den Wahlerfolg nicht unerheblich ist.

Ich nenne das climate-setting in der Wahlwerbungskommunikation. Notabene nicht erst seit 2007, sondern seit 1995, dem Zeitpunkt, seit dem ich den Zusammenhang von Wahlen und Werbung in der Schweiz beobachte. Mehr dazu finden Sie hier.

Claude Longchamp

Unterstellte Auswirkungen von Umfragen auf Wahlen und Abstimmung nicht belegt

(zoon politicon) Für PolitikerInnen scheint bisweilen alles schnell klar: Umfragen, vor politischen Entscheidungen veröffentlicht, beeinflussen das Ergebnis. Sie können deshalb gezielt eingesetzt werden, um das Resultat der Entscheidung zu manipulieren.

Es ist Aufgabe der empirischen Sozialwissenschaften, Annahmen zur sozialen Realität, die auf dem common sense basieren, zu überprüfen. Dabei gehen sie wie immer in solchen Situationen nach der Logik der Forschung vor, die von Subjekt unabhängige, eben: intersubjektive gütlige Ergebnisse lieferen sollen.

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Alexander Gallus, Demoskopieforscher, kommt zu einem ernüchternden Schluss für PolitikerInnen, die sich gerne als KritikerInnen aufspielen


Eine nützliche Uebersicht zum Forschungsstand

Eine Zusammenstellung der diesbezüglichen Forschungsresultate hat jüngst Alexander Gallus, Politikwissenschafter und Professor an der Universität Rostok, der sich auf Demoskopiewirkungen spezialisiert hat, geliefert und sie auf der website der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht.

Zunächst unterscheidet Gallus mögliche Beeinflussungsfelder; namentlich sind das die Beteiligung und die Entscheidung selber. Dann sichtet er Hypothesen, die hierzu entwickelt wurden. Speziell erwähnt er bei den Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung:

. Mobilisierungs-Effekte: Demnach förderten Umfragen, speziell bei unsicherem Ausgang, die Beteiligung an der Entscheidung.
. Defätismus-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Mobilisierung der veraussichtlichen Verlierer.
. Lethargie-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Beteiligung der angenommenen Gewinner.
. Bequemlichkeits-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Beteiligung von Unschlüssigen.

Bezogen auf die Auswirkungen auf die Entscheidfindung selber unterscheidet der Autor zwei Effekte:

. Bandwagon-Effekt: Demnach kommt es zu einem Meinungwandel zugunsten des voraussichtlichen Gewinners.
. Underdog-Effekt: Demnach kommt es zu einem Meinungwandel zugunsten des voraussichtlichen Verlierers.

Erstaunliche Bilanz des Forschungsstandes
Die Arbeitshypothesen sind plausibel; sie lassen sich mit den Theorien des rationalen Wählens resp. mit Identifikationstheorien auch begründen. Doch, und das ist nach Ansicht von Gallus massgeblich, hat die Forschung keine stichhaltigen Beweise für für die Trifftigkeit der Hypothesen liefern können. “Handfeste Belege für die Richtigkeit dieser Vermutungen konnten bislang freilich nicht erbracht werden.” Das gelte, so der Autor, sowohl für die Beteiligung wie auch für die Entscheidungen selber.

Mein Schlussfolgerung
Das lässt aufhorchen; – und trifft sich mit meiner Erfahrung im Umgang mit diesere Frage: Höchstwahrscheinlich gilt, dass die Erwartungen, was geschieht, beeinflusst wird. Ob das allerdings die individuellen Entscheidungen beeinflusst, ist mehr als strittig; es ist schlicht nicht belegt.

Der veröffentlichten Demoskopie vor Wahlen und Abstimmungen ein eindeutig erkennbares Mass und eine klar bestimmbare Richtung zu unterstellen, ist unlauter. Wenn PolitikerInnen da mehr rasche Gewissheit entwicklen als die teilweise aufwendige Forschung hierzu, hat dies in erster Linie mit ihren Interessen bei Wahlen und Abstimmungen zu tun, indessen wenig mit rationaler Beweisführung!

Claude Longchamp

Les campagnes électorales

Cours de Claude Longchamp à IDHEAP

Le rôle des autorités dans les campagnes électorales et de votation est devenu plus actif. Il devient de plus en plus important, standardisé à un nouveau niveau.
Quelles sont les possibilités et les limites de la communication politique des autorités à l’occasion d’élections et de votations ? Le cours d’aujourd’hui étudie cette question.

