Der gereifte Mischling

Die Geburt der modernen Schweiz von 1848 – und was bis heute daraus wurde.

Rede von Claude Longchamp zum 12. September 2018, dem 170. Geburtstag des Bundesstaates

Bern, ehemaliges Rathaus zum Aeusseren Stand

Es gilt das gesprochene Wort

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Meine Damen und Herren,
sehr verehrte Gäste aus dem Aus- und Inland

Die USA wurde am 4. Juli 1776 von der britischen Krone unabhängig. Wären wir Amerikaner und Amerikanerinnen, würden wir unsere Unabhängigkeit vom Kaiserreich feiern. Eingeladen wären Sie in dem Fall erst auf den 24. Oktober, und ich würde von 1648 berichten.
Frankreich wiederum feiert den 14. Juli 1789 als Nationalfeiertag. Wären wir Franzosen, ginge es bei der Feier um den 12. April 1798, den Tag, an dem wir zur Nation erklärt wurden.

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Doch sind wir Schweizer und Schweizerinnen!
Und wir rätseln, was wir feiern sollen. Auf der Frontseite des Parlamentsgebäudes stehen zwei Gründungsdaten: 1291 und 1848.
Vom 1. August 1291 sind die traditionsbewussten Landsleute fest überzeugt. Damals hätten sich die Urschweizer für immer gegen Habsburg verbündet. Die Historiker sagen, das sei Erzählung, unser Mythos.
Am 12. September 1848 wurde der Bundesstaat von heute gegründet. Die erste Bundesverfassung bezeugt das Datum auf den Tag genau. Und auf den Ort genau. Denn die Staatsneugründung war hier, im Äusseren Stand der Bundesstadt, wo wir nun versammelt sind.

Was wir am 12. September feiern
Wir feiern diesen Anlass üblicherweise nicht, weil der Bundesstaat aus einem Bürgerkrieg hervorging.
Den Katholisch-Konservativen war die Schweizerische Eidgenossenschaft nach 1845 zu radikal geworden. Sie schlossen sich zu einem separaten Bund zusammen. Österreich, Preussen und Russland hielten zu ihnen.
Die Liberalen bestanden auf der Einheit; Grossbritannien war auf ihrer Seite.
Mehrere 10‘000 Soldaten der Schweizer Armee schlugen den Aufstand nieder. 150 Mann blieben liegen.

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Nach diesem Bürgerkrieg übernahmen die Sieger die Macht in allen Kantonen. Sie bestellten eine Kommission, um den Bundesvertrag des Wiener Kongresses zu überarbeiten. Erst als sie sich entschied, ein Zwei-Kammern-Parlament wie in den Vereinigten Staaten von Amerika zu schaffen, kam es zur Entspannung.
15 1/2 Kantone stimmten für die Bundesverfassung, 6 1/2 waren dagegen. Gemäss Mehrheitsprinzip war die Verfassung demokratisch angenommen.

Der Durchbruch zur Moderne
1848 entstand ein souveräner Staat ohne Monarch oder Monarchin. Garantiert wurde er durch eine selbsterlassene Verfassung, mit Grundsätzen der Gewaltenteilung und Demokratie.

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Gesiegt hatte die Volkssouveränität.
Gewahrt wurde die Kantonssouveränität.
Gefunden wurde mit dem Bundesstaat ein Kompromiss.

Die Leistungen 170 Jahre danach sind beachtlich – gerade auch im internationalen Vergleich.
Das World Economic Forum, kurz WEF, bezeichnet die Schweiz als wettbewerbsfähigste Wirtschaft der Welt.
Die UN-Organisation für Geistiges Eigentum klassiert uns als das innovativste Land.
Der Global Peace Index der University of Sydney lobt unsere Friedfertigkeit.
Das Demokratie-Rating der Universität Göteborg macht gleiches mit unserer Demokratie.

Schweizerische Staatskunst
1848 war ein europäisches Revolutionsjahr. Liberale und soziale Bewegungen strebten nach Freiheit und Gleichheit.
Der Bundesstaat war die einzige Staats(neu)gründung von Dauer. Rund herum herrschten bald wieder überall Könige und Kaiser.

