Politisierung, Digitalisierung, Behördenskepsis und Polarisierung als Stichworte zur Halbzeitbilanz bei Volksabstimmungen

22 Mal stimmte die Schweiz seit den Parlamentswahlen 2019 auf eidgenössischer Ebene ab. In 16 Fällen setzte sich der Standpunkt von Parlament und Regierung durch. Das ist eine Verschlechterung gegenüber der Vorperiode. Warum? Vier Stichworte zum Nachdenken: Politisierung, Digitalisierung, Behördenskepsis und Polarisierung.

Verbreitung und Intensität der Nutzung von online-Medien in Abstimmungskämpfen vor resp. während der Pandemie

1. Zahl: Nutzende in % Teilnehmende
2. Zahl: Mittelwert Intensität auf Skala von 0 bis 10
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Nach dem ersten regulären Abstimmungswochenende am 9. Februar 2020 mit zwei erwartbaren Volksentscheidungen, kam alles anders als gewohnt. Zuerst wurden die bereits angesetzten Volksabstimmungen wegen der Pandemie ausgesetzt. Im September 2020 ging es mit mehr Tempo und Intensität wieder los. 20 Volksabstimmungen, verteilt auf 5 Termine in 14 Monaten, sind auch für die Schweizer Demokratie speziell!

Politisierung von Volksabstimmungen
Schon im Herbst 2020 vermeldete das Sorgenbarometer mit 86% einen neuen Höchststand für das bekundete politische Interesse. 10 Jahre davor war man noch bei 55%. 2021 liess der Werte minimal nach. Doch blieb der eigentliche Ausnahmezustand.
Hoch war auch die Stimmbeteiligung. Am 28. November 2021 kam es mit 65% zu fünfthöchsten Teilnahmequote in der Schweizer Abstimmungsgeschichte überhaupt. Gemittelt nahmen in den beiden letzten zwei Jahren 54 Prozent an einer Volksabstimmung teil – so viele wie seit Beginn der 1990er Jahre nicht mehr.
Dazu passen die massiv gesteigerten Kampagnenaktivitäten. Acht der zehn Vorlagen, über die seit 2014 medial am meisten berichtet wurde, fallen in die zwei vergangenen Jahre. Nur bei der Selbstbestimmungsinitiative 2018 und bei die Steuerreform 2017 gab es ähnlich intensive Kampagnen wie in jüngster Zeit.
Auffällig auch: Die Nutzung der Internetangebote stieg mit der Pandemie im Schnitt um 10 Prozentpunkt an. Das gilt einerseits für die online-Portale, wo die Nutzung von knapp 60% auf knapp 70% der Teilnehmenden an Abstimmungen stieg. Es zeigt sich andererseits auch für sozialen Medien mit einer Steigerung von rund 25% auf rund 35%. Ganz anders entwickelte sich die sonstige Mediennutzung. Bei Zeitungen, Fernsehen und Radio stagnierte sie oder ging sich sogar zurück.

Mix aus angenommen und abgelehnten Vorlagen
Kritischere Bilanz für die Behörden
Liste der 2020 und 2021 angenommenen Behördenvorlagen umfasst das Diskriminierungsverbot von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, den Vaterschaftsurlaub, den Kauf von neuen Kampfjets, den Freihandel mit Indonesien, neue polizeiliche Massnahmen für die Terrorismusbekämpfung, die Ehe für alle und gleich doppelt die Änderungen des Covid-19-Gesetzes. Gescheitert sind aber das neue Jagdgesetz, die Erhöhung der Kinderabzüge, die elektronischen Identifikationsdienste und das CO2-Gesetz.
Auch bei Volksinitiativen wurden die Behörden zweimal überstimmt, so bei der Verhüllungsinitiative und bei der Pflegeinitiative, die sie abgelehnt hatten. In der Mehrheit blieben Parlament und Regierung mit ihrem Nein zur Wohnungsinitiative, zur Konzernverantwortungsinitiative, zur Kriegsgeschäftsinitiative, zur Trinkwasser- respektive Pestizidinitiative, zur 99%-Initiative und zur Justiz-Initiative.

