Agenda für eine digitale Demokratie. Mein Rede an der Buchvernissage

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Meine Damen und Herren

Es ist wieder «in», vom Ende zu sprechen.

Das Ende von allem.
Man sieht das Ende der Demokratie kommen, wenn man heute in die Türkei blickt.
Man wähnt sich am Ende der Freiheit, wenn man heute ins Internet geht.
Nichts mehr vorhanden ist vorhanden vom Ende der Geschichte, dem Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus, wie ihn der amerikanische Politologe Francis Fukuyama in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts nach dem Fall der Sowjetunion gefeiert hatte.
Yuval Noah Harari, der israelische Historiker der digitalen Zukunft sieht das heute genau umgekehrt. Zentral organisierte Systeme wie China seien leichter zu organisieren als dezentrale wie die europäischen Staaten, wenn der Computer alles durchdinge. Liberalismus sei obsolet, wenn die Programmierer uns besser kennen werden als wir selber.

Zuversicht, Mut und Realismus der Autoren.
Es braucht Zuversicht, angesichts solch intellektueller Dominanz ein Buch über Demokratie zu schreiben. Man kann es sogar Mut nennen, wenn man eines über digitale Demokratie verfassen will.
Ich kann sagen: Daniel Graf und Maximilian Stern sind zuversichtlich, ja mutig gewesen, als sie sich entschieden ein Buch zur digitalen Demokratie zu schreiben. Das gilt übrigen auch für den Verlag, die NZZ Buchabteilung.
Sie alle glauben, dass ein Neuanfang möglich ist. Mit erneuerter Demokratie. Mit digitaler Demokratie. Für die es höchste Zeit sei, eine Agenda zu verfassen.

Wo stehen wir im Gartner Zyklus?
Der bekannte Gartner Zyklus ist gemacht worden, um Erwartungen und Enttäuschungen gegenüber neuen Technologien im Zeitverlauf einzuschätzen. Die Kurve geht zunächst steil hoch, dann ebenso steil herunter und flacht schliesslich zwischen den Extremen ab. Die erste Phase entspricht übertriebenen Erwartungen, die zweite übertriebenen Enttäuschungen, erst mit der dritten entstehen eine realistische Einschätzung.
In Sachen digitaler Demokratie haben wir die erste Phase sicher hinter uns. Es waren die Hoffnungen, eine neue Agora entstehe, ein herrschaftsfreier Raum für die Meinungsäusserung der aller Bürger. Das ist passé.
Das Internet gehört nicht jedem, sondern dem Silicon Valley und dem chinesischen Staat. Es dominierenden Amazon, Google und Facebook, aber auch Weibo und WeChat. Zudem sind die SocialMedia alles andere als sozial. Sie lassen enthemmte Aggressionen zu, verbreiten fake news schneller als fact news und polarisieren damit die Politik.
Wenn ich in die «Republik» oder «Das Magazin» schaue, denke ich manchmal, wir seien immer noch im Abschwung. Umso gespannter habe ich das Buch von Graf und Stern zu lesen begonnen. Heute nehme ich erfreut zur Kenntnis, dass sich uns eine realistischere Einschätzung der Zukunft eröffnet.

Ein Buch für den Kopf und eines für das Herz.
Eine Buchbesprechung mache ich hier nicht. Ich will aber sagen, dass mir insbesondere die schlichte Systematik des Buches gut gefallen hat:

• Es geht um BürgerInnen im Netz.
• Es geht um kollaborative Demokratie.
• Es geht um das hybride Mediensysteme.
• Es geht um das Potenzial von crowd-Kampagnen
• Und es geht um die Machtfrage in der Willensnation: Wer bestimmt die Zukunft, die etablierten Parteien und ihre Herausforderer, die digitale Jungpartei?