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Politologen sind heute überzeugt, der Erfolg von 1848 liegt in der Kombination von Demokratie und Föderalismus. Demokratie versprach mit dem Mehrheitsprinzip vereinfachte Entscheidungen. Der Föderalismus gab ihren Widersachern Raum und schützte Minderheiten.
Schweizerische Staatskunst lehrt uns heute, die relevanten Kräfte in die Regierungen einzubinden.
Behörden brauchen eine ausgewogene Zusammensetzung.
Mehrheiten müssen ein Sensorium für Vielfalt entwickeln.
Namentlich kulturelle Minderheiten haben ein Anrecht auf autonome Räume.
Vor allem wissen wir, informelle Kontakte quer über gesellschaftliche Gräben schaffen bei uns Vertrauen.
Das alles musste jedoch erst gelernt werden!

Die anfänglich freisinnige Herrschaft
Bei den ersten Parlamentswahlen eroberte der Freisinn drei Viertel der Sitze. Die Regierung bildeten sie alleine aus ihren Reihen. Kein Bundesrat kam aus einem Kanton, der dem Sonderbund angehört hatte. Immerhin, der freisinnige Bundesrat hatte fünf Reformierte und zwei Katholiken. Und je ein Vertreter der Sprachminderheiten wurde ins Siebner-Gremium gewählt.

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Aussenpolitisch handelte der Bundesrat pragmatisch, innenpolitisch mit fester freisinniger Hand.
Leuchttürme der Politik im jungen Bundesstaat waren die Gründung der Schweizer Post und die Einführung des Schweizer Frankens. Mit dem neuen Polytechnikum in Zürich, der heutigen ETH, kam eine eigene Hochschule hinzu. Aussenpolitische Sternstunde war die private Entstehung des Roten Kreuzes, heute das IKRK.
Das Verfassungswerk von 1848 hatte indes Mängel. Die Petitionen gegen den privaten Eisenbahnbau waren wirkungslos. Den Juden verweigerte man die Grundrechte, und ein dauerhaftes Bundesgericht gab es nicht.
Für die erste Verfassungsrevision brauchte es drei Anläufe. Sie gelang 1874 und brachte insbesondere das Referendum.
Neu hatten die Stimmbürger ein effizientes Veto in ihren Händen, um Gesetze zu Fall zu bringen.
1891 kam die Volksinitiative dazu, mit der die Verfassung neu Artikel für Artikel revidiert werden konnte.
Das war nach der Staatsneugründung von 1848 der zweite grosse Einschnitt.

Lernprozesse dank Volksrechten
Macht ist die Möglichkeit, nicht lernen zu müssen, lehrte der tschechisch-amerikanische Politikwissenschafter Karl W. Deutsch. Die Volksrechte zwingen die Behörden zum Lernen. Sie verteilen die Macht besser. Sie differenzieren politische Lösungen.

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Die Zunahme von Volksabstimmungen hatte einen unerwarteten Effekt: Je mehr wir abstimmten, desto kleiner wurde der Anteil Ausgänge im Sinne der Opposition.
Opponenten lieben Volksabstimmungen. So können sie protestieren. Gefragt sind allerdings mehrheitsfähige Vorschläge, oder man verschwindet von der politischen Bühne.
Parlamente wiederum lieben es nicht, in Volksabstimmungen unterzugehen. Sie verhindern das, indem die Mehrheit mit der Minderheit referendumsfeste Lösungen sucht.
Kontrolliert werden Regierung und Parlament durch Interessengruppen. Nehmen die Behörden einseitige Standpunkte ein, drohen letztere mit dem Veto.
Zur weiteren Mässigung beteiligte die FDP der Reihe nach die heutige CVP, die heutige SVP und die heutige SP an der Regierung. Das band Katholiken, Bauern und Arbeiter ein und baute Konflikte ab.

Konsens- vs. Konkurrenzdemokratie
Konsensdemokratien sind das pure Gegenteil von Konkurrenzdemokratien. Der US-Politologe Robert Dahl definierte Demokratie als Wettbewerb, als «competition by elites and decisions by the people».

