Wie wir uns selber täuschen, wenn wir unsicher sind, was ist.

Ein kleiner Gedanke zu den Reaktionen, die ich bekomme, wenn wir abstimmungsbezogene Umfragen publizieren. Keine Kritik an niemanden, aber ein Experiment, das sich lohnt, bei sich selber zu machen, um sich zu durchschauen.

Die meisten Reaktionen sind typisch. Von einem meiner Auftritte im Fernsehen zu Umfragen bleibt am häufigsten Aeusserliches. Zum Beispiel die neue Umgebung der Präsentation. Die Bücherwand mit dem Asterix-Band im Hintergrund. Oder das ich mich am Morgen beim Rasieren geschnitten hatte, und man das Stunden später noch sah – in der Grossauflösung.

Aufgrund der übrigen Reaktionen schliesse ich: Geblieben sind auch wenige Zahlen. Beispielswseise jene zum zustimmenden Anteil bei der Zweitwohnungsinitiative, die zahlreiche Gegner in den betroffenen Gebieten schockierte.

Die Kognitionswissenschaft vergleicht das schon mal mit einem ausgeworfenen Ankern. Je unübersichtlicher die Verhältnisse seien, umso eher bleibe ein möglichst konkreter Befund haften, lautet die entsprechende Analyse.

Was meint man damit? Mit der Problematik von Zweitwohnungen haben wir, in der politischen Oeffentlichkeit, wenig Erfahrungen. Eine vergleichbare Abstimmung, die uns gut in Erinnerung wäre, gibt es nicht. So schiessen die Spekulationen ohne Grundlage ins Kraut. Deshalb bezieht man sich zum Beispiel auf einfache Verhaltensannahmen. In den betroffenen Gebieten sei man geschlossen dagegen, und in den übrigen Regionen beurteile man das aufgrund des Wunsches, eine Zweitwohnung zu erwerben.

Ich will die Richtigkeit solcher Ueberlegung ein wenig bezweifeln. Denn solche Interessendefinitionen sind häufig wunschgeleitet sind. Wer möchte, dass die Initiative scheitert, sammelt alles, was dagegen spricht und formuliert so seine Erwartungen. Besser wäre esallerdings, auch das Gegenteil zu machen, das heisst alles zu sichten, was zugunsten der Initiative erwähnt werden kann, und zu überlegen, wer dann alles dafür stimmen müsste.
Allein das würde zu mehr selbstkritischer Reflexion führen. Denn diese ist nötig, will man sich nicht selber täuschen. Die gleiche Kognitionswissenschaft kennt nebst der genannten Ankerheuristik zahlreiche andere Mechanismus, die unsere Wahrnehmungen leiten. Sechs weitere Beispiele mögen meinen Gedankengang verstärken:

der übertriebene Optimismus: Je parteiischer wir sind, umso optimistischer sind wir, Recht zu haben oder zu bekommen.
die Selbstüberschätzung: Je parteiischer wir sind, umso eher überschätzen wir uns selber.
die Bestätigungs-Tendenz: Je früher wir uns festgelegt haben, desto eher suchen wir nach Bestätigung, und blenden wird Zwischentöne aus.
die Konservatismus-Tendenz: Je früher wir uns festgelegt haben, desto resistenter sind wir einer Neubeurteilung.
die Verallgemeinerungs-Heuristik: Ein paar Bestätigungen unserer Annahmen reichen, und wir sind sicher, richtig zu liegen.
die Verfügbarkeits-Heuristik: Je greifbarer Informationen sind, desto eher halten wir sie für richtig.

Um eines klar zu sagen: Das alles macht unseren Messwert weder schlechter noch besser. Er ist, in engen Grenzen, für den Moment der Erhebung richtig. Was daraus bis zum Abstimmungstag wird, ist eine Sache, die auf einem späteren Blatt beschrieben werden wird.

Mit meinem Beitrag wollte ich indessen Hinweise geben, warum wir solche Zahlen zu Unrecht für richtig oder falsch halten.
Weil wir uns von ganz bestimmten Tendenzen, Routinen und Selbstbildern bestimmen lassen. Die haben mit allgemeinen menschlichen Schwächen zu tun, aber auch mit unserem Standpunkt in der Sache und der vorläufigen Entscheidung.

Vielleicht ist es ganz ratsam, nicht einfach bei Hintergründen oder einzelnen Zahlen stehen zu bleiben. Dafür ein paar Mechanismen zu durchschauen, die unser über Gebühr optimistisch oder pessimistisch stimmen – bevor wir effektiv stimmen!

Claude Longchamp