Karte des weltweiten Wertewandels

(zoon politicon) Kaum ein Name wird so eng mit der Untersuchung des Wertewandels verbunden, wie der des amerikanischen Politikwissenschafters Ronald Inglehart. “Materialismus-Postmaterialismus” lautete seine erste, in den späten 70er Jahren begründete Gegenüberstellung, die weltweit rezipiert wurde. Seine neue Polarität, die den globalen Wertewandel beschreiben soll, lautet “Modernismus-Postmodernismus”.

Inglehart stützt sich für seine neuen Thesen zum Wertewandel auf das weltumspannende Projekt “World Value Survey”, dessen Direktor er ist. 43 Länderstudien hat er dazu synthetisiert, um zentrale Dimensionen des gegenwärtigen Wertewandels zu bestimmen. Zwei Ausrichtungen der Veränderungen kristallisieren sich dabei heraus:

. die Polarität von traditionell-religiösen und und säkular-rationalen Werten einerseits,
. die Gegenüberstellung von Werten des kollektiven Ueberlebens und der individuellen Selbstentfaltung anderseits.

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Die 43 Fallstudien verortet Inglehart in beiden Dimensionen, sodass eine neue Weltkarte des Wertewandels entsteht. Das Ueberzeugendste dabei ist, dass die Länder nicht zufällig, sondern sehr systematisch auf beiden Achsen steuen.

In beiderlei Hinsicht ursprünglich erscheinen die Wertemuster in Afrika; am weitesten davon entfernt ist das protestantische Europa. Weite Teile Asiens und Lateinamerikas zeigen keinen eindeutigen Wertewandel, wie ihn Inglehart untersucht. Klar in Richtung Säkularisierung haben sich dagegen die meisten ex-kommunistischen Länder entwickelt; für sie ist typisch, dass sie sich auf der Ebene der individuellen Seltentwicklung jedoch kaum verändert haben. Beschränkt davon abweichend sind die konfuzianisch geprägten Kulturen Asiens. Sie stehen damit den angelsächsischen gegenüberstehen, für die eine starke Ausrichtung an der individuellen Selbstentfaltung, gepaart mit einer bechränkten Säkularisierung typisch ist.

Das katholische Europa hat sich auf den beiden Dimensionen halbwegs bewegt, jedoch bei weitem nicht so stark wie das protestantische. Hier ist der globale Wertewandel am fortgeschrittensten, namentlich in Schweden und den anderen nordischen Ländern. Das gilt notabene auch für die Schweiz, die nach Inglehart durch eine starke Säkularisierung und Individualisierung gekennzeichnet ist.

Bei der Lektüre des Buches geht es einem so, wie immer bei Inglehart: Ausgesprochen plastisch sind seine Beschreibungen, deren Evidenz nicht zu bestritten werden kann; theoretisch hergeleitet sind sie aber nicht vertieft, was einem nicht hilft, die Hauptabsicht des Buches, den Wandel zum Postmodernismus, zu verstehen. Und bleibt auch diesmal eine Frage im Raum: Ist es möglich, dass sich Länder auf der Karte nicht nur von unten-links weg bewegen, sondern auch wieder in diese Richtung?

Konkreter: Kann es sein, dass religiös-traditionelle Werte und solche des kollektiven Ueberlebens in Gesellschaften mit starkem Wertwandel wieder bedeutsamer werden?

Claude Longchamp

Ronald Inglehart: Modernismus – Postmodernismus. Politische, wirtschaftlicher und kultureller Wandel in 43 Ländern. Frankfurt am Main/New York 1997