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Wir beseitigten die geschlossene Gesellschaft aus der Zeit vor der Französischen Revolution. Erfüllt!
Wir halten die politische Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen ausgesprochen hoch. Ebenfalls erfüllt!
Einzig mit dem politischen Wettbewerb um die politische Macht hapert es.
Die FDP ist seit 170 Jahren ununterbrochen Regierungspartei. Weltrekord! Nur ist gemäss der angelsächsischen Demokratie-Definition der periodische Regierungswechsel unabdingbar. Sie unterstellt uns, wir seien auf halbem Weg zur Wettbewerbsdemokratie stehen geblieben. Wir funktionierten wie eine Hegemonie mit hohem Einbezug für Eigengruppen, aber Ausschluss von Fremdgruppen.

Hegemonien halten sich länger
In einem Punkt hatten unsere Kritiker recht: Der Schweizer Bürger und Politiker war lange ein Mann! Die Schweizer Männer bekamen 1848 das Wahlrecht früher als viele andere. Dafür klammerten sie sich länger als andere an das Privileg. Erst im zweiten Anlauf votierten sie 1971 für das Stimm- und Wahlrecht für Frauen.

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Seither nutzen die Frauen die politischen Rechte wie Männer. Die Themen sind vielfältiger geworden. Frauen politisieren heute selbstbewusst. 2010 waren sie im Bundesrat erstmals in der Mehrheit. Doris Leuthard, eine Bundesrätin aus dem Mehrheitsquartett, meinte jüngst im Interview, man habe damals mutiger politisiert.

Keine reine Konsensdemokratie mehr

Seit den 1970er Jahre sind wir keine reine Konsensdemokratie mehr. Früheste Zeichen waren Jugendproteste und fremdenfeindliche Bewegungen. Forderungen nach mehr Nachhaltigkeit kamen hinzu. Sie stellten das Fortschrittsdenken von links her in Frage. Die Europafrage wiederum spaltet das bürgerliche Lager von rechts her.
Nationalkonservative, rotgrüne und neoliberale Weltanschauungen polarisieren in verschiedene Richtungen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie die politische Mitte meiden. Diese droht, zerrieben zu werden.
Auch die Jungparteien sind häufig ideologisch ausgerichtet, ganz anders als die nachkommenden Generationen selber. Die meisten jungen Erwachsenen von heute sind individualistisch, fragen nach Lösungen für dringende Probleme wie den künftigen Renten, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, dem Zusammenleben mit Zugewanderten.

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Das alles erschwert die Strategiebildung! So verharren wir in der Europafrage zwischen Abseitsstehen und Mitgliedschaft gegenüber der EU. Solange diese das hinnimmt, hat es für uns Vorteile. Doch wird es ungemütlich, wenn dem nicht mehr so ist.

Ein Hybrid mit Potenzial
Wir sind ein Hybrid, wie ein modernes Automobil mit verschiedenen Motoren.
Wir haben kein präsidentielles Regierungssystem. Uns fehlt der Glaube an allmächtige Staatsmänner. Wir sind auch kein parlamentarisches System. Misstrauensvoten gegen die eigene Regierung sind uns fremd.

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30 Jahre Analysen der schweizerischen Politik haben mich gelehrt: Aus dem jungen Bundesstaat von 1848 ist ein gereifter Mischling geworden.
Französische Citoyens legten die revolutionäre Basis. Deutsche Intellektuelle lehrten uns früh Staatsrecht. Amerikanische Pragmatiker wiesen uns den Weg zum dauerhaften Bundesstaat. Doch die Volksrechte haben wir selber erfunden!
Wir haben eine Kollektivregierung. Sie funktioniert als Kollegium. Dazu müssen sich die sieben Mitglieder immer wieder neu finden. Das stabilisiert stets von Neuem.
Ist das nicht der Fall, kontrollieren einflussreiche Vetogruppen und gelebte Volksrechte ihre Politik.
Friedlich – seit 1848 und bis heute: Das dürfen wir heute mit Grund feiern!

Prognose der Schweizer Parlamentswahlen 2019. Forschungsseminar im HS18 am IPW der Uni Bern

Kann man Wahlen prognostizieren? – Die Antworten in der Oeffentlichkeit sind kontrovers. Durchgesetzt hat sich in den (Sozial)Wissenschaften, mit speziellem methodischem Vorgehen und in bestimmten Grenzen sei das trotzdem möglich.

