In der Schweiz formiert sich das Zentrum neu

Bilanz zur parteipolitischen Landschaft der Schweiz im Jahr 1 nach den jüngsten Parlamentswahlen

erschienen auf swissinfo.de

Die Wahlen 2019 waren ein Einschnitt in der Parteienlandschaft der Schweiz. Und 2020 erschütterte die Corona-Krise die Schweizer Politik. Was bedeutet das für die politische Landschaft der Schweiz? Bilanz zur parteipolitischen Landschaft der Schweiz im Jahr 1 nach den jüngsten Parlamentswahlen.


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Geschwächte Regierungsparteien
2019 erfolgte ein grosser Einschnitt in die politische Landschaft der Schweiz. Bei den Nationalratswahlen verloren die SVP und die SP gleichzeitig. Da diese Parteien im Bundesrat aber unverändert vertreten bleiben, reduzierte dies auch den Anteil Wählender, die in die Regierung eingebunden sind. Mit knapp 69 Prozent ist ihr Anteil neuerdings so gering wie im letzten halben Jahrhundert nicht mehr.
Profitieren konnten die zwei grünen Schweizer Parteien: Die GPS, klar links positioniert, gewann am meisten; die glp, in der Mitte politisierend, war die zweite Siegerin.
Aufgrund dieser Wahlgewinne sprach man von der Klimawahl. Nachanalysen zeigten eine Polarisierung, die zwar die Parteien nicht mehr gleich stark trennt wie zuvor, dafür die Generationen. Die Umweltfrage spaltet die Altersklassen.
Es galt: Je jünger die Wählenden waren, umso klarer stimmten sie für eine der beiden grünen Parteien, welche beide ausserhalb des Bundesrates politisieren. Regierungsparteien profitierten umso mehr, je älter die Wählenden waren.

Einschnitt in der politischen Grosswetterlage
Dann, mit der Corona-Krise, änderte sich 2020 die politische Grosswetterlage. Nun steht die Bewältigung der Pandemie im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit; 51 Prozent der Befragten gaben an, die Krise befände sich unter den fünf grössten Sorgen, die sie umtrieben. Der Klimawandel kommt im “Sorgenbarometer 2020” der Bürger an vierter Stelle, umgeben von der problembehafteten Altersvorsorge, der Arbeitslosigkeit und der Ausländerfrage. Während sich die Sorge um die Umwelt stabil gehalten hat, berichten die Befragten dieses Jahr insbesondere von einer höheren Furcht vor Arbeitslosigkeit.
Ein solch abrupter Wechsel des Sorgenhaushalts ist selten. Zwar kamen und gingen die grossen Probleme im Bewusstsein der Bürgerschaft in Zyklen, aber einen Einschnitt wie 2020 kannte das Barometer im letzten Vierteljahrhundert nicht. Das zeigt, wie tiefgreifend die Pandemie auch ins politische Bewusstsein durchgeschlagen hat.

Parteistärken 2020
Die aktuellste Umfrage zu den Parteivorlieben der Schweizerinnen und Schweizer wurde im Auftrag der SRG erstellt. Sie fand zum Zeitpunkt der zweiten Welle der Corona-Pandemie Ende Oktober 2020 statt.
Die Studie kündet eine mögliche Trendwende an. Gemessen am Niveau von 2019 erlitt die GPS erstmals wieder einen Rückgang. Weit stärker fielen die erneuten Verluste für die FDP, aber auch für die SVP und die SP aus.
Wieder zulegen konnte die glp. Leichte Umfrage-Gewinne gab es ausserdem für CVP und EVP.
Fasst man die kantonalen Parlamentswahlen zusammen, bestätigt sich der Aufschwung der Grünliberalen. An zweiter Stelle folgt die GPS, an dritter die EVP resp. CVP. Die Verluste für SP, SVP und vor allem die FDP sind erheblich.
Die Differenz bei den Grünen könnte sich daraus erklären, dass das Wahlbarometer 2020 mit 2019 verglich, die kantonalen Wahlen 2020 mit 2016 oder 2015.
Man könnte das alles so interpretieren: Die grüne Welle mit flächendeckenden Gewinnen entsprechender Parteien hat sich 2020 etwas abgeflacht. Gestärkt wurde im Corona-Jahr vor allem die Mitte.
In ebendieser Mitte bildet die CVP das bürgerliche Zentrum, die glp stellt den ökoliberalen Teil und die EVP repräsentiert den sozialkonservativen Flügel. Zusammen ergibt das einen interessanten Mix für eine neue Zentrumspolitik!

