Ungarns macht Schluss mit der liberalen Demokratie

Die neunte Vorlesung zur “Wahlforschung zwischen Theorie und Praxis” beschäftigt sich mit Wahlen im europäischen Umfeld. Unter den aktuellen Entscheidungen sticht die ungarische heraus.

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Die jüngsten Wahlen in Ungarn haben weit über die Landesgrenzen hinaus Wellen geworfen. Das bisherige Regierungsbündnis unter Fidesz gewann und erreichte die Supermehrheit im Parlament. Damit kann die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban Verfassungsänderungen im Alleingang beschliessen.

Deutlich wurden auch die Schwächen des Wahlsieges. Die gut zwei Drittel der Parlamentssitze beruhen auf einem Anteil von nur 49 Prozent der Stimmen. Ungarn hat den höchsten Quotienten für die Disproportionalität des Wahlergebnisses in ganz Europa.

Mit der Regierungserklärung sieht Orban die liberale Demokratie am Ende, er strebt nach der “Christdemokratie des 21. Jahrhunderts”. Die EU erwägt Massnahmen gegen das Land wegen Missachtung ihrer grundlegenden Werte. Orban wiederum droht mit dem Veto zum EU-Haushalts.

Paul Lendvai, ausgewiesener Historiker Ungarns, nennt in seinem neuesten Buch vier Gründe für die politische Entwicklung unter Orban: dessen kommunikative Fähigkeiten, die Zerstrittenheit der Opposition, den Hang zur Verklärung der kommunistischen Vergangenheit und die hohe Bedeutung des ethnischen Faktors in der Politik.

Da knüpft auch die Kritik zahlreicher Politikwissenschaftler an. Der Regierungsstil sei populistisch, die Politik habe fremdenfeindliche Charakter und die Regierungspropaganda schrecke vor antisemitischen Appellen zurückschreckt. Reduziert worden seien die Gewaltenteilung, die Freiheit der Medien und der Wissenschaft.

Ungarns Demokratiequalität hat gemäss allen Transitions-Monitoren seit 2010 gelitten. “Freedom House” klassiert das Land nur noch als halb-konsolidierte Demokratie. Man habe reguläre Wahlen, höhle aber die Demokratie von Innen her aus. Gesprochen wird von einer “elektoralen Demokratie” oder gar von einer “elektoralen Autokratie”.

Claude Longchamp