Wahlprognosen

Bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 traf der Polit-Historiker Allan Lichtman ins Schwarze. Er prognostizierte nüchtern einen Regierungswechsel mit Donald Trump. Er sollte Recht bekommen – genauso wie er alle US-Präsidenten seit 1984 richtig vorausgesagt hatte. Auch der Politikwissenschafter Harald Norpoth lag mit einem Verfahren richtig, das den nachmaligen Präsidenten aus den Vorwahlergebnissen erkennt.

Drei empfehlenswerte Vorgehensweisen
Systematische Evaluierungen von Wahlprognosen verweisen neuerdings auf drei denkbare Vorgehensweisen:
. die Aggregierung von Einzelbeobachtungen
. die Synthese verschiedener Prognosenverfahren und
. Strukturmodelle, um ein Wahlergebnis aus bekannten Verhältnissen abzuleiten.

Stand in der Schweiz
In der Schweiz steht der Einsatz solcher Vorgehensweisen erst in den Anfängen. Die “Prognosen” blieben auf Umfragen und ihre Kritik fixiert.
Das soll überwunden werden!
Ableitungen aus kantonalen Parlamentswahlen werden seit 2007 systematisch vorgenommen und haben das hier beschriebene Potenzial. Das gilt meines Erachtens auch für Ableitungen aus Volksabstimmungen während der zurückliegenden Legislaturperiode. In Frage kommen zudem gemittelte Befragungsergebnisse, Expertenpanels und Bevölkerungserwartungen.

Zielsetzungen des Forschungsseminars
Mein Forschungsseminar im Herbstsemester 2018 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern will die aus- und inländischen Erfahrungen evaluieren und neue Vorschläge für Schweizer Parlamentswahlen machen. Ziel ist es, die Wahlen in den National- und Ständerat 2019 vorwegzunehmen. Dabei geht es sowohl um Sitzverteilungen wie auch um Stimmenstärken.
Gesucht werden aussagekräftige Prädiktoren, die möglichst früh vor der Wahl vorliegen, diese aber richtig einschätzen können. Nach Möglichkeit sollen die Parlamentswahlen im Herbst 2019 sechs Monate im Voraus richtig erkannt werden.
Mit dem Forschungsseminar im Herbstsemester am Institut für Politikwissenschaften der Uni Bern spreche ich Masterstudierende der Sozialwissenschaften an, die gute Kenntnisse der Schweizer Politik, der hiesigen Wahlen und statistischer Verfahren mitbringen.

Erwartungen an die Teilnehmenden
Teilnehmende leisten im Forschungsseminar verschiedene Beiträge und verfassen als studentische Arbeitsgruppe eine Forschungsarbeit, die in eine (Teil-)Prognose mündet. Präsentiert werden diese während einem Workshops Ende Februar 2019, an dem auch auswärtige Experten teilnehmen und mitdiskutieren werden.
Denkbare Themen für Forschungsarbeiten sind:
• Prognosen aufgrund zurückliegender kantonaler Wahlen
• Prognosen aufgrund eidg. Volksabstimmungen während der vergangenen 4 Jahre
• Prognosen mit systematischen Experten- resp. Bevölkerungserwartungen
• Kantonsanalysen zur Bestimmung erfolgversprechender Ständeratskandidaturen
Interessenten melden sich baldmöglichst direkt im Ilias der Universität Bern an.

Claude Longchamp

Ein Jahr vor der Wahl: Wie fit sind die Schweizer Parteien für das grosse Rennen?


Die politischen Parteien der Schweiz rüsten sich für die Parlamentswahlen vom Oktober 2019. Es zeichnen sich erste Trends ab. Verglichen mit andern Ländern dominiert in der Schweiz aber die Konstanz. Bleibt die Überraschung diesmal aus?

Grosse Verschiebungen kündigen sich nicht an. Die Grünen gewinnen zurück, was sie 2015 verloren haben. Die SVP darbt, weil sie bei den letzten Wahlen Sieger war.
Gut möglich, dass 2019 die Rangliste unter den Parteien gleichbleibt und die Veränderungen beim Anteil an Stimmen alle kleiner als 1.5 Prozentpunkten sind.

