Der gereifte Mischling

Die Geburt der modernen Schweiz von 1848 – und was bis heute daraus wurde.

Rede von Claude Longchamp zum 12. September 2018, dem 170. Geburtstag des Bundesstaates

Bern, ehemaliges Rathaus zum Aeusseren Stand

Es gilt das gesprochene Wort

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Meine Damen und Herren,
sehr verehrte Gäste aus dem Aus- und Inland

Die USA wurde am 4. Juli 1776 von der britischen Krone unabhängig. Wären wir Amerikaner und Amerikanerinnen, würden wir unsere Unabhängigkeit vom Kaiserreich feiern. Eingeladen wären Sie in dem Fall erst auf den 24. Oktober, und ich würde von 1648 berichten.
Frankreich wiederum feiert den 14. Juli 1789 als Nationalfeiertag. Wären wir Franzosen, ginge es bei der Feier um den 12. April 1798, den Tag, an dem wir zur Nation erklärt wurden.

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Doch sind wir Schweizer und Schweizerinnen!
Und wir rätseln, was wir feiern sollen. Auf der Frontseite des Parlamentsgebäudes stehen zwei Gründungsdaten: 1291 und 1848.
Vom 1. August 1291 sind die traditionsbewussten Landsleute fest überzeugt. Damals hätten sich die Urschweizer für immer gegen Habsburg verbündet. Die Historiker sagen, das sei Erzählung, unser Mythos.
Am 12. September 1848 wurde der Bundesstaat von heute gegründet. Die erste Bundesverfassung bezeugt das Datum auf den Tag genau. Und auf den Ort genau. Denn die Staatsneugründung war hier, im Äusseren Stand der Bundesstadt, wo wir nun versammelt sind.

Was wir am 12. September feiern
Wir feiern diesen Anlass üblicherweise nicht, weil der Bundesstaat aus einem Bürgerkrieg hervorging.
Den Katholisch-Konservativen war die Schweizerische Eidgenossenschaft nach 1845 zu radikal geworden. Sie schlossen sich zu einem separaten Bund zusammen. Österreich, Preussen und Russland hielten zu ihnen.
Die Liberalen bestanden auf der Einheit; Grossbritannien war auf ihrer Seite.
Mehrere 10‘000 Soldaten der Schweizer Armee schlugen den Aufstand nieder. 150 Mann blieben liegen.

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Nach diesem Bürgerkrieg übernahmen die Sieger die Macht in allen Kantonen. Sie bestellten eine Kommission, um den Bundesvertrag des Wiener Kongresses zu überarbeiten. Erst als sie sich entschied, ein Zwei-Kammern-Parlament wie in den Vereinigten Staaten von Amerika zu schaffen, kam es zur Entspannung.
15 1/2 Kantone stimmten für die Bundesverfassung, 6 1/2 waren dagegen. Gemäss Mehrheitsprinzip war die Verfassung demokratisch angenommen.

Der Durchbruch zur Moderne
1848 entstand ein souveräner Staat ohne Monarch oder Monarchin. Garantiert wurde er durch eine selbsterlassene Verfassung, mit Grundsätzen der Gewaltenteilung und Demokratie.

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Gesiegt hatte die Volkssouveränität.
Gewahrt wurde die Kantonssouveränität.
Gefunden wurde mit dem Bundesstaat ein Kompromiss.

Die Leistungen 170 Jahre danach sind beachtlich – gerade auch im internationalen Vergleich.
Das World Economic Forum, kurz WEF, bezeichnet die Schweiz als wettbewerbsfähigste Wirtschaft der Welt.
Die UN-Organisation für Geistiges Eigentum klassiert uns als das innovativste Land.
Der Global Peace Index der University of Sydney lobt unsere Friedfertigkeit.
Das Demokratie-Rating der Universität Göteborg macht gleiches mit unserer Demokratie.

Schweizerische Staatskunst
1848 war ein europäisches Revolutionsjahr. Liberale und soziale Bewegungen strebten nach Freiheit und Gleichheit.
Der Bundesstaat war die einzige Staats(neu)gründung von Dauer. Rund herum herrschten bald wieder überall Könige und Kaiser.