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Qu’est-ce que c’est une campagne électorales, et quelles sont ses effets? – Les questions qui sont traitées pendant ce cours.

Les autorités ne sont généralement pas directement impliquées dans les campagnes électorales; nous traitons cependant cet aspect, car les campagnes sont mieux étudiées et peuvent contribuer à une meilleure compréhension de la communication politique des décisions. Nous y apprenons les visions théoriques, que la psychologie, l’économie et la science de la communication ont développé, connaissent et en discutent l’utilisation pour les élections du conseil national 2007.

Les autorités sont plus ou moins engagées dans les campagnes de votation – soit du côté “pour” les référendums, ou (généralement) du côté des “contre” pour les initiatives populaires. Pour pouvoir comprendre les effets de la communication, nous apprenons à connaître le dispositif, qui a été spécialement développé pour l’analyse dynamique des votations populaires. Nous apprenons à définir ce que sont les prédispositions des décisions et comment on y a recours dans la communication de campagne.

Dans la troisième partie du cours, nous appliquons ce que nous avons appris sur la formation d’opinion à la votation populaire pour l’adhésion de la Suisse aux accords de Schengen et Dublin, et discuterons des questions posées par les participants sur les conclusions de la généralisation.

Les documents du cours peuvent être consultés en allemand ou en français.

Claude Longchamp

Mein Stimmungsbericht

Erstanalyse der Schwyzer Kantonsratswahlen

(zoon politicon) Die Schwyzer Kantonsratswahlen sind vorbei. Nun beginnt die Analyse. Eine Möglichkeit, Wahlergebnisse, die auf kommunaler Ebene vorliegen, zu untersuchen, sind Wählerstromanalysen.

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Vorbildliche Resultatevermittlung der Resultate im Kanton Schwyz; eine Analyse der Herkünfte und Verschiebungen von Wählerstimmen, die einen Anhaltspunkte für die Ursachen geben könnten, ist das aber nicht.

Das statistische Verfahren
Die Annahme dahinter ist recht einfach: Man betrachtet, welche Partei in einem Wahlkreis gewinnt und welche verliert. Dann fragt man sich, ob die einzelne Beobachtung verallgemeinerbar ist oder nicht. Wenn sie verallgemeinerbar ist, kann man plausible Wählerwanderungen anstellen, die nach dem Motto funktionieren: Wer gewinnt von wem.

Nun ist die Realität aber komplexer, wenn sich die Beteiligung ändert und es mehr als zwei Partein hat. Man muss das Gedankenspiel gleichzeitig für alle denkbaren Uebergänge machen. Das kann eigentlich niemand.

Doch gibt es statistische Verfahren, die einem helfen, dabei die Uebersicht zu bewahren. Wer diese diese beherrscht, kann die Wahrscheinlichkeiten aller Uebergängen gleichzeitig schätzen. Und genau das nennt man WählerInnen-Ströme. Sie geben, bilanziert wieder, wer von wem wieviel gewonnen resp. wer an wen wieviel verloren hat.

Das Beispiel
Der “Bote der Urschweiz” hat heute eine solch statistische Datenanalyse der Schwyzer Wahlen publiziert. Präzise handelt es sich um eine Untersuchung der 17 Gemeinden, in denen effektiv nach Proporzbedingungen politische Parteien gewählt wurden; in den anderen Gemeinden wird zwar auch nach den Verhältniswahlrecht gewählt, doch handelt es sich um Einwahlkreise, sodass es sich faktisch um Majorzwahlen handelt.

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Beispielhafte Darstellung einer Wählerwanderungsanalyse. Die Grösse der Kreis symbolisiert die Summe aller Wanderungen (+ oder – beachten), jene der Pfeile die Stärke der bilateralen Wanderungsbilanzen. Kleinstbilanzen sind der Uebersichtshalber weggelassen worden (Quelle: Bote der Urschweiz)

Die Ergebnisse
Was sind die Ergebnisse der Analyse? Sie helfen, die traditionelle Darstellung von Wahlergebnissen in Wählerprozenten im Verbund zu interpretieren. Man erhält Hinweise darauf, von wo die Gewinne einer Partei, hier der SVP kommen, und wer wieviel dazu beiträgt.

