Was ich mit der Vorlesung zur Wahlforschung erreichen will

Die Vorlesungszeit hat begonnen: In Zürich unterrichte ich im Bachelor-Programm der Politikwissenschaft erneut Wahlforschung – in Theorie und Praxis. Hier meine Absichtserklärung.

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Ort des Geschehens: Das neue Gebäude des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Zürich

Fünf Ziele hat die Wissenschaft, will ich meinen Studierenden der Politikwissenschaft an der Universität Zürich während der Vorlesung zur Wahlforschung beibringen:

. die Beschreibung der Wirklichkeiten bei Wahlen
. die Erlärung von Ursache-/WirkungsZusammenhängen
. die theoretische Begründung von
. die Prognose von Ereignissen und
. das Handeln als Wissenschafter.

Jede dieser Zielsetzungen ist anspruchsvoll, wie mit nicht zuletzt bei der Vorbereitung wieder einmal klar geworden ist.

Denn Medien beschreiben einem, was ist, doch machen sie das nach ihrer eigenen Logik, der die Wissenschaft nicht folgen muss. Ursache- und Wirkungszusammenhänge scheinen Berater besser zu kennen als Forscher, was auf die Akteure ausstrahlt und die Aufgabe der Wissenschaft nicht erleichtert. Theorien wiederum hat die Wissenschaftsgemeinschaft entwickelt, doch stammen die meisten aus den USA – und sind durch das politische System geprägt, genauso wie in vielem amerikanischen Kultur mitschwingt. Bei den Schwierigkeiten, welche der Prognose von Ereignisse innen wohnen, muss man gar nicht so weit ausholen; die eigenen Erfahrungen reichen da. Und last but not least, wird das Handeln als Wissenschafter schnell missverstanden.

Letzteres war auch schon in den ersten Diskussionen während der Lehrveranstaltung der Fall. Das hat wohl damit zu tun, dass Politikwissenschaft – gerade während dem Studium – kontemplativ ist. Der zentrale Studienmodus ist der des Schauen, bisweilen der Beschaulichkeit. Erklärungen, die man dazu anbringt, haben überwiegend den Charakter der ex-post-Erklärung. Häufig sind die induktiver Natur, eher selten deduktiver. Vorhersagen muss man während der ganzen Ausbildung zur PolitikwissenschafterIn allermeistens nichts – und ist vielleicht genau deshalb erfolgreich.

Mir geht es, mit der Vorlesung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis, um mehr: Zum Beispiel um die rasche Vermehrung von Politologen in der Wahlpraxis.

Nicht nur, weil zahlreiche Kandidierende ein politikwissenschaftliches Studium hinter sich haben. Auch, weil PolitologInnen heute GeneralsekretärInnen von Regierungsparteien sind, in Wahlausschüssen arbeiten, die Wahlkämpfe durchziehen, in grosser Zahl in Medien darüber berichten oder als ExpertInnen für Medien arbeiten. Dafür werden sie kaum vorbereitet. Mehr noch, auch PolitikwissenschafterInnen, die sich nicht so nahe an die Aktualität wagen, handeln heute zunehmend in Anwendungsfeldern: beileibe nicht nur als PraktikantInnen in Wahlstäben amerikanischer PräsidentschaftskandidatInnen, immer mehr auch als WahlhelferInnen in neuen Demokratien, wo sie daran beteiligt sind, eine vernünftige Wahlpraxis auszubauen. Nicht zuletzt werden PolitikwissenschafterInnen, gerade auch aus der Schweiz, an vielen Orten um Rat gefragt, wie Wahlen konzipiert sein sollten, damit sie ihrer vornehmsten Aufgabe, dem friedlichen Machtwechsel gerecht werden, und nicht selber zum Anlass für Gewalt werden. Daran zu arbeiten, ist eine der anspruchsvollsten Herausforderungen, auf die man sich frühzeitig einstellen sollte.

Oder um noch deutlicher zu sagen: WahlforscherInnen, aber auch WahlexpertInnenen sollen zurecht ein politikwissenschaftlichen Studium machen können, dass nicht ideologisch geformt ist, indem nicht nur die Aktualität den Takt angibt. Meines Erachtens braucht es indessen keine Hyper-Spezialisten, die theoretisch alles kennen, von der Praxis aber keine Ahnung haben, die fast alles wissen, aber über fast nichts. Nebst dem Können in der Forschung geht es mir auch um Fragen der Relevanz von wissenschaftlichem Wissen, das sich nicht scheut, bisweilen mitten im Geschehen zu stehen, ohne zu glauben, man sei bloss Techniker und ohne zu meinen, man sei der Guru, indes, wie es Jürgen Habermas formulierte, ihren eigenen Diskurs im Dialog mit der Politik führen, wobei Ziel und Mittel des politischen Handelns zum Vorteil beider Seiten aktiv verhandelt werden.

Claude Longchamp