Der horse-race-journalism funktioniert auch ohne Umfragen bestens

Horse-race-Journalismus sei eine Folge demoskopischer Instrumente im Wahlkampf, beklagt die Prestigepresse gerne. Wie die NZZ am Sonntag zu den Bundesratswahlen zeigte, berichtet sie ganz ordentlich in diesem Genre, auch ohne sich auf Umfragen zu stützen.

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Man kennt die Kritik am horse-race-journalism vor Wahlen. Beklagt wird, der zentrale Vorgang in der Demokratie, die Auswahl aus Parteien und KandidatInnen, verkomme zum Pferderennen. Das erzeuge zwar Spannung, weil es darum gehe, wer die Schnauze gerade vorne habe. Es gehe aber nicht mehr um Inhalte für die Zeit nach der Wahl, sondern um die Dynamik vor der Entscheidung. Bewerbungen würden im Pferderennen-Journalismus nur noch relativ bewertet. Es interessiere das Schlechtere im Vergleich.

Zu den wiederkehrenden Vorwürfen gehört auch, dass er durch Wahlumfragen entstehe: Die Umrechnung von WählerInnenstimmen in -anteile erst erlaube den Vergleich, die Rangierung untereinander, die Dramatisierung von Unterschieden. Im zeitlichen Ablauf gesehen, verliert nicht,wer keine Stimmen mache, sondern solche einbüsse.

Gerade in Prestigemedien wird seit vielen Jahren in der weicheren Variante unterstellt, das alles gäbe es nur wegen den Umfragen vor Wahlen; der härtere Vorwurf lautet, es werde bewusst mit geringen Unterschieden gearbeitet, um künstliche Spannung aufzubauen.

Hätte es noch eines Beweises gebraucht, dass das alles nicht stimmt, hätte man ihn spätestens heute in der “NZZ am Sonntag” gefunden. Der innert Wochenfrist entbrannte Kampf um die Nachfolge von Pascal Couchepin im Bundesrat zwischen FDP und CVP wird als Pferderennen aufgemacht. Die “Blauen” werden von Parteipräsident Fulvio Pelli angeführt, knapp vor Pascal Broulis und Didier Burkhalter und Martine Brunschwig Graf, die praktisch gleichauf rennen. Aussenseiter bei der FDP sind Ignazio Cassis und Christian Luscher. Bei den “Orangen” wiederum liegt Urs Schwaller vorne. Mit einigem Abstand folgen Christophe Darbelley, Isabelle Chassot, Luigi Pedrazzini, während Jean-René Fournier und Michel Cina fast schon abghängt das Schlusslicht bilden.

Und dann: Nicht-Kandidat Pelli und Favorit Schwaller liegt haarscharf gleich auf, das skizzierte Ziel, die Bundesratswahl vom 16. September, vor Augen.

Was visuell klar hinüber kommt, braucht textlich nicht ausgefüllt zu werden: “Die Grafik zeigt, wie mögliche Kandidaten im Rennen liegen”, heisst es lapidar. Urs Schwaller sei Topkandidat, weil “alle seine Konkurrenten Handicaps aufweisen”, liesst man. Pelli wieder führe, obwohl er ein Kandidatur ablehne; doch seine Kantonalpartei habe ihn aufgefordert, “ins Rennen zu steigen”.

Meine Folgerung: Der horse-rece-Journalismus funktioniert auch ohne Demoskopie bestens, denn er ist eine gängige journalistische Form der Wahlberichterstattung. Alle kritischen Feststellungen hierzu funktionieren auch ohne demoskopische Untermauerung. Mit ihr könnte man die Bewertungen allerdings nachprüfbar machen und so auch Ursachen klären. Oder anders gesagt: Umfragen ermöglichen Pferderennen-Journalismus nicht erst, machen die journalistische Lieblingsform der Wahlberichterstattung aber transparenter.

Claude Longchamp