Nachfolgend der Formcheck im Detail.

Freisinnig-Demokratische Partei
Keine Partei ausser der FDP hat nach 2015 bei kantonalen Wahlen 35 Sitze hinzugewonnen. Gestoppt hat sie damit die Abwanderung zur SVP. Petra Gössi, die neue Parteipräsidentin, ist die beschwingte Siegesgarantin.
Die Gesamtbilanz bei Volksabstimmungen ist vorbildlich. Die Schweiz tickt fast so liberal wie die FDP. Prominent verloren ging an der Urne nur die Reform der Unternehmenssteuer.
In der Europapolitik ist die FDP unbestrittene Nummer 1. Allerdings hängt viel vom Durchbruch beim Rahmenabkommen mit der EU ab.
Grösstes Risiko der Partei ist die bisweilen geringe Sensibilität ihrer Exponenten für Probleme der Politikfinanzierung. Profilierungschancen eröffnen sich rund um den angekündigten Rücktritt von Bundesrat Johann Schneider-Ammann.
Kurz, die Aussichten auf Gewinne in beiden Kammern sind gut.

Grüne
Die GPS schaffte die Trendwende weg von der Verliererpartei. Bei kantonalen Parlamentswahlen gewann sie 17 Sitze, namentlich in der französischsprachigen Schweiz.
Gestrafft haben die Grünen ihre Parteispitze; sie haben sie auch mit neuen Talenten bestückt. Geschärft hat die Partei zudem ihr Themenprofil.
Fast angenommen worden wäre die eigene Volksinitiative für den Atomausstieg. Dank Sommerhitze 2018 hat sie auch eine symbolträchtige Gletscher-Initiative in die die CO2-Debatte eingebracht.
Allgemein rechnet man mit einigen Zugewinnen im kommenden Nationalrat. Trotz anhaltender Schwäche im Ständerat, liebäugelt man da und dort keck mit dem ersten Bundesratssitz.

Sozialdemokratische Partei
Die SP ist seit längerem in grossen Städten stark. Neu konnte sie in mittelgrossen Städten und Kantonen mit Agglomerationen zulegen. Plus 16 kantonale Parlamentssitz sind die Folge.
Massgeblich für die Trendkorrektur ist das Mobilisierungskonzept, das mit dem Nein zum Sozialabbau auf die Stammwählenden setzt. Hinzu kommt das ausgerufene Frauenjahr.
Grösster Abstimmungserfolg nach 2015 war das Nein zur Unternehmenssteuerreform. Dem steht die verlorene Rentenreform als schmerzlichste Niederlage gegenüber. Neue Chancen eröffnen sich bei der von rechts bekämpften Transparenz der Parteienfinanzierung.
Sitzgewinne im nächsten Nationalrat sind denkbar, ebenso Sitzverluste bei Rücktritten im Ständerat.

Schweizerische Volkspartei
Spektakulär scheiterte Oskar Freysingers bei der Wiederwahl in die Walliser Kantonsregierung. Das raubte die Partei den Leader in der französischsprachigen Schweiz.
Unter dem neuen Präsidenten Albert Rösti gab es bei der SVP eine Trendkorrektur nach unten. 12 Sitze gingen bei kantonalen Wahlen verloren. Zudem musste sie bei eigenen Initiativen und Referenden ungewohnte Niederlagen einstecken. Und der Dauerwahlkampf mit der Ausländerfrage stagniert.
Gegenwärtig sind Verluste bei den Wahlen wahrscheinlich. Allerdings wusste sich die SVP im Wahljahr stets zu steigern. Die Volksabstimmung über Selbstbestimmungsinitiative gibt ihre die Plattform, sich als Schützerin für Demokratie und Souveränität Schub zu empfehlen.

