Zum Tod von Ralf Dahrendorf: der Soziologe mitten drin

In der Nacht der Wahl ins Europäische Parlament 2009 suchte ich angsichts der ersten Wahlergebnisse dringend Orientierung – und fand sie spontan bei Ralf Dahrendorf. “Resignation, Angst und Wut” hiess der Blogbeitrag, der geschrieben war, bevor das Endresultat feststand, um einen Pfad auszulegen, wie die grösste Wahl in Europa in der grössten Krise der Wirtschaft seit 1929 interpretiert werden könnte.

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Keiner von ihnen, aber einer mit ihnen und durch sie: Ralf Dahrendorf am 14. August 1969 in Auseinandersetzung mit protestierenden StudentInnen in Hamburg – das Ereignis, das den Soziologen allgemein bekannt machte

Es war wohl typisch, dass in dieser Situation die zahlreichen TheoretikerInnen der demokratischen Wahl stumm blieben. Und es war klar, dass kein Politiker, keine Politikerin, der oder die aufgrund von Sieg und Niederlage urteilte, für eine erste Wertung wirklich in Frage kam.

Ralf Dahrendorf, bei dem ich, wie so oft, fündig wurde, war fast schon anachronistisch in unserer Zeit. Denn er mischte sich stets gekonnt ein, formulierte durchdacht und traf den Moment jeweils präzise, wenn er sich äusserte. Stets befragte er hierfür unvoreingenommen soziale und politische Theorien nach ihren Ideen, zitierte er so oft vergessene, aber treffende empirsiche Ergebnisse, und mischte er das Ganze mit seiner Erfahrung als liberaler Politiker, um zu seinen Diagnosen zu gelangen, – sei es zu jener der protestierenden Studenten von 1968 oder jener der Pumpkapitalisten von 2008 aus der Wallstreet.

Ralf Dahrendorf verstand sich selber als Pendler zwischen dem, was Platon in der Politik in Königtum und Philosophie schied. Zwar hielt er die Scheidung des Griechen, der nicht gerade sein Vorbild war, für berechtigt. Doch forderte der kämpferische Intellektuelle auch die wechselseitige Befruchtung beider Sphären der Politik durch Wissenschafter, die sich in ihre Zeit einmischen, um Menschen ihrer Zeit der Wissenschaft zuzuführen. Denn die Menschen interessierten ihn am meisten, weil sie Freiheit und Ethik, Unmittelbares und Verbindliches miteinander verbinden konnte, wie es Dahrendorf in seinem homo sociologicus dargelegt hatte.

Ralf Dahrendorf war am 1. Mai 2009 80 Jahre alt geworden. Die Rede zu seinem Geburtstag hielt damals Jürgen Habermas, sein intellektueller Gegenspieler in vielem, was öffentlich debattiert wurde, aber auch sein Freund im Privaten, das nicht allen zugänglich blieb. Vom “Unheroischen unserer eigenen Lebenszeit” sei darin die Rede gewesen, konnte man lesen. Gesagt wurde das auch und gerade als Kompliment an die Adresse eines einzigartigen Zeitgenossen, eines unermüdlichen Wissenschaft und eines vorbildlichen Menschen.

Nun ist Ralf Dahrendorf tot, verstorben am Abend, bevor sein Gratulant vom Frühling seinerseits seinen 80er Geburtstag feierte.

Claude Longchamp