Rezension von Oliver Zimmer: Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie

Von Isaiah Berlin stammt das Essay «Der Igel und der Fuchs». Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß ein großes Ding, ist das Motto! Die Paarung prägt auch den jüngsten Versuch des Schweizer Historikers Oliver Zimmer. Finden kann man diese Umschreibung im Buch «Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie», eben im Echtzeitverlag Basel erschienen. Der Anspruch des neuen Buches ist zweifelsfrei intellektuell. Doch die Point ist unverkennbar politisch.

Kritik der Hyperglobalisierung
Der wichtigste Garant des Igels ist der renommierte Harvard-Ökonom Dani Rodrik.
Berühmt geworden ist sein Trilemma aus Globalisierung, Demokratie und Souveränität. Gemäss Rodrik könne man nur zwei dieser Ziele gleichzeitig realisieren. Das dritte bleibe auf der Strecke.
Die internationalistische Linke verzichte auf Souveränität und die nationalkonservative Rechte auf Globalisierung. Die heutigen Liberalen neigten zur Technokratie, die auf Demokratie verzichten könne.
Genau das befriedigt Oliver Zimmer nicht. Den vorherrschenden Liberalismus beschimpft er als «DINO». Gemeint ist damit «Democracy in Name only» – die Formaldemokratie. Propagiert werde sie von den WEIRDs, den Trägern der Globalisierung, die er als «western, educated, industrial, rich and developed« karikiert.
Schlimmer noch: Ihre Ansichten würden die Massen nicht teilen, müssten sie aber wegen ihrer starken Position in Massenmedien, Universitäten und andern Kulturinstitutionen hinnehmen, diagnostiziert der Professor an der Universität Oxford.
Verirrter Liberalismus von heute
Vier Radikalisierungen der Globalisten kritisiert der Professor aus dem zürcherischen Thalwil:
. die radikale Meritokratie, welche das Individuum einzig nach seinen Verdiensten beurteile und es dafür von seinen kulturellen und sozialen Wurzeln löse;
. die radikale Verrechtlichung, der den Rechtsstaat den Gerichten überlasse und ihn vom Volkswillen abhebe;
. den radikalen Supranationalismus, welcher den Nationalstaat als Relikt aus dem Zeitalter des Nationalismus sehe, heute ohne gültige Orientierungsgrösse, und
. den radikalen Elitismus, der zu einer Re-Aristokratisierung der Gesellschaft führe und inferiore Minderheiten ausgrenze.

«Örtlichkeit» als Anti-These
Zimmers Anti-These ist besteht aus dem uneingeschränkten Lob der Örtlichkeit! Nur die Kleinräumigkeit schaffe Identität, Einheit aus Raum und Republik. Und das sei die Voraussetzung von Demokratie. Denn die Örtlichkeit kümmere sich nicht um den globalen Ruf nach Uniformität und Global Governance, sei dafür das Experimentierfeld für Innovationen.
Konkret hebt Zimmer Staaten wie Südkorea, Singapur und Taiwan heraus. Sie – nicht die WHO und China – seien erfolgreich bei der Bekämpfung der COVID19 Krise.
Den Bogen zu Tell und der Schweiz schlägt Zimmer über die Kantone, teils im Mittelalter entstanden, teils in der Moderne geformt. Sie reflektierten die verschiedenen Befindlichkeiten des Landes, die in der Konkurrenz sinnvolle Lösungsansätze entstehen liessen.
Man verzeiht diese Schwachstelle angesichts der Widerlegung durch die Corona-Krise in der Schweiz nach angefangenen 20 Seiten. Denn der weiter interessierte Leser wird in einen atemraubenden Bogen durch 100 Seiten Text geführt. Illustre Zeugen des Örtlichen sind der Dalai Lama und David Cameron, Wilhelm Tell und Max Frisch bis hin zu Historikerkollegen wie André Holenstein, Jakob Tanner, Thomas Maissen und allen voran Herbert Lüthy.
Das vermeintliche Ende der Ausführungen besteht nach Zimmer darin, dass Zimmer Demokratien nicht durch externes Schock wie den Staatsstreich bedroht sieht. Der tödliche Vorgang sei viel banaler und heimtückisch zugleich: «Langsam wird den Demokratien jene Nahrung entzogen, die sie demokratisch macht.» Dies geschehe durch zunehmende Indifferenz, bis sich Demokratie in etwas anderes verwandeln – so wie dazumal bei den republikanischen Verfassungen von Athen oder Rom oder bei den italienischen Stadtstaaten der Renaissance.»
Dagegen hilft, so der Autor, nur der erneuerte republikanische Liberalismus, die öffentliche Sache der Bürger!