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Politologen sind heute überzeugt, der Erfolg von 1848 liegt in der Kombination von Demokratie und Föderalismus. Demokratie versprach mit dem Mehrheitsprinzip vereinfachte Entscheidungen. Der Föderalismus gab ihren Widersachern Raum und schützte Minderheiten.
Schweizerische Staatskunst lehrt uns heute, die relevanten Kräfte in die Regierungen einzubinden.
Behörden brauchen eine ausgewogene Zusammensetzung.
Mehrheiten müssen ein Sensorium für Vielfalt entwickeln.
Namentlich kulturelle Minderheiten haben ein Anrecht auf autonome Räume.
Vor allem wissen wir, informelle Kontakte quer über gesellschaftliche Gräben schaffen bei uns Vertrauen.
Das alles musste jedoch erst gelernt werden!

Die anfänglich freisinnige Herrschaft
Bei den ersten Parlamentswahlen eroberte der Freisinn drei Viertel der Sitze. Die Regierung bildeten sie alleine aus ihren Reihen. Kein Bundesrat kam aus einem Kanton, der dem Sonderbund angehört hatte. Immerhin, der freisinnige Bundesrat hatte fünf Reformierte und zwei Katholiken. Und je ein Vertreter der Sprachminderheiten wurde ins Siebner-Gremium gewählt.

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Aussenpolitisch handelte der Bundesrat pragmatisch, innenpolitisch mit fester freisinniger Hand.
Leuchttürme der Politik im jungen Bundesstaat waren die Gründung der Schweizer Post und die Einführung des Schweizer Frankens. Mit dem neuen Polytechnikum in Zürich, der heutigen ETH, kam eine eigene Hochschule hinzu. Aussenpolitische Sternstunde war die private Entstehung des Roten Kreuzes, heute das IKRK.
Das Verfassungswerk von 1848 hatte indes Mängel. Die Petitionen gegen den privaten Eisenbahnbau waren wirkungslos. Den Juden verweigerte man die Grundrechte, und ein dauerhaftes Bundesgericht gab es nicht.
Für die erste Verfassungsrevision brauchte es drei Anläufe. Sie gelang 1874 und brachte insbesondere das Referendum.
Neu hatten die Stimmbürger ein effizientes Veto in ihren Händen, um Gesetze zu Fall zu bringen.
1891 kam die Volksinitiative dazu, mit der die Verfassung neu Artikel für Artikel revidiert werden konnte.
Das war nach der Staatsneugründung von 1848 der zweite grosse Einschnitt.

Lernprozesse dank Volksrechten
Macht ist die Möglichkeit, nicht lernen zu müssen, lehrte der tschechisch-amerikanische Politikwissenschafter Karl W. Deutsch. Die Volksrechte zwingen die Behörden zum Lernen. Sie verteilen die Macht besser. Sie differenzieren politische Lösungen.

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Die Zunahme von Volksabstimmungen hatte einen unerwarteten Effekt: Je mehr wir abstimmten, desto kleiner wurde der Anteil Ausgänge im Sinne der Opposition.
Opponenten lieben Volksabstimmungen. So können sie protestieren. Gefragt sind allerdings mehrheitsfähige Vorschläge, oder man verschwindet von der politischen Bühne.
Parlamente wiederum lieben es nicht, in Volksabstimmungen unterzugehen. Sie verhindern das, indem die Mehrheit mit der Minderheit referendumsfeste Lösungen sucht.
Kontrolliert werden Regierung und Parlament durch Interessengruppen. Nehmen die Behörden einseitige Standpunkte ein, drohen letztere mit dem Veto.
Zur weiteren Mässigung beteiligte die FDP der Reihe nach die heutige CVP, die heutige SVP und die heutige SP an der Regierung. Das band Katholiken, Bauern und Arbeiter ein und baute Konflikte ab.

Konsens- vs. Konkurrenzdemokratie
Konsensdemokratien sind das pure Gegenteil von Konkurrenzdemokratien. Der US-Politologe Robert Dahl definierte Demokratie als Wettbewerb, als «competition by elites and decisions by the people».