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Traditionelle Darstellung von Wahlergebnissen in Wählerprozenten, die mit dem Wissen aus Wählerstromanalysen verbessert gelesen werden kann.

können wie folgt zusammengefasst werden. In den 17 untersuchten Gemeinden des Kantons Schwyz ist die Beteiligung gegenüber den Kantonsratswahlen von 2004 im Jahre 2008 um 1,1 Prozent leicht angestiegen. Die Neumobilisierung hat vor allem der SVP genützt; sie legt nur schon deshalb zu. Marginale Gewinne verzeichnet hier auch die CVP, nicht aber die FDP. Die SP ihrerseits verlor zunächst an die Nicht-Mehr-Wählenden Stimmen.

Wenn die SVP im Zeitvergleich von 2004/8 mit +7,7Prozent am meisten gewann, hat das indessen nicht nur Mobilisierungsgründe. Sie verzeichnet auch WechselwählerInnen-Gewinne. Sie gewann von allen anderen Regierungsparteien hinzu, nicht aber von allen gleich viel. Es gilt: Je näher der politische Standort mit jenem der SVP verwandt ist, desto mehr gewann die SVP Wählenden von dieser Partei. Konkret: Zuvorderst steht die FDP, dann die CVP und schliesslich die SP, wenn es um Wechselwählende an die Adresse der SVP geht.

Die drei stärksten Salden betreffen dabei die Neuwählergewinne der SVP und die Wechslergewinnen von der FDP und der CVP. Hier ist das Elektorat in Kanton Schwyz insgesamt am volatilsten. Bezogen auf eine Partei ist bei der SP momentan am meisten in Bewegung.

Die Folgerungen für die Parteien
Was heisst das nun für die Parteien?
. Erstens, die SVP gewann die Schwyzer Wahlen, weil sie eine generelle Magnetwirkung für die Wählerschaft hat(te). Das gilt am stärksten für jene, die bisher keine Partei unterstützen, dann für jene, die verwandte Parteien bisher wählten. Sie kann sich aber freuen: Sie in der Wanderungsbilanz nur Pluspunkte, keine Minuszähler.
. Zweitens, die FDP hat einen grossen Minuspunkt: Die Abwanderung von Wählenden an die SVP.
. Drittens, die CVP hat den gleichen Minuspunkt, aber auch einen kleinen Pluspunkt bei der Neumobilisierung.
. Viertens, die SP hat zwei Minuspunkte, denn sie verliert sowohl an die SVP als auch an die Nichtwählenden etwas.

Das Hauptproblem der Parteien im Kanton Schwyz ist demnach die mangelnde Parteitreue, das sekundäre ist die Mobilisierung. Von den Problemen der SP, der CVP und der FDP profitiert gegenwärtig die SVP ganz allgemein.

Meine Erfahrung
Man kann Bedenken haben gegen solche Modellrechnungen. Meine Erfahrung sagt mir, sie sind relativ robust. Sie sind die bisher beste Schätzung, was sich im Kanton Schwyz zwischen 2004 und 2008 parteipolitisch ereignete, wenn man sich auf kantonale Wahlen konzentriert.

Claude Longchamp

Gewinnt die SVP wegen der Abwahl von Christoph Blocher kantonale Wahlen?

These und Gegenthese
Unbestritten ist, dass die SVP die beiden jüngsten kantonalen Wahlen gewinnen hat. Sie ist zur stärksten Partei im Kanton St. Gallen aufgerückt; und sie hat ihre Leadposition im Kanton Schwyz gefestigt. Umstritten ist allerdings, weshalb die SVP Wahlsiegerin wurde. In der medial gängigen Leseweise hat sie die Wahlen gewonnen, weil Christoph Blocher aus dem Bundesrat abgewählt worden ist.

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Keine Beleg für eine Wachstum der SVP-Wählerschaft seit den letzten National- resp. Bundesratswahlen: Die Vergleiche der WählerInnen-Anteile 2007 und 2008 in den Kantonen St. Gallen und Schwyz.

Ich halte mal dagegen!

1. Im Vergleich zu den Nationalratswahlen 2007, der letzten Wahl vor der Abwahl von Bundesrat Christoph Blocher, hat die SVP an WählerInnen-Anteilen sowohl in Schwyz wie in St. Gallen verloren.
2. Im gleichen Vergleich haben die CVP und die FDP in beiden Kantonen zulegt, und hat die SP in einem Fall an Wählerstärke verloren.
3. In St. Gallen, wo die Wahlbeteiligung bekannt ist, ist sie aktuell geringer als bei der Nationalratswahl 2007.