Die politische Botschaft
Vom Feuilleton à la NZZ wurden Zimmers Gedankengänge sofort in überschwenglichen Tonlagen gefeiert. Fleissig rezitiert werden sie bereits von den konservativen Tenören, die demnächst den Nebelspalter als Forum der Zeitkritik aufleben lassen wollen.
Die ersten Rezensionen in der Tagespresse wirken dagegen fast schon bieder. Sie fragen sich, was das Ganze solle?
Die Antwort gibt der Autor auf den letzten 5 Seiten seines Exposés. Es ist die erbarmungskose Kritik des InstAs, dem institutionellen Abkommen, das die EU und die Schweiz 2018 ausgehandelt haben, aber ununterzeichnet im politischen Vakuum zwischen blockierenden Anspruchsgruppen, zögerlichem Bundesrat und kritischer Öffentlichkeit stecken geblieben ist.
In Zimmers Leseweise geht das so: «Mit dem Rahmenabkommen wird die Schweiz faktisch EU-Mitglied ohne Stimmrecht». Man betrete das Vorzimmer, das nur eine Türe, beschriftet mit Vollmitgliedschaft, habe. Der Beitritt zur EU würde zwar Stimmrecht bringen, aber die Demokratie beenden.
Denn die Schweiz mit dem InstA würde sich bedingungslos verpflichten, bestehendes und neues Unionsrecht zu übernehmen. Sollten das Parlament und die Schweizer Stimmbürger den Aufstand proben, hätte stets der EUGH das letzte Wort.
Und: «Wer das Rahmabkommen als Kompromiss bezeichnet, hat seinen demokratiepolitischen Kompass verloren». Denn das Ganze sei ein äusserst einseitiger Staatsvertrag, wie ihn die Schweiz in ihrer Friedenszeit noch nie unterzeichnet habe.
Die neu gegründete Kampftruppe “autonomiesuisse”, die gegen die EU in der Schweiz wettert, würde es nicht anders umschreiben!

Meine Leseweise
Eigentlich ist der Schluss schade. Denn er zerstört die einfühlsame Diagnose des konservativen Intellektuellen, der man trotz Einwänden zustimmen kann.
Schade ist auch, dass Zimmer Rodriks Analyse nicht weiterdenkt. Denn sie schliesst Demokratie auf internationaler Ebene bei weitem nicht aus.
Schade ist schliesslich, dass der Rückgriff auf die zentrale Chiffre der Örtlichkeit unerläutert bleibt. Der Autor kennzeichnet sie mit genau einem, zudem schwer verdaulichen Satz: Der Oberbegriff zum Buch verstehe sich «als Alternative zur nicht demokratieverträglichen Hyperglobalisierung mit ihrer Verabsolutierung tiefer Transaktionskosten» (S.19).
Ganz vergessen geraten so die längst vorhandene Einsichten von politökonomischen Vordenkern wie Peter Katzenstein, der sich von vor 30 Jahren ebenfalls fragte, wie Kleinstaaten in einer globalisierten Welt erfolgreich bestehen können. «Befriedung im Innern, Marktoffenheit nach aussen» war seine Antwort, die bei Zimmer unverarbeitet bleibt. Selbst wenn Staaten wie Norwegen mit ihrer Vorbild-Demokratie die Richtigkeit der Erkenntnis zeigen.

Mein Fazit: Die Neuauflage des russisch-britischen Liberalen Isaiah Berlin ist misslungen. Der Fuchs ist belesen, der Igel aber ein Chamäleon, sodass am Ende nur eine Schlange den angefangenen Versuch vorzeitig tot beissen kann.