Geschichte der Schweiz auf den Punkt gebracht

« A Concise History of Switzerland » – nicht mehr und nicht weniger kündigt ein Buch, das zwei Europäer für die Cambridge Serie zu kurzen und klaren Nationalgeschichten herausgegeben haben. Meine Lektüre.

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Der eine, Clive Church, ist Politologe, Verfasser mehrerer bemerkenswerte Bücher zum politischen System der Schweiz, während der andere, Randolph Head, Historiker ist und sich als Spezialist der Bündner Geschichte einen Namen gemacht hat.

Anders als die vielen Schweizer Geschichten, geschrieben von SchweizerInnen, die in aller Regel eine Erzählung von innen sind, legen der Brite und der Amerikaner ein Narrativ von aussen vor. Sie überblicken, was die Schweiz im europäischen Kontext ist, sie fragen, wie es dazu kam, und sie tönen an, was daraus werden könnte.

Ihre These: Zentral für das Verständnis der Schweizer Geschichte sind die staatlichen Institutionen, die ihre Anfänge im 15. Jahrhundert haben; sie wären aber nichts Besonderes, wenn es dank ihnen nicht gelungen wäre, europäische Kulturen, die sich im Mittelalter weit über den Raum der Schweiz hinaus entwickelt hatten, vor allem nördlich der Alpen zu integrieren.

Das Besondere an diesem Projekt orten die beiden Experten darin, dass es keine Dynastie war, welche die Schweiz erschuf, dass aber auch keine Konfession das erreichte, und die Schweiz nicht auf einer gemeinsamen Sprache gründet. Damit unterscheidet sich die Schweiz von ihren Nachbarn wie Frankreich, Deutschland, Italien, aber auch Oesterreich. Vielmehr orten die beiden Sozialwissenschafter die Geschichte der Schweiz als wichtigste Gemeinsamkeit: die Ereignisse einerseits, die Fakten also, ihre Erzählung oder Mythen anderseits. Erst beides zusammen erklärt, was die Schweiz ist – und was sie zusammenhält.

Die Schweiz, so ihre Auffassung vom Thema, sei die im 19. Jahrhundert entstandene Willensnation, welche die napoleonische Besatzung von 1798 in gewandelter Form überlebt habe und im 20. Jahrhundert von den Weltkriegen verschont, aber auch schockiert wurde und daraus den Sonderfall geschaffen habe. Aus europäischer Sicht zeichne sich die Willensnation dadurch aus, dass es ihr gelungen sei, Kriege, Katastrophen und Krisen zu überwinden und so ein System der friedlichen Koexistenz verschiedensten Menschen, Regionen und Kulturen entwickelt habe, wie man es sich andernorts nur wünschen könne.

Ihren Rundgang durch die Schweizer Geschichte, auf gut 300 Seiten verdichtet, gliedern sie in 9 Phasen: von der Vorgeschichte, die bis 1386 reicht, der Formung der Schweizer Eidgenossenschaft bis 1520, der grossen inneren Spaltung bis 1713, dem Ancien Régime bis 1798, der Zeit der Revolutionen bis 1848, der Entstehung der Nation bis 1914, der Zeit der Weltkriege bis 1950, und den Jahren des Sonderfalls bis 1990. Ergänzt werden die Kapitel durch eine knappe Chronologie einerseits, ein Glossar zu Fachbegriffen anderseits. Beides erleichtert es Nicht-SpezialistInnen im Thema, sich, wie versprochen, eine rasche und konzise Uebersicht zu verschaffen. Voraussetzung ist natürlich, dass man genügend englisch versteht.

Ueberrascht sein dürften Schweizer LeserInnen vor allem dadurch, dass Church und Head die Geschichte der Schweiz nicht 1291 beginnen lassen. Sie folgen damit dem vorherrschenden Trend in der Geschichtsschreibung der Gegenwart, die an der Gründungssage von Wilhelm Tell genauso zweifelt wie an der vorherrschenden Bedeutung der Rechtsgeschichte vom Bundesbrief zur Bundesverfassung. Vielmehr nehmen sie die Diskussion unter Schweizer HistorikerInnen auf, welche das 14. oder 15. Jahrhundert als Zeit der Staatswerdung sehen, begründet in der Bewältigung der Grossen Pest, in den Siegen während der Habsburgerkriege oder in der Regelung des Alten Zürichkrieges. Entstanden ist so der Zusammenschluss von Ligen oder Bündnissen, die im mittelalterlichen Westen mit Bern und Osten mit Zürich je ein Schwergewicht hatten, vermittelt durch das Innerschweizer Bündnis. Die Tagsatzung ist die erste gemeinsame Institution, basierend auf gemeinsamen Abmachungen für Konfession und Militär, 1370 und 1393 festhalten, die sich als typisch schweizerische Antworten auf Veränderungen als nützlich erwiesen, um habsburgische Eroberungen zu verwalten. Nicht verhindern konnten sie dagegen die konfessionelle Spaltung des Landes – ein europäisches Phänomen, das den frühen Charakter der Schweizerischen Eidgenossenschaft veränderte und das Wachstum nach Aussen stoppte. Später als in Europa kam es in der Schweiz zur Befriedung des heftigen konfessionellen Konfliktes, geregelt nach europäischem Vorbild durch Parität zwischen Katholiken und Reformierten, bezahlt mit dem Preis der inneren Immobilität. Um diese zu überwinden, brauchte es den revolutionären Anstoss von aussen, der den Staat entstehen liess, der mit Föderalismus und direkter Demokratie Nation und Herrschaft einschränkt resp. kontrolliert, ohne Einheit und Handlung zu verunmöglichen.

Auch in ihrer Analyse der Gegenwart mögen die Autoren das heimische Publikum zu verunmöglichen. Weder machen sie einen auf Idealisierung oder Beschimpfung, der Schweiz, noch loben oder tadeln sie deren Leistungen. Vielmehr lassen sie eine eindeutige Antwort darauf, ob der Sonderfall vorbei sei oder nicht, offen. Zwar erachten sie die historische Phase mit dem Ende des Kalten Krieges mit der Neutralität als Leitmotiv des staatlichen Handelns für beendet; sie bleiben aber vorsichtig zurückhaltend bei der Charakterisierung des Normalfalls.
Die Globalisierung bringe eine Neuorientierung der Politik gegenüber der EU, aber auch gegenüber Flüchtlingen. Wirtschaftliche Prosperität, im Kalten Krieg die Grundlage des schweizerischen Zusammenhalts, sei, objektiv und subjektiv nicht mehr gesichert, was populistischen Kräften gleich wie in Europa, aber früher und stärker als anderswo Auftrieb gebe. Der übergeordnete Konsens schwinde, verbunden mit der Abkehr vom Pragmatismus. Polarisierungen zwischen Aussen- und Binnenorientierung hätten Konjunktur. Swissness entstehe, um die Besonderheit in der Masse gegen liberale Vorstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft abzugrenzen. Doch vermöge auch sie sich, genauso wenig wie der Internationalismus alleine durchzusetzen: „Neither conflict nor continuity alone capture the Swiss trajectory: it is their intertwining, captured in history and myths, in institutions and in culture, that make modern Switzerland both a distinctive and a profoundly European construct, and one deserving of being better known.“

Eben: A concise history of Switzerland!

Claude Longchamp

Clive H. Church, Randolph C.Head : A Concise History of Switzerland. Cambridge University Press 2013