(In)Toleranz gegenüber ImmigrantInnen wissenschaftlich untersucht

Die Berner Politikwissenschafterin Carolin Rapp hat sich in ihrer Dissertation mit der (In)Toleranz gegenüber Immigrantinnen beschäftigt. Sie belegt darin, dass Berohungslagen Intoleranz fördern, regelmässige Kontakte dies verhindern kann, und die Wirkung beispielsweise des Gesundheitswesens ambivalent ist.

Toleranz – ein grosses Wort

Toleranz ist ein grosses Wort. Entstanden ist es mit der Religionsspaltung in Europa. Seine heutige Ausprägung hat es mit der Aufklärung erhalten, denn seither geht es um die Duldung von Ansichten, die man selber nicht teilt. Mit dem Entstehen von multikulturellen Gesellschaften erfreut sich der Begriff einer erneuten Aufmerksamkeit, ebenso wie das Gegenstück, die Intoleranz oder Nicht-Duldung. Das gilt ganz speziell für die (In)Toleranz gegenüber ImmigrantInnen in Einwanderungsgesellschaften.

Wissenschaftlich debattiert wird über (In)Toleranz namentlich in Theologie und Philosophie. Vor allem in den USA haben sich die Sozialwissenschaften dem Thema angenommen. Carolin Rapp, Oberassistentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern, ist mit ihrer eben erschienenen Dissertation bestrebt, die Debatte auf Europa und insbesondere die Schweiz zu übertragen. Beobachtungsfelder sind dabei Gruppen oder Menschen, die andere stören, wobei man als Gestörte auf zwei Arten reagieren kann: durch Ablehnung resp. durch Duldung in Gesellschaft und Politik.

Theorie und Empirie der sozialwissenschaftlichen Toleranzforschung
Theoretisch sieht die junge Politologin Toleranz aus persönlichen Beziehungen entstehen. Erklärungen des Phänomens vermutet sie zunächst auf der individuellen Ebene. Zentral ist ihr die wahrgenommene Bedrohung. Sie bestimme die Verbreitung von Toleranz. Je mehr man sich ökonomisch oder kulturell bedroht fühle, desto wahrscheinlicher sei man intolerant.

Konkret formuliert Rapp in ihrer bei Markus Freitag und Bettina Westle verfassten Dissertation neun, teils neue Hypothesen, die sie anhand verschiedener Datensätze aus Europa (vor allem Eurobarometer) und der Schweiz (speziell Freiwilligen-Monitor) überprüft. Einfach gesprochen stützen die Tests die Annahmen der Forscherin weitgehend, wenn auch teilweise in modifizierter Form.

Namentlich erfüllt sieht Rapp den grundlegenden Zusammenhang zwischen individuell wahrgenommener Bedrohung und politischer wie auch sozialer Toleranz. Insbesondere anhand der Untersuchung zur Schweiz plädiert sie zwingend für eine Unterscheidung zwischen ökonomischen und kulturellen Bedrohungsgefühlen. Es gilt: Je stärker das eine oder andere ausfällt, umso geringer ist der Grad an Toleranz.

Beeinflusst wird dies zunächst durch das unmittelbare Umfeld. Ein steigender Anteil an MigrantInnen oder an Personen mit nicht-christlicher Religionszugehörigkeit (und hier vor allem an MuslimInnen) in der unmittelbaren Umgebung beeinflusst das Mass an (In)Toleranz.

Rapp sieht vor allem die Annahmen der Intergruppentheorie bestätigt. Demnach führt mehr Diversität zu einem erhöhten Wettkampf um vorhandene Ressourcen, was zu Ablehnung von Fremdgruppen führe und Intoleranz stärke. Dies basiere auf dem Bedürfnis, seinen eigenen sozialen Status durch die Verweigerung bestimmter sozialer und politischer Rechte gegenüber der Fremdgruppe zu schützen.

Nun ist das aber nicht einfach so, sondern auf mehrere Arten mitbeeinflusst, hat die Forscherin herausgefunden. Hier wird die Doktorarbeit besonders spannend. Denn es geht darum, in welchem Masse individuelle Kontakte helfen, postulierte und nachgewiesene Zusammenhänge zu moderieren. Die Autorin untersucht zudem, welchen Einfluss Institutionen und Sozialsysteme haben können.

Denn nun wird den Lesenden des knapp 300-seitigen Buches klar, dass (In)Toleranz nicht einfach strukturell und kulturell determiniert ist, sondern via individuellem Verhalten und kollektiver Regelungen gesteuert werden kann. Zuerst gilt: Mehr Kontakte beispielsweise zu ImmigrantInnen führen zu mehr Toleranz. Dann stimmt es, dass vor allem regelmässige Kontakte erwartbare Effekte aus der Umgebung abbauen können.

Das mag die Freunde der Toleranz freuen und sie bestärken, konkrete Vernetzungsarbeit vor Ort zu propagieren. Mehr Mühe dürften sie jedoch mit dem letzten, zugleich brisantesten Ergebnis der Studie haben. Demnach können auch Institutionen, die ursprünglich auf Einbezug oder Inklusivität ausgerichtet waren, Intoleranz befördern. Konkret: Ein umfassendes Gesundheitswesen zeigt bei steigenden Kosten keine Effekte der Integration von ImmigrantInnen mehr. Vielmehr ist mit Ausgrenzung zu rechnen, denn auch hier nehmen Verteilkämpfe zu.

Würdigung
Ihre Arbeit habe, schreibt die Doktorin, verschiedene Stärken: der Nachweis der Bedrohungslage auf die (In)Toleranz als Erstes; die Moderation des Zusammenhangs durch Kontakte und Institutionen als Zweites. Eine Schwäche ortet sie darin, dass die Kausalität nicht immer klar sei: So ist die Beziehung zwischen Kontakt mit Immigranten und Toleranz ihnen gegenüber stark endogen. Das führt sowohl dazu, dass mehr Kontakte mehr Toleranz bringen als auch, dass Tolerante mehr Kontakte pflegen. Mit den vorliegenden Befragungen könne man nicht entscheiden, was hier Huhn und was Ei sei.

Mir ist die Arbeit von Carolin Rapp vor allem aufgefallen, weil sie ein aktuelles Thema aufgreift, ohne eilfertige Antworten vorzuschieben. Vielmehr wird die Ausbildung von Toleranz und Intoleranz in gemischten Gesellschaften systematisch untersucht, ohne auf eine alles erklärende These hinzuarbeiten. Das braucht in einer Dissertation Mut, steigert aber ihren Wert.

Ich kann es auch so sagen: Dass Kontakte zwischen verschiedenartigen Menschen Distanz zwischen ihnen abbaut, vermutet man in der relevanten Literatur seit 40 Jahren; dass Bedrohungslagen ökonomischer oder kultureller Natur zu Ausgrenzungen führen, hat nicht zuletzt die jüngere Kontroverse über die Personenfreizügigkeit gezeigt. Dass nun auch der Charakter von Sozialsystemen einbezogen werden kann, um das Ausmass an (In)Toleranz wissenschaftlich zu erklären, habe ich vor der Lektüre des Buches von Carolin Rapp so klar nie vorgeführt bekommen.

Oder etwas prägnanter: (In)Toleranz ist tatsächlich ein grosses Wort. Es lohnt sich, sich damit vorbehaltslos vertieft und differenziert zu beschäftigen, wie die Prionierarbeit von Carolin Rapp zur Verwendung politischer Kampfbegriffe in den Sozialwissenschaften zeigt.

Claude Longchamp