Kritischere Bilanz für die Behörden
Eine politische Analyse der sechs Niederlagen für die Behörden zeigt, dass ihre Positionen viermal rechts der Stimmenmehrheit waren und nur zweimal links davon. Zu nahe beim Standpunkt der rechten Parteien waren Regierung und Parlament beim Jagdgesetz und bei den Kinderabzügen im Jahre 2020. 2021 war das auch bei der eID der Fall sowie beim Nein zur Pflegeinitiative der Fall. Zu nahe an der linken Position war man beim Verhüllungsverbot und beim CO2-Gesetz. Einige Korrekturen fielen entsprechend aus: Bei CO2-Gesetz berücksichtigte Energieministerin Sommaruga der bürgerlichen Standpunkt mehr, beim eID trug Justizministerin Karin Keller-Sutter der Opposition von links Rechnung.
Trotzdem ist die Bilanz der Behörden schlechter als in der letzten Legislaturperiode. Damals verloren Parlament und Regierung bloss 2 von über 30 Abstimmungen.
Mindestens zwei Erwägungen kann man dazu anstellen:
• Das Nein zum Jagdgesetz und zu den Kinderabzügen erfolgte zu Vorlagen, die noch das alte Parlament erlassen hatte. Abgestimmt wurde darüber nach der Parlamentswahl mit dem Grün- respektive dem Linksrutsch. Die Vorlage wirkten wie aus einer anderen Zeit.
• Anders verhält es sich bei den Abstimmungsniederlagen 2021. Sie fallen in eine Zeit, in der die Skepsis gegenüber den Institutionen wegen der Corona-Krise angewachsen war, was der Opposition auch in Sachfragen neue Spielräume eröffnete. Zwei angenommene Volksinitiativen in nur einem Jahr sind ein deutliches Zeichen dafür.


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Polarisierung der Parteienlandschaft
Analysiert man die Kongruenz der politischen Parteien und der Mehrheit der Stimmenden, war sie bei der glp in den vergangenen zwei Jahren am höchsten. An zweiter Stelle folgt die CVP respektive die neu gegründete “DieMitte”-Partei. Beide können sich sogar rühmen, den Volkswillen besser getroffen zu haben als Parlament und Regierung. Denn ihre Positienon war in 17.5 respektive16.5 Fällen gleich wie die der Volksmehrheit.
Dabei spielte auch Taktik mit. So hat die glp wie die Mehrheit im Parlament da die eID unterstützt und die Pflegeinitiative abgelehnt. Im Abstimmungskampf beschloss die Partei die gegenteiligen Parolen – und war damit in der Volksabstimmung wiederum in der Mehrheit.
Hinter den beiden Zentrumsparteien reihen sich die FDP, die SVP, die EVP, die SP und die Grünen ein. Sie alle waren häufiger in der Minderheit.

Ganz überraschend sind diese Klassierungen nicht. Denn die Betrachtungsweise begünstigt Zentrumsparteien. Polparteien haben selbstredend eine geringere Chance mit der Mehrheit überein zu stimmen. Dennoch gibt es gegenüber der vorherigen Legislaturperiode eine Verschiebung. Denn damals war die FDP die treffsicherste Partei. Man kann das auch als Verlagerung des politischen Schwergewichts ins politischen Zentrum interpretieren.
Betrachtet man die Fälle, bei denen sich die Parteien nicht mit der Mehrheit positionierten, waren die Grünen, die SP, aber auch die EVP und die glp jeweils zu links, die SVP und die FDP stets zu rechts. Bei der “DieMitte”-Partei gleichen sich die Abweichungen auf beide Seiten aus.
Das spricht dafür, dass die Polarisierung der Parteien in beiden letzten Jahren grösser geworden ist. Entsprechend haben sie sich auch vom Zentrum entfernt.
Den Polparteien ist zu Gute zu halten, dass sie dafür in aller Regel von der eigenen Wählenden mehrheitlich unterstützt wurden. Den Polparteien geht es weniger um Mehrheit in der Bevölkerung, dafür um Repräsentation der eigenen Wählenden in der Öffentlichkeit.

Drei Thesen zu den Folgen der Pandemie
Was bedeutet diese Halbzeitbilanz zu den nationalen Volksabstimmungen? Meines Erachtens kann man drei Thesen aufstellen:
Erstens, das Elektorat wurden durch das neue Corona-Virus politisiert. Die Beteiligung stieg analog zu den medial intensivierten Kampagnen. Die Pandemie erschwert die Abstimmungsaktivitäten auf der Strasse, was mit vermehrter Medienarbeit kompensiert wird.
Zweitens, das Elektorat ist polarisierter als vor der Pandemie. Die Parteien an den Polen der politischen Landschaft weichen verstärkt ab, bekommen dafür in aller Regel von ihren Wählenden Sukkurs, sind damit aber nicht zwingend in der Mehrheit. Die Parteilandschaft ist heute polarisierter denn je.
Drittens, die Bilanz der Behörden ist angesichts beider Trends schlechter geworden, wenn auch immer noch recht gut. Zwei angenommene Volksinitiativen in zwei Jahren sind ein starkes Zeichen, vier verlorene Referendumsabstimmungen auch.
Was bleibt aus alle dem? Direkte Demokratie funktioniert auch unter erschwerten Bedingungen. Sie bringt Verlagerungen in den medialen Raum. Dabei wachsen die Gegensätze, und es nimmt die skeptische Grundstimmung zu. Volksabstimmungen sind aus Systemsicht schwieriger geworden, dysfunktional aber nicht.

Claude Longchamp, Politikwissenschafter