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Wir beseitigten die geschlossene Gesellschaft aus der Zeit vor der Französischen Revolution. Erfüllt!
Wir halten die politische Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen ausgesprochen hoch. Ebenfalls erfüllt!
Einzig mit dem politischen Wettbewerb um die politische Macht hapert es.
Die FDP ist seit 170 Jahren ununterbrochen Regierungspartei. Weltrekord! Nur ist gemäss der angelsächsischen Demokratie-Definition der periodische Regierungswechsel unabdingbar. Sie unterstellt uns, wir seien auf halbem Weg zur Wettbewerbsdemokratie stehen geblieben. Wir funktionierten wie eine Hegemonie mit hohem Einbezug für Eigengruppen, aber Ausschluss von Fremdgruppen.

Hegemonien halten sich länger
In einem Punkt hatten unsere Kritiker recht: Der Schweizer Bürger und Politiker war lange ein Mann! Die Schweizer Männer bekamen 1848 das Wahlrecht früher als viele andere. Dafür klammerten sie sich länger als andere an das Privileg. Erst im zweiten Anlauf votierten sie 1971 für das Stimm- und Wahlrecht für Frauen.

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Seither nutzen die Frauen die politischen Rechte wie Männer. Die Themen sind vielfältiger geworden. Frauen politisieren heute selbstbewusst. 2010 waren sie im Bundesrat erstmals in der Mehrheit. Doris Leuthard, eine Bundesrätin aus dem Mehrheitsquartett, meinte jüngst im Interview, man habe damals mutiger politisiert.

Keine reine Konsensdemokratie mehr

Seit den 1970er Jahre sind wir keine reine Konsensdemokratie mehr. Früheste Zeichen waren Jugendproteste und fremdenfeindliche Bewegungen. Forderungen nach mehr Nachhaltigkeit kamen hinzu. Sie stellten das Fortschrittsdenken von links her in Frage. Die Europafrage wiederum spaltet das bürgerliche Lager von rechts her.
Nationalkonservative, rotgrüne und neoliberale Weltanschauungen polarisieren in verschiedene Richtungen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie die politische Mitte meiden. Diese droht, zerrieben zu werden.
Auch die Jungparteien sind häufig ideologisch ausgerichtet, ganz anders als die nachkommenden Generationen selber. Die meisten jungen Erwachsenen von heute sind individualistisch, fragen nach Lösungen für dringende Probleme wie den künftigen Renten, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, dem Zusammenleben mit Zugewanderten.

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Das alles erschwert die Strategiebildung! So verharren wir in der Europafrage zwischen Abseitsstehen und Mitgliedschaft gegenüber der EU. Solange diese das hinnimmt, hat es für uns Vorteile. Doch wird es ungemütlich, wenn dem nicht mehr so ist.

Ein Hybrid mit Potenzial
Wir sind ein Hybrid, wie ein modernes Automobil mit verschiedenen Motoren.
Wir haben kein präsidentielles Regierungssystem. Uns fehlt der Glaube an allmächtige Staatsmänner. Wir sind auch kein parlamentarisches System. Misstrauensvoten gegen die eigene Regierung sind uns fremd.

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30 Jahre Analysen der schweizerischen Politik haben mich gelehrt: Aus dem jungen Bundesstaat von 1848 ist ein gereifter Mischling geworden.
Französische Citoyens legten die revolutionäre Basis. Deutsche Intellektuelle lehrten uns früh Staatsrecht. Amerikanische Pragmatiker wiesen uns den Weg zum dauerhaften Bundesstaat. Doch die Volksrechte haben wir selber erfunden!
Wir haben eine Kollektivregierung. Sie funktioniert als Kollegium. Dazu müssen sich die sieben Mitglieder immer wieder neu finden. Das stabilisiert stets von Neuem.
Ist das nicht der Fall, kontrollieren einflussreiche Vetogruppen und gelebte Volksrechte ihre Politik.
Friedlich – seit 1848 und bis heute: Das dürfen wir heute mit Grund feiern!