Christlich-demokratische Volkspartei
Gerhard Pfister hatte als neuer CVP-Präsident einen bemerkenswerten Start. Doch blieben Erfolge bei kantonalen Wahlen fast flächendeckend aus. 28 Sitze gingen verloren. Das verstärkt den Zweifel, ob es für angestrebte sozial-konservative Wende ein Potenzial gibt.
Besser hat sich die CVP bei Volksabstimmungen platziert, wo sie eine durchgehaltene Mitte-Linie verfolgt.
Mit ihrer Initiative gegen die Ehesteuer hätte sie um ein Haar eine Mehrheit erreicht. Für den Wahlkampf 2019 hat sie sich mit einer eigenen Gesundheitsinitiative rechtzeitig gut positioniert.
Grösster Trumpf der CVP und ihrer Politiker und Politikerinnen ist der Rücktritt von Doris Leuthard als Bundesrätin.
Gut denkbar, dass die CVP im Nationalrat erneut ein wenig verliert und sich im Ständerat hält.

Kleine Parteien
Eine Trendkorrektur gibt es auch bei der GLP. Sie konnte sich mit neuer Leitung bei den kantonalen Wahlen wieder stabilisieren. Das gilt nicht für die BDP, die gebremst fortgesetzt Wählende verliert. Der Verlust des Bundesratssitzes wiegt schwer.

Fazit
Langeweile? Nicht unbedingt!
Mit der Zukunft der Europapolitik, der Renten- resp. der Unternehmenssteuerreform, den Gesundheitskosten und dem Klimawandel gibt es genügend Grossbaustellen für einen Aufbruch in der Parteienlandschaft!

Wählen als zweistufiger Meinungsbildungsprozess

Wir wirken Wahlkampagnen? Die einfachste Antwort ist, Umfragen im Wahlkampf würden entscheiden. Oder die gekaufte Werbung bestimme alles. Oder es lenke die Medienagenda, was aus der Wahlurne komme. Die neue Dissertation von Thoma De Rocchi relativiert. Sie hat auf der Mikro-Ebene untersucht, wie sich Wählende entscheiden und das in den Kontext von Wahlkampagnen gestellt. Und kommt zu unerwarteten Befunden und interessanten Schlüssen.

9783658208189

Die neue Dissertation
Thomas De Rocchi, heute Leiter Wahlen und Abstimmungen des Kantons St. Gallen, war Doktorand an der Universität Zürich resp. arbeitete am Wahlforschungsprojekt «Selects» mit.
Seine verschiedenen Bezüge nutzte der junge Politikwissenschaftler, um eine Dissertation zum Thema «Wie Kampagnen die Entscheidungen der Wähler beeinflussen» zu verfassen. Genauer ist der Untertitel des Buchs, der Kampagnen auf Medienberichte und Wahlumfragen einschränkt.
Ziel ist es, deren Wirkungspotenzial während eines Wahlkampfes zu schätzen. Empirische Grundlage bilden die Daten zu den Nationalratswahlen 2011: einerseits fortgesetzte Befragungen, um feine Veränderungen in der Meinungsbildung zu beobachten, anderseits eine Inhaltsanalyse eines Querschnitts an Massenmedien, um die Entwicklung des Wahlkampfes nachzuzeichnen. Das Neue liegt in der Kombination beider Instrumente.
Seit Kurzem liegt das 240seitige Werk, betreut von den Professoren Thomas Widmer (Univ. Zürich), Georg Lutz (Univ. Lausanne) und Marco Steenbergen (Univ. Zürich), vor.

Zentrale Befunde
Am Anfang stehen die Medienberichte zu Themen im Wahlkampf. Sie beschreiben, was Parteien nach der Wahl vorhaben. Wer meint, von hier an nehme die Untersuchung den vermuteten Verlauf, wird überrascht. Denn die Wahrnehmung der Probleme durch die Wählenden ist im Normalfall weitgehend unabhängig davon. Einzig bei starken Ereignissen mit viel Berichten in kurzer Zeit verschieben die Medienberichte das Gefüge der Bürgerschaft.
Selbst wenn Massenmedien dabei Parteien bevorzugen, bleibt die Wirkung im Schnitt gering. Nachweisbar ist sie nämlich nur beim vordringlichsten Thema und bei der am meisten hervorgehobenen Partei. Head-Effekte also!
Das relativiert die Wahrscheinlichkeit, dass publizierte Wahlumfragen eine Wahl entscheiden. Immerhin, Gewinn- resp. Verlusterwartungen der Parteien beeinflussen die Wahlabsichten, zeigt De Rocchi. Doch ist das nicht eine direkte Folge der Veröffentlichung von Wahlprognosen auf Umfragebasis. Bemerkenswert ist namentlich sein Nachweis, dass subjektive Eindrücke vor, während und nach Umfragen wirksamer als fachmännisch gemachte Wahlbefragungen.
Gleiches wiederholt sich bei der wahrgenommenen Parteienkompetenz. Sie wirkt sich auf die Wahlentscheidung aus, werden aber nicht entscheidend durch Befragungen geformt. Deren Effekte sind viel zu gering, zeigt der Autor, um die individuelle Wahl zu erklären.

