Individuelle Faktoren, welche die individuelle Abstimmungsneigung (nicht) bestimmen.

Rezension der Dissertation von Anja Heidelberger: «Die Abstimmungsbeteiligung in der Schweiz»

9783848741663xl

Die Uebersicht
20 bis 25 Prozent der Stimmberechtigten nehmen auf schweizerischer Ebene nie an Abstimmungen teil. Gründe sind die soziale Isolation, das Desinteressen an Politik, das Interesse ohne Teilnahme und die Verdrossenheit gegenüber Eliten.
Verglichen mit der Nicht-Beteiligung an Wahlen kommt Nicht-Beteiligung an Abstimmungen namentlich bei sozial Isolierten häufiger vor.
Anja Heidelberger berichtet diesen Befund und seine Einordnung in ihrer eben publizierten Dissertation unter dem Titel «Die Abstimmungsbeteiligung in der Schweiz». Der Untertitel des Buches «Psychologische und soziale Einflüsse auf die Abstimmungsneigung» fasst das Programm des Forschungsvorhabens am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern gut zusammen.
Soviel vorab: Abstimmungsneigung ist mehr als die einmalige (Nicht-)Teilnahme, denn es bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, dass man sich bei Volksabstimmungen beteiligt auf einer Skala von 0 bis 10.
Wer die 500 Seiten Text, Tabellen, Grafiken, Fussnoten und Literaturangaben durcharbeitet, erlebt die Höhen und Tiefen förmlich mit, welche die Autorin erfreut und beschäftigt haben. Denn neben eindeutigen Ergebnissen zur Forschungsfrage («Welche individuellen Faktoren beeinflussen die individuelle Abstimmungsneigung?») stehen auch fragmentarische Resultate, die eher neue Fragen aufwerfen als aufgeworfene beantworten.

Die zentrale Bedeutung der psychologischen Einbindung in die Politik

Am meisten freuen können sich die Anhänger sozialpsychologischer Erklärungen des politischen Verhaltens. Sie bekommen weitgehende Unterstützung. Sie bewähren sich nicht nur, um Wahl- und Abstimmungsergebnisse auf den Grund zu gehen. Sie sind offensichtlich auch die geeignetsten, um die politische Teilnahme zu erklären – zumindest wenn man sich auf die allgemeine Teilnahmehäufigkeit einer Person, nicht die spezifische Teilnahme an einer bestimmten Abstimmung konzentriert.
Denn die Nicht-Beteiligung an Volksabstimmungen ist nach ganz einfachen wie auch nach äusserst aufwändigen statistischen Tests durchgängig insbesondere eine Folge der psychologische Einbindung einer Person in die Politik. Am Anfang steht die politische Kontaktwahrscheinlichkeit. Ist diese bei einer Person gering ausgeprägt, entwickeln sich politisches Interesse, Vertrauen in Politik und Parteinähe nicht oder nur schwach. Entsprechend fällt die Abstimmungsneigung signifikant geringer aus.
Auf Platz zwei findet sich die soziale Einbindung eines Individuums. Politische Sozialisation, Beziehungsnetze und sozialer Druck sind bei der Bestimmung der Abstimmungsneigung nicht unerheblich bei der Bestimmung der Abstimmungsneigung. Doch fällt ihr Erklärungsbeitrag geringer aus als bei der psychologischen Einbindung. Am wenigsten erklären Ansätze aus der Mikro-Oekonomie die allgemeine Teilnahmehäufigkeit an Abstimmungen. Das hat allerdings auch mit der Operationalisierung der Abstimmungsneigung zu tun.


Arg relativierte Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmalen

Zu gerne wäre Heidelberger weiter gegangen als dieses bekannte Vorgehen. Denn psychologische resp. soziale Einbindung in die Politik waren in ihrem ursprünglichen Konzept nur als Mediatoren in Strukturgleichungsmodellen vorgesehen gewesen. Eigentliche Ansicht war es, die neue Forschung zu Persönlichkeitsmerkmalen fruchtbringend in die schweizerische Partizipationsforschung einzubringen, entweder als direkte Erklärung des Abstimmungsverhaltens oder als Verdeutlichungen eben der Mediatoren.
Doch scheiterte diese innovative Absicht weitgehend an den hypothetischen Erwartungen oder an der empirischen Datenlage. Denn die Typisierung der Persönlichkeit, wie sie der verwendete «BigFive»-Ansatz vorschlägt, zeitigt nur ausnahmsweise signifikante Erklärungen auf die Abstimmungsneigung.
Ganz bleibt die verallgemeinerungsfähige empirische Evidenz aus, wenn man eine direkte Beziehung zur Abstimmungsneigung prüft. Mindestens in vier der fünf Dimensionen hatte die Autorin das aus der bestehenden psychologischen und biologischen Literatur abgeleitet. Massgeblich waren dabei gefundene Zusammenhänge bei der Wahlbeteiligung gewesen.
Nachweisen kann Heidelberger zwei Einflüsse der Persönlichkeitsmerkmale auf die Mediatoren. Sensibilität (oder Neurotizismus im Fachjargon) befördert psychologische Einbindung zur Politik und Extraversion macht das gleich mit der sozialen Einbindung. Alles andere, das theoretisch postuliert worden war, bewährte sich nicht.
Empirisch harte Befunde finden sich bei Interaktionseffekten der Mediatoren mit der Abstimmungsneigung. So moderiert beispielsweise die Verträglichkeit die Einflüsse der Mediatoren auf die Abstimmungsneigung. Konkret heisst das beispielsweise, Altruisten mit einer Parteibindung haben eine höhere Abstimmungsneigung als Nicht-Altruisten. Konfliktscheue Personen wiederum haben eine höhere Abstimmungsneigung aufgrund des äusseren sozialen Drucks als konfliktfreudige Personen. Oder, wer offen für neues ist, hat eine Affinität zur Politik, die sich auch ohne eine spezifische Bindung an Politik (wie zum Beispiel Parteinähe) auswirkt.

