Kultureller Wandel und soziale Lage als Analysebasis unseres Alltags.

Es war ein interessantes Gespräch am Wochenende, das nachhalt. Geführt habe ich es mit einer Fachfrau für Kommunikation, einer Naturwissenschafterin, die in die Politikberatung eingestiegen ist, und heute für ihre Kundschaft, basierend auf sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen, Empfehlungen entwickelt.

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Sinus-Milieus im zweidimensionalen Feld: soziale Lage und kultureller Wandel zu einem Analyseschema verarbeitet

Ausgangspunkt unserer Erörterungen waren die Sinus-Milieustudie, eine deutsche Forschungstradition, die heute in vielen westlichen und östlichen Ländern verbreitet ist, und seit knapp 10 Jahren auch in der Schweiz angewandt wird.

Wie alle Milieu-Untersuchungen geht sie davon aus, dass das Soziale nicht alle strukturell wirkt, sondern kulturell vermittelt wird. Oder in den Worten der ForscherInnen: Die soziale Lage wirkt im Alltag durch Grundorientierungen vermittelt. Diese umfassen die Ziele des Strebens, die Lebensstile und das Alltagsbewusstsein.

Konkret: Auf die Pflicht- und Akzeptanzwerte der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg folgte in den 60er Jahren eine Generation durch Besitz und Status geprägt, in den 70er eine solche durch Freiheit und Selbstverwirklichung geleitet war, während in den 80er Jahren Genuss und Individualisierung, in den 90er Jahren die Multioptionalität prägten. Die neuesten Entwicklungen drehen sich um Antworten auf globale Komplexität und Arbeitsmarkt-Flexibilität.

Die Sinus-Milieus sind zweidimensional aufgebaut: Zuerst berücksichtigten sie die Schichtung mit oben und unten, dann die Grundorientierungen, wie sich über die Zeit entwickelt und verfestigt haben. Daraus lassen sich (für die Schweiz) mindestens 10 Milieus ableiten: dasjenige

der traditionellen Kleinbürger (9% der Schweizer Bevölkerung),
der selbstgenügsamen Traditionalisten (10%),
der Arrivierten (10%),
der Statusorientierten (9%),
der bürgerlichen Mitte (16%),
der konsumorientierten Arbeiterschaft (8%),
der PostmaterialistInnen (11%)
der EskapistInnen (10%),
der neuen Performer (11%) und
der ExperimentalistInnen (6%).

Die beiden ersten sind Traditionsmilieus, die beiden letzten junge, die erst in Entstehung begriffen sind, während die anderen als die modernisierten, mehr oder minder gefestigten angesehen werden.

Nun kommt der springende Punkt unserer Diskussion vom Wochenende: Erwartet wird, dass Milieus, die sich unter bestimmten zeitgeschichtlichen Bedingungen entwickelt und sich danach länderspezifisch verfestigt haben, als gesellschaftliches Patchwork mit einer gewissen Festigkeit auf Entscheidungen im Alltag, aber auch in der Politik einwirken. Das Ganze ist jedoch nicht statisch, weil mit dem demografischen Wandel alte Milieus wegsterben, während neuen entstehen, und weil sich die Gewichte der verfestigten Milieus auch leicht verschieben können.

Aus meiner Sicht liegt genau da der grosse Vorteil dieser Analyseart. Anders als zahlreiche sozialwissenschaftlichen Standardwerke postulieren die Sinus Milieus nicht einen epochalen Uebergang von einem Zustand A zu einem Zustand B. Vielmehr verstehen sie sich als eine Ethnologie unseres Alltags, die mehr als nur Einzelfälle beobachtet, diese aber nicht einfach schematisiert. Sie typisieren sie hinsichtlich der Grundorientierungen und der Schichtung, und kombinieren das Ganze mit dem Kulturwandel.

Anwendungsfelder hierfür ergeben sich im Marketing- und in der Medienforschung, zur Analyse des Konsumverhaltens, genauso wie für die Bestimmung neuer religiöser Potenziale und auch parteipolitischer Entscheidungsabsichten. Schade nur, dass das Spannende, das hier erst beginnt, bisher kaum öffentlich ist und auf den wissenschaftlichen Diskurs ausstrahlt.

Claude Longchamp

Zum Vergleich: Sigma Milieus