Wem das zu kopflastig ist, kann sich auch den Szenarien im Buch orientieren – eine Art Trendverlängerung. Da geht es mit vielen Anspielung um

• den Fondue-Score
• die «HelveticaAnalytica»
• das «Quartierbook»
• das «CiaoParlament» Bewegung resp. um
• den toten «political middleman»

Und, wer jetzt an den SocialScore in China dachte, an CambridgeAnalytica in Grossbritannieren, an Facebook aus dem Silicon Valley, an die neue Regierung in Italien oder an die gute alte Republikanische Partei in den USA, der oder die liegt nicht ganz falsch. Aber auch nicht ganz richtig.! Denn im heute erscheinenden Buch geht es primär um die Schweiz und die Folgen für die halbdirekte Demokratie unseres Landes.

Stärken und Schwäche der Schweizer Demokratie.
Die Schweizer Demokratie hat Stärken. Geschaffen wurde es von meist reformierten Bürgerlichen, die freisinnig dachten. Dank ausgebauten Partizipationsmöglichkeiten kamen schrittweise die Katholisch-Konservativen, die Bauern und die Arbeiter hinzu. Alle sie wurden, vertreten durch Parteien und Verbände, in den Staat integriert. Halbwegs gelungen ist auch die Integration der Frauen, wenigstens der aktiven.
Die Schwäche des politischen Systems ist, dass niemand wirklich Verantwortung trägt. Wenn es gut geht, stehen die meisten Gevatter, wenn es schlecht geht, ist lange niemand Schuld.
Die Populisten haben das gründlich geändert! Jetzt wissen wir, wer schuldig trägt, bevor wir erfahren, worum es geht. Denn es sind immer die anderen.
Dahinter verbergen sich aber auch reale Probleme. Mit der Globalisierung lassen sich untere Schichten immer weniger für die Politik gewinnen. Das Fassungsvermögen für Zugewanderte stosse an Grenzen. Bedroht sei nicht unser Reichtum, aber unsere Kultur.
Andere beklagen die Nonchalance der Generation X, denn sie wolle nur noch dafür bezahlen, was sie nutze. Verloren gehe so der Gemeinsinn. Neuerdings dreht sich alles um Netzsperren, die man leicht umgehen können, aber das Internet zerstörten. Ja: «Swissnet ist ganz pfui!»

Chancen und Risiken der Lekütre.
Welche Chancen bietet die Agenda für eine digitale Demokratie angesichts solcher Herausforderungen?
Wenn es um die Verlierer der Globalisierung geht, gibt es auch bei Graf und Stern kaum ein Programm. Klar ist dagegen, dass die kommenden Generationen in und mit dem Buch voll zum Zug kommen. Ich denke, für sie ist es auch geschrieben.
Natürlich machen es die gewieften Autoren auch spannend!
So lassen sie einen Blick auf den Wahlkampf 2019 zu. Dass die Lokalmedien aus dem letzten Loch pfeifen würde, habe Christoph Blocher gemerkt, als er die lokalen Gratisanzeiger zusammenkaufte. Sie wiederum wüssten, wie crowd-Kampagnen funktionierten. 2019 gehe es nicht mehr um das mühsame Geschäft des Ueberzeugens von ein paar WechselwählerInnen. Dafür werde sich alles um die Mobilisierung drehen. Statt kopflastig zu werben, empfehlen sie die Herzen zu erobern – wenigstens digital, sodass die Menschen in Kampagnen involviert statt berieselt würden. Von der Kälte des Regens hätten viele Szenen genug. Als Wähler Werber zu werden und sich auf Twitter zu outen, sei aber cool .
Am meisten Spannung bauen die Autoren auf, wenn es um die angekündigte digitale Jungpartei bei geht. Wer das sei, sagen sie nicht.
Ich denke, sie glauben an einen Mix aus Frechheit der Piraten, sozialliberale Grundhaltung von Andri Funiciello und dem Verantwortungssinn von Operation Libero.
Nun bin ich gespannt, was Sie zur kommenden digitalen Demokratie meinen – und zur Agenda hierzu, die Ihnen gleich vorgestellt wird!

Claude Longchamp
11. Juni 2018