Stärken und Schwäche der Erklärungen
Demoskopen können aufatmen, Medien auch! Direkte Einflüsse auf individueller Ebene sind die Ausnahme, nicht die Regel.
Dafür stehen Parteien vor einem grösseren Problem als bisher angenommen. Denn die Chancen stehen schlecht, dass eine von ihnen das Hauptthema der Medien bestimmt.
Für 2011 stimmt das sicher. Der Unfall im Kernkraftwerk von Fukushima löste das relevante Medienthema aus. Es war ein genuines Ereignis, keines, dass die Parteien vorfabriziert hatten.
Ob man das verallgemeinern kann, bleibt offen, da De Rocchi letztlich nur ein Fallbeispiel, die Wahlen 2007, zur Verfügung stand. Für 2007 sind Zweifel angebracht. Wie sonst nie, ging die SVP strategisch vor, bestimmte mit der “Ausschaffung krimineller Ausländer” und der Blocher-Wahl den Wahlkampf eindeutig. 2003 und 2015 nutzten Grüne und Rote resp. die SVP das jeweils aufkommende Thema (Klimawandel, europäische Migrationskrise), um auf der Welle zu surfen und zu gewinnen.
Unabhängig davon bleibt die Frage, wie Effekte der Kampagnen auf die auf die Parteientscheidungen entstehen, wenn Umfragen und Berichte der Medien nur ausnahmsweise wirksam sind. Wenn auch nicht explizit nachgewiesen ist es naheliegend, kantonale und lokale Wahlen beizuziehen. Ihre grössere Unmittelbarkeit prägt das Image als Sieger- oder Verliererpartei. Und die Aktivitäten, die im kleinen Raum auch ohne Medien sichtbar werden, formen die Kompetenzurteile.

Absage an die Demoskopiekritik
Im Schlusskapitel bilanziert De Rocchi, in der Schweiz seine grosse Medienereignisse viel zu selten und sie kämen viel zu wenig gebündelt vor, um Wahlen direkt zu beeinflussen. Wie anderen Forscherinnen und Forschern auch, sei es ihm nicht gelungen, «einen signifikanten Einfluss von Wahlumfragen auf die Wahlabsichten der Befragten nachzuweisen. (…) Der Effekt sei schlicht zu gering, als dass dadurch der Ausgang der Wahl in signifikanter Art und Weise hätte beeinflusst werden können».
Immer wieder diskutierten Forderungen nach Einschränkung von Wahlumfragen kurz vor der Wahl erteilt er eine deutliche Absage. Für «manipulative Wirkungen» von Vorwahlbefragungen gäbe es keine wissenschaftlich fundierten Hinweise. Alt-Nationalrat Christoph Mörgeli, der dies wiederkehrend unterstellt(e), bekommt eine Extralektion!

Campaign volatility als spannende Beobachtung
Es sei hier festgehalten: Vielleicht sind die Ergebnisse der beiden Hauptfragestellungen gar nicht das Filet der Dissertation. Spannend fand ich ein Nebengeleise zur Meinungsbildung, das sich erst im Verlaufe der Ausführungen unter dem Stichwort «campaign volatility» heraus kristallisierte.
Wahlentscheidungen sind nicht bei allen BürgerInnen konstant, vielmehr schwanken sie bei einem Teil der Wählenden. Vor allem bei jüngeren Menschen kommt dies verstärkt vor. Hauptursache dafür seien nicht die Kampagnen direkt, sondern die strategischen Absichten der Wählenden, schreibt De Rocchi. Entsprechend Wählende leitet der Wunsch, die eigene Stimme nicht zu verschenken. Das bevorteilt an sich grosse Parteien mit politischem Gewicht. Es nützt auch Parteien mit Gewinnaussichten. Vor allem hilft es Parteien in der Defensive, etwa wenn der Verlust eines Bundesratssitzes droht.
Hier nennt De Rocchi die Dinge beim Namen. 2011 habe genau das der BDP genützt, die vor der Herausforderung stand, den Sitz von Eveline Widmer-Schlumpf im Bundesrat zu verteidigen – und gewann! Man ist geneigt zu sagen, dass sich eine Wiederholung 2015 schon früh nicht abzeichnete und der BDP schadete.