Wichtige methodische Lehren aus dem Forschungsprojekte

Heidelberger betont, dass sich die Forschungsarbeit vor allem wegen den Erfahrungen mit methodologischen Neuerungen gelohnt habe. Am höchsten schätzt sie selber die mit der Poststratifizierung von Umfrageergebnissen mittels Registerdaten ein. Diese setzte sie ein, um die bekannte Uebervertretung von Teilnehmenden in Datensätzen, die auf Umfragen basieren, auszugleichen.
Zu den Verbesserungen der Forschung zählt die Autorin auch ihr Konzept der Abstimmungsneigung selber. Dieses unterscheidet sich von der konkreten Abstimmungsteilnahme, das auf der selbstreferierten Wahrscheinlichkeit an Abstimmungen teilzunehmen basiert und der Beteiligung in einem konkreten Fall abstrahiert. Das machte Heidelberger zwar nicht als Erste so, doch kommt ihr das Verdienst zu, die Skala nicht willkürlich gruppiert zu haben, sondern clusteranalytisch aufgrund von Motivationsanalysen.

Mein Kommentar: zu wenig zum Kontext, zu viel zum Individuum
Vielleicht liegt die Krux der Forschungsergebnisse auch in der Abstimmungsneigung selber begründet. Denn diese ist als zentrale abhängige Variable abstrakter als es die Abstimmungsteilnahme im Einzelfall gewesen wäre. Immerhin lässt sich vermuten, dass genau deshalb zahlreiche Erklärungen, die aus der konkreten Teilnahme an Wahlen im Ausland abgeleitet wurden, hier nicht greifen. Jedenfalls kann man plausibel postulieren, dass die Persönlichkeitsmerkmale eher in einem konkreten Zusammenhang eine Rolle bei der Teilnahme spielen als auf einem generalisierten Niveau.
Das jedenfalls schrieb ich vor ziemlich genau 30 Jahren nachdem ich als einer der ersten versucht hatte, individuelle Abstimmungsbeteiligung in der Schweiz mittels Umfragen zu erklären. Wie die Autorin hielt ich schon damals fest, dass der Sockel der konstant Abwesender maximal einen Viertel der Stimmberechtigten ausmacht. Auch damals erwies sich die (selbstredend viel rudimentäre) sozialpsychologische Herangehensweise als die beste, um das Beteiligungsverhalten in der Schweiz zu erklären. Doch anders als es Heidelberger neu vermutet hat, postulierte ich 1987, dass die Analyse der konkreten Beteiligung an Abstimmungen die Forschung weiter bringen würde. Denn die hohe Beanspruchung der Bürgerschaft durch Volksabstimmungen in der Schweiz werde nicht durch personenzentrierte Merkmals weiter bestimmt, vielmehr ergäbe sich die Variabilität der Teilnahme aus den Themen der Vorlagen und deren Thematisierung im Abstimmungskampf.
Persönlichkeitsmerkmale als Forschungskonzept kannte ich damals noch nicht. Heute würde ich meinen, dass die Eigenschaften von Personen wohl nicht generell wirksam werden, jedoch in einem konkreten Zusammenhang ihr Einfluss auf die politische Beteiligung plausibel erwartet werden kann.
Oder anders gesagt. Basierend auf den Erfahrungen von Heidelberger müssten die individuellen Einflussfaktoren auf die individuelle Abstimmungsteilnahme anhand eines Falles mit speziell hoher resp. speziell tiefer Beteiligung geprüft und verglichen werden.

Claude Longchamp

Anja Heidelberger: Die Abstimmungsbeteiligung in der Schweiz. Diss., Bern 2018