Das mediale Analysekonstrukt und seine empirische Evidenz
Richtig ist, dass die Mobilisierung im eidgenössischen Wahlherbst höher war als bei den kantonalen Wahlen. Damit haben die Wahlen als solche und die meisten Parteien bei den jüngsten kantonalen Wahlgängen absolut weniger WählerInnen angesprochen. Bei der SVP gilt dies nicht nur absolut, sondern auch relativ. Ihre Anteile unter den jeweils Wählenden sind zwischen 5 und 8 Prozent zurückgegangen. Das verringert die Zahl der Wählenden, die diesmal SVP gewählt haben nochmals. Um nicht missverstanden zu werden: Die Partei hat gegenüber den letzten kantonalen Wahlen zugelegt. Sie tat dies in St. Gallen bei einer vergleichbaren Wahlbeteiligung.

Richtig ist damit auch, dass die Partei in beiden genannten Kantonen seit ihrem Auftreten resp. Aufschwung in den 90er Jahren an WählerInnen-Stärke zugelegt hat. Dieser Trend hält bestätigte sich am vergangenen Wochenende parallel zum nationalen Trend zum wiederholten Mal. Der Anstieg der SVP in den beiden ehemaligen CVP-Hochburgen ist damit ein Phänomen der letzte 12 Jahre. Er ist keineswegs das Produkt der letzten Monate.

Die nüchterne Wahlanalyse aufgrund der ersten Angaben zur Beteilgung und Wählerstärken
Die vorläufig einzig zulässige Deutung der gegenwärtig vorliegenden Daten zu den WählerInnen-Stärkn der Parteien in St. Gallen und Schwyz lautet: Die Mobilisierung durch die letzten kantonalen Wahlen war geringer als durch jene bei den eidgenössischen Parlamentswahlen. Die geringere Aufmerksamkeit, die verminderte mediale Berichterstattung und die sicherlich weniger intensive Form der Wahlkampagnen machen diese Feststellung plausibel. Es sind aber nicht alle Parteien nicht im gleichen Masse von dieser veränderten Mobilisierung betroffen. Nutzniesserinnen der verringerten generellen Mobilisierung waren die CVP und die FDP, die ihre WählerInnen-Anteile steigern konnten. Das hat mit der geringeren Polarisierung jetzt als vor einigen Monaten zu tun. Und das hat hat mit der höheren Bedeutung für die Parteiidentifikation der lokalen Politgrössen gegenüber den nationalen Aushängeschildern zu tun.

Die SVP profitierte(e) davon, dass die Wahlen zu einem vermeintlichen Entscheid für oder gegen Christoph Blocher gemacht wurden/werden. Das war bei den Nationalratswahlen 2007 evidentermassen der Fall. Dieser Effekt spielte im Vorfeld der kantonalen Wahlen nicht mehr. Er hat die generelle Beteiligung wieder auf das kantonale Normalmass zurückgehen lassen, und er hat auch die Wähleranteile insbesondere der SVP verringert.

Mein vorläufiger Schluss
Bei den jüngsten kantonalen Wahlen hat die SVP gegenüber den Wahlen von 2004 zugelegt. Sie ist oder wurde die stärkste kantonale Partei. Sie legte, wie schon in den früheren Wahlen in St. Gallen und Schwyz gegenüber der kantonalen Vorwahl zu. Das hat mit ihrer jungen Entstehungsgeschichte als Sammelbecken der nationalkonservativen Unzufriedenheit zu tun. Diese Aufgabe löst die Partei unverändert in vorbildlicher Form.

Sie verbesserte sich jedoch gegenüber 2007 nicht weiter, als sie aufgrund der zugespitzten Situation im Wahlkampf gerade ideal mobiliserte. Und es gibt keinen Beleg, dass die SVP kurzfristig einen Aufschwung erhielt. Interessant ist, dass die vorherrschende mediale Deutung zu einem Zeitpunkt entstand, bevor die relevanten datenmässigen Entscheidgrundlagen auch nur ansatzweise vorlagen.

Claude Longchamp

Weitere Kritik an der These der “Blocher-Abwahl”