Machen Gefühle Geschichte?

“Im Wahlkampf muss man den Gefühlen Platz geben”, sagte Ueli Maurer vor den Wahlen 2007 – und gewann die Schlacht ums Parlament. 2011 hat das beispielhaft auf die FDP abgefärbt. “Aus Liebe zur Schweiz”, heisst es auf den Plakaten der Partei, die bisher betont sachlich auftrat. Eine Diagnose, was heute ist, und eine Kritik, was daran gut und weniger gut ist, anhand des neuesten Buches von Luc Ciompi und Elke Endert.

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Luc Ciompi, emeritierter Professor, einst medizinischer Direktor der sozialpsychiatrischen Universitätsklinik von Bern, und Vater der “Affektlogik” hat gemeinsam mit der Philosophin Elke Endert ein Buch über die Wirkungen kollektiver Emotionen verfasst, das dieser Tage unter dem Titel “Gefühle machen Geschichte” erschienen ist. Behandelt werden darin sowohl die Theorie wie auch die Praxis der Emotionen in der Politik, beispielhaft vorgeführt an Hilters Nastionalsozialismus, am Israel-Plästina-Konflikt, am Verhältnis des Westens zum Islam und an modernen Wahlkämpfen wie dem von Barack Obama. Nützlich ist das Buch, weil es sowohl wissenschaftlichen Grundlagen legt, wie auch philosophische Fragen stellt, was sich heute ändert.

“Ein Affekt”, liest man da, “ist ein evolutionär (=stammesgeschichtlich) verankerter ganzheitlicher körperlich.seelischer Zustand von unterschiedlicher Qualität, Dauer und Bewusstseinsnähe.” Was recht allgemein tönt, wird in der Folge systematisch entwickelt: Gefühle sind Energien, die, genauso wie die Informationsverarbeitung, unser Denken steuern. Was individuell unbetritten gilt, kann, so die Ueberzeugung der AutorInnen, auch auf Kollektive übertragen werden. So können kollektive Scham-, Schuld- und Demütigungsgefühle können soziale Explosionen auslösen.

Sieben Thesen sind dem Psychiater unser Gesellschaft wichtig:

1. Fühlen und Denken wirken ständig und zwingend zusammen.
2. Emotionen sind gerichtete Energien. Kollektive gleichgerichtete Energie führen zu mächtigen Massenwirkungen.
3. Emotionen üben vielfältige Schalt- und Filterwirkungen auf die kollektive Aufmerksamkeit, das kollektive Gedächtnis und das kollektive Denken aus.
4. Je nach Leitgefühl können im Alltag kollektive Angst-, Wut-, Freude. oder Trauerlogiken entstehen.
5. Mit der Zeit bilden sich umfassende gruppen- und kulturspezifische affektiv-kognitive Eigenwelten heraus, die sich als Mentalitäten oder Ideologien laufend selber bestätigen und konsolidieren
6. Kollektive Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster können sich bei steigenden systeminternen Spannungen sprunghaft verändern.
7. Die hier beschriebenen Wechselwirkungen laufen auf der Mikro- wie Makro-Ebene prinzipiell gleichartig ab.

Das Buch ist ein Plädoyer für eine neues Menschenbild – dem homo sapiens emotionalis. Ciompi und Endert sehen diesen nicht als Folge gesellschaftlicher Aenderungen, wie man das in den Sozialwissenschaften kennt. Vielmehr ist der neue Mensch das fortschreitende Produkt der Evolution, mit unabänderlichen Plus- und Minuspunkten.

Wie tief sich die öffentliche Meinung heute verändert habe, zeigten die emotionsbasierten Verkaufs-, Kommunikations- und Wahlkampfstrategien, die heute grosse Firmen, Generalstäbe und politische Gremien systematisch anwenden, bekommt man im zentralen Kapitel des Buch mit auf den Weg. Und weiter: Soziale Systeme funktionierten nicht rational, sondern systemrational, und das kollektive Denken und Handeln sei nicht logisch, sondern affektlogisch. Das mache Kollektive anfällig für Extremisten, die eine Art letzter Reserve darstellten, zu denen die Gemeinschaft in der Not wie nach einem rettenden Strohhalm greife.

Darin sieht der Mediziner gar eine Schwäche der Demokratie: Namentlich in Krisenzeiten seien Kollektivitäten emotional leicht beeinfluss- und verführbar, weshalb sich Fundamentalismus und Demokratie nicht ausschliessen würden, und demokratische Entscheidungen von kurz- statt langfrisitigen Ueberlegungen geprägt seien

Der 82jährige geistige Vater des Buches verfällt am Ende in Kulturpessimismus. Er sei überzeugt, dass wir im Zeitalter der Entfesselung lebten, schreibt er, das Janusköpfig sei: “Die Kehrseite der Befreigung des Denkens aus den Fesseln von Kirche und Tradition ist eine überhand nehmende ethisch-moralische Verunsicherung und Orientierungslosigkeit.” Da erschrickt er schon fast selber, sodass eine Nachbetrachtung über den untrügerischen menschlichen Sinn für das Schöne nachschiebt – als stimmiges Gleichgewicht zwischen Fühlen und Denken, oder präziser ausgedrückt, “zwischen emotionaler Energie und kognitiver Kanalisierung”.

Was man den AutorInnen lassen soll: Sie nehmen sich einem gigantischen Trend der Gegenwart an, und sie machen Vorschläge, wie man als WissenschafterInnen damit umgehen kann. Doch überzeichnen sie meines Erachtens die Logik des individuellen Handels, wenn sie es eins zu eins auf das der Kollektive übertragen. So werde ich mit dem Buch unter dem Arm dieses Jahr die Wahlen, den Wahlkampf, die Krisen, die kollektiven Gefühle, die entstehenden Verunsicherung, die Hoffnungen im Extremen und die Auswirkungen auf das Ergebnis zu beobachten versuchen – wenn auch eher analytisch als diagnostisch.

Aus Liebe zur Politik, deren Entwicklungen mir definitiv nicht gleichgültig sind. Psychiatrisieren werde ich die Politik aber nicht, denn das zeugt immer auch von einem gewissen persönlichen Unverständnis – was wir als WisenschafterInnen gerade übrwinden wollen.

Claude Longchamp