Volksabstimmungen: Lead wechselt von der FDP zur GLP
Bei Volksabstimmungen zeigte sich diese Umgruppierung der Schweizer Politik bereits. War in der vorangegangenen Legislaturperiode die rechtsbürgerliche FDP die erfolgreichste Partei der Schweiz, weisen neu die Parolen die glp die höchste Übereinstimmung mit Volksentscheidungen aus, gefolgt von jenen der CVP und der EVP.
Entsprechend den beobachteten Entwicklungen in der EU kam 2020 auch in der Schweiz die populistische Partei, die nationalkonservative SVP, an ihre Grenzen. Angesichts der Herausforderungen durch die Pandemie besteht zudem für Anliegen der Polparteien links (Grüne) wie rechts (Konservative) kaum mehr Spielraum.
Die Gunst der Stunde schlägt also für gemässigte Parteien. In der EU sind das vordergründig die Christdemokraten (siehe Kasten).

Parteien richten sich neu aus
Die Schweiz hat da eigene Beispiele, allen voran die Grünliberalen.
Sie profilieren sich mit dem verabschiedeten CO2-Gesetz als Partei, die mit einem pragmatischen Mix aus neuen Technologien und Anreizen für veränderte Verhaltensweisen punkten will. Dabei politisiert sie bewusst marktwirtschaftlich, nicht etatistisch.
Die kleine EVP kennt in der EU kein Pendant. In der Schweiz wagt sie neuerdings den Spagat zwischen konservativer Gesellschaftspolitik und linker Wirtschaftskritik. Dies ist eine hierzulande unbekannte Kombination, welche die Neugierde einiger Wählender zu wecken scheint.
Die CVP wiederum hat im November beschlossen, mit der führungslosen BDP, ursprünglich eine bürgerliche Abspaltung der SVP, zu fusionieren und ab 2021 gemeinsam als “Die Mitte” aufzutreten. Sie will das gespaltene Land einen und Baustellen bei Steuerkonformität oder Sozialpolitik angehen.
Im neuen Parlament bilden die CVP, BDP und EVP seit den Wahlen 2019 eine gemeinsame Mitte-Fraktion. Eine Auswertung des Stimmverhaltens im Nationalrat legt dabei nahe, dass die CVP und BDP heute leicht rechts der Mitte politische Lösungen suchen, während die glp und die EVP leicht links davon politisieren. Damit unterscheidet sich die Mitte klar von den Polparteien SVP, SP und GPS. Wohin die FDP tendiert, ist 2020 noch nicht entschieden.

Testfall Aargau: generationenübergreifende Mitte
Eine Wahlanalyse der jüngsten Parlamentswahlen im Kanton Aargau zeigt zudem, dass CVP, glp und EVP auf gut einen Viertel der Wählenden zählen können. Dies gilt insgesamt und in allen Altersgruppen.
Mit anderen Worten: Die Mitte bildet sich als generationenübergreifende Strömung heraus, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten der Parteien in den verschiedenen Altersgruppen.
Die glp hat dabei die besten Karten, wenn es ihr gelingt, ihr neu gewonnenes Elektorat zu halten. Denn der Altersdurchschnitt der Wählerschaft der Zentrumsparteien ist bei ihr am geringsten. Was in der Schweiz kommen dürfte, drückt sie deshalb am besten aus.

Ausblick
Denkt man das Typische an Wahlergebnissen 2020 in die unmittelbare Zukunft, sind dreierlei Deutungen denkbar:
Erstens: Die Polarisierung stagniert, die Mitte formiert sich.
Zweitens: Noch ist das Zentrum parteipolitisch fragmentiert, doch bilden sich Formen der Zusammenarbeit heraus.
Drittens: Eine so gestärkte Mitte könnte in der Schweiz mit ihren Erfordernissen zur Konsensdemokratie durchaus zukunftsweisend sein.

Kasten: Parteistärken in der EU
Das Magazin POLITICO sammelt die Umfragen zu den Parteistärken in den EU-Mitgliedstaaten, rechnet sie fortlaufen in Sitze im Europaparlament um und vergleicht dies mit den Ergebnissen der EU-Wahlen 2019. Aktuell würden sowohl die Christdemokraten als auch neue Gruppierungen zulegen, während Rechtspopulisten, Liberaldemokraten, Grüne und Linke Sitze verlieren würden.
Übersicht 21.12.2020

EPP (Christdemokraten): 187 (rechnerisch +9 Sitze gegenüber Europawahlen 2019)
S&D (Sozialdemokraten): 141 (+/-0)
RE (Liberaldemokraten): 92 (-6)
ID (Rechtspopulisten): 75 (-8)
ECR (Konservative): 61 (-2)
Greens (Grüne): 53 (-5)
GUE/NGR (Linke): 52 (-5)
New (diverse Neue): 26 (+18)
NI Unabhängige: 23 (-3)