Der Parolenspiegel spricht für ein Nein zur Ausstiegsinitiative. Aber …

Was kann man aus dem Parolenspiegel zur Ausstiegsinitiative herauslesen? Er liefert einen ersten brauchbaren Erfahrungswert zum Abstimmungsgang, den man aber gerade bei Atomfragen nur Vorsicht zur Kenntnis nehmen sollte.

Die Ausgangslage
Am Wochenende haben die letzten politischen Parteien ihre Position zur Ausstiegsinitiative der Grünen festgelegt. Demnach wird sie von links her unterstützt, von rechts her abgelehnt. Die Grenze liegt zwischen EVP und CVP, erstere ist dafür, letztere dagegen. Bestätigt wird damit, dass die Entscheidung zum schnellen Ausstieg aus der Atomenergie in der Mitte fällt. Aufhorchen liess dabei das Stimmenverhältnis an der CVP-Delegiertenversammlung, denn für die Nein-Empfehlung votierten nur zwei Drittel, ein Drittel hätte Zustimmung bevorzugt.

Tabelle: Übersicht über die Parolen der politischen Parteien zur Ausstiegsinitiative

parolen
Erläuterungen: Mittel 2012/15: Durchschnittliche Übereinstimmung der Parteiparole mit Volksmehr 2012-15, Mittel 2016: idem für 2016, N (2016) Zahl der übereinstimmenden Parolen (maxi 12)
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Wahrscheinlichkeit der Uebereinstimmung mit Volksmehr als Prädiktor

Punktgenaue Prognosen lassen sich dem Parolenspiegel alleine nicht machen. Hauptgrund ist hier, dass der Grad der Parolenbefolgung über die genaue Höhe von Zustimmung und Ablehnung entscheidet. Und dieser ist nicht ohne weitere bekannt. Beide aktuellen Befragungen gehen zwar davon aus, dass die Übereinstimmung der Stimmabsichten mit den Parteiparolen mehrheitlich gegeben ist – ausser in der Mitte, namentlich bei der CVP. Unsere Erhebung zeigt zudem, dass Parteiungebundene eher zum Ja neigen. Erfahrungsgemäss passt sich die Position der Parteiwählerschaften an die einmal gefällte Parole an. Bei der CVP spricht das für eine Abnahme der Zustimmungsbereitschaft. Bei Parteiungebundenen bleibt alles offen.
Eine weitere Möglichkeit, den Parolenspiegel zu nutzen, besteht darin, die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, mit der eine einzelne Parteiparole mit dem Volksmehr übereinstimmt. In der laufenden Legislatur führen hierbei FDP und BDP, während GPS und SP das Ende der Liste markieren. Letzteres war auch in der vergangenen Legislatur so, während BDP, CVP und GLP knapp vor FDP die Spitzenpositionen einnahmen. Ein einfaches Prognosemodell multipliziert deshalb die aktuellen Empfehlungen zur Ausstiegsinitiative mit dem Erfahrungswert für die Übereinstimmung mit dem Volksmehr und bildet aus den acht Zahlen den Mittelwert.
Stellt man auf die langfristige Gültigkeit der Parteiparolen als Prädiktoren ab, resultiert ein Nein bei der kommenden Abstimmung mit einer Wahrscheinlichkeit von 59 Prozent. Berücksichtigt man nur die Wahrscheinlichkeiten in der aktuellen Legislatur, erhöht sich der Wert gar auf 64 Prozent. Beides hat in erster Linie damit zu tun, dass linke Parolen weniger häufig mit dem Entscheid der Stimmbürger und Stimmbürgerinnen übereinstimmen als jene der Mitte oder Mitte/Rechts.

Der Durchschnitt und die Streuung

Nun sollte man auch diese Zahlen nicht als sture Prognosen verwenden. Denn sie sind nicht mehr als ein gemittelter Erfahrungswert für den Abstimmungsausgang. Er besagt, dass aufgrund des aktuellen Parolenspiegels ein Nein wahrscheinlicher ist als ein Ja. Doch es bleibt eine Streuung. Denn bei allen Atomabstimmungen war die Frontstellung unter den Parteien im wesentlichen gleich. Doch es variierte das Ergebnis von der Moratoriumsinitiative 1990 zu Ausstiegsinitiativen 2003 von über der Hälfte bis zu einem Drittel im Ja.
Sollte der Endwert für das Ja oder Nein auch diesmal abweichen, wäre das ein Hinweis darauf, dass kein durchschnittlicher Fall vorliegt, sondern ein spezieller. Spezifische Umstände, Vorlageninhalte und Prozesse der Meinungsbildung können dafür verantwortlich gemacht werden. Bei der angenommenen Moratoriumsinitiative waren dies der Tschernobyl-Umfall, der moderate Inhalt der Vorlage und der Elite/Basis-Konflikt bei der CVP.
Aktuell kann man der Fukushima-Hintergrund in diesem Sinn nennen. Die moderate Fassung des Ausstiegs aus der Kernenergie liegt allerdings mit der Energiestrategie 2050 vor, nicht mit der Ausstiegsinitiative. Was die spezifische Meinungsbildung angeht, kann man auf die Ereignisse im Abstimmungskampf hinweisen. Dazu zählt beispielsweise seit dem letzten Wochenende die Ankündigung verschiedener Betreibergesellschaften, bei einem sofortigen Ausstieg Entschädigungen in Milliardenhöhe zu verlangen. Auf jeden Fall kann man jetzt schon davon ausgehen, dass der Abstimmungskampf ereignisreich ist und beide Lager stark bemüht sind, die Entscheidungsmomente in ihrer Sichtweise der Dinge zu deuten.

Fazit
Nur mit dem klassischen Konzept der Konfliktlinien und den Parteiparolen alleine ist gerade einem Abstimmungsergebnis nicht beizukommen. Prädispositionen sind zwar wichtig, denn sie kommen ausgeprägt vor. Aber sie sind nicht alles. Aktuelle Umstände, Medieninformationen, Abstimmungskampagnen wirken sich ebenso auf das Ergebnis aus. Ihnen gehört bis zum Abstimmungstag die ganze Aufmerksamkeit!

Claude Longchamp