Wählen als zweistufige Entscheidung
Wählen sieht De Rocchi als ein zweistufiges Entscheidungsverfahren. Auf ersten Stufe nehmen sich die Wählenden die Parteien vor, die bei ihrer Wahl überhaupt in Frage kommen. Das kommt bei Wählenden fast allen Parteien vor und wird «choice setting» genannt. In aller Regel folgt es der weltanschauliche Nähe von Parteien zur hauptsächlich bevorzugten. Negativ wirkt sich einzig aus, wenn eine Partei mit starken Verlusterwartungen zu kämpfen hat.
Erst danach findet die eigentliche Wahl statt. Bei der entscheide die Fähigkeit, sich in einem Thema zu profilieren aus. Verglichen würden nämlich die »issue handling competence» der aussortierten Parteien.

Mein Kommentar
Als Leiter des Wahlbarometers 2011 bin ich Mituntersuchter. Schon deshalb habe ich die Arbeit mit Interesse und Aufmerksamkeit gelesen. Im grossen Ganzen halte ich De Rocchi Ergebnisse und Folgerung für sehr plausibel. Einige kritische Anmerkungen seien mir dennoch erlaubt:
Die Vorgehensweise scheint mir zu stark am rational-choice-Ansatz ausgerichtet. Themenkompetenzen sind nur eine Entscheidungsgrösse. Personenimages sind eine andere. Hinzu kommen Grundhaltungen und Stimmungslagen. Sie werden mit der hier präsentierten Vorgehensweise nicht verfasst. Deshalb verspricht der Titel des Buches mehr, als eingelöst wird.
Kampagnen sind aus meiner Erfahrung heraus nicht nur auf Wechselwählende angelegt. Seit 2007 wird gerade in der Schweiz immer deutlicher, dass sie auf Mobilisierung des Potenzials ausgerichtet sind. Das funktioniert via vorherrschende Kampagnenklimata, bei denen Medien durchaus eine Rolle spielen.
Meinerseits habe in den letzten 15 Jahren mehrfach zu zeigen versucht, dass nicht Agenda-Setting, sondern climate-setting massgeblich ist. Dabei sind meine Beobachtungen durchaus mit denen De Rocchis vergleichbar. Denn climate-setting funktioniert in aller Regel nur mit dem Hauptthema und bevorteilt nur die dabei zentral positionierte Partei. De Rocchi begründet es nur anders.
Zustimmen kann ich auch dem Konzept der zweigeteilten Wahlentscheidung. Die Kommunikationswissenschaft lehrt das ja seit Jahrzehnten, die Politikwissenschaft entdeckt es erst. Bekannt ist, dass es nach der Vorentscheidung Wählermärkte gibt. Doch sind die Wahlentscheidungen nicht beliebig. In der Schweiz relevant sind die Ambivalenz zwischen SVP und FDP, zwischen SP, GLP und Grünen oder zwischen BDP und CVP. Dabei resultiert in der Schweiz kein zwingender Parteientscheid aufgrund von Sachkompetenz. Oft genug sind es am Schluss Personenentscheidungen, die dem bevorzugten Themen- und Positionsmix entsprechen.
Ich finde, die akademische Wahlforschung sollte 2019 genau da näher bestimmen können.

Claude Longchamp

Thomas De Rocchi
Wie Kampagnen die Entscheidung der Wähler beeinflussen. Zum kurzfristigen Wirkungspotenzial von Medienberichten und Wahlumfragen in der Schweiz.
Springer Verlag, Diss. Zürich, Wiesbaden 2018.