Parteiparolen und ihre Unterstützung sagen mehr über die Konkordanz aus, als man bisher meinte

Ueber 11 eidgenössische Vorlagen hat die Schweiz innert Jahresfrist nach den Parlamentswahlen entschieden. Eine Analyse der Parteipositionen und der Mobilisierungsfähigkeit grösserer Parteien stellt dem Funktionieren der Konkordanz in Sachfragen keine gute Bilanz aus.

Bis zuletzt hielt die Parteispitze FDP an ihrer Ja-Parole zur haushoch abgelehnten Krankenversicherungsreform „Managed Care“ fest. 72 Prozent ihrer eigenen WählerInnen, die sich beteiligten, stimmten nicht nur gegen die Vorlage; sie waren auch gegen die Parteiparole. Und 67 Prozent der Wählerschaft nahmen an der Volksabstimmung erst gar nicht teil.

Die Befunde für 2012
Eine systematische Uebersicht der Sammlungsfähigkeit politischer Parteien bei Volksabstimmung lässt den Schluss zu: Das ist zwar ein Extrembeispiel, aber ein symptomatisches.


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Vier Mal folgte die Mehrheit stimmender FDP-WählerInnen 2012 der Parole der eigenen Partei nicht: beim Verfassungsartikel „Jugend und Musik“ nicht, bei der Volksinitiativen „Eigene 4 Wände dank Bausparen“ nicht und (wahrscheinlich) auch bei der Volksinitiative „Sicheres Wohnen im Alter“ nicht. Beteiligt haben sich an den Volksabstimmungen im Schnitt nur 41 Prozent der BürgerInnen, die sich eine Wahl der FDP vorstellen können. Damit hat die FDP die schlechteste Sammlungsbilanz der grösseren Parteien im laufenden Jahr.

Unwesentlich anders sieht dies bei der SVP aus. 36 Prozent wichen hier 2012 im Schnitt von der Parteimeinung ab. Beteiligt haben sich im Mittel aber nur 37 Prozent der denkbaren WählerInnen.

Auch bei der CVP gab es dieses Jahr bei Probleme bei Sachabstimmungen. 36 Prozent AbweichlerInnen kannten die Partei bei eidg. Abstimmung durchschnittlich; beteiligt haben sich, über alles gesehen, immerhin 47 Prozent der Personen, die sich mit der CVP identifizieren.

Etwas weniger von solchen Problemen betroffen waren 2012 die linken Parteien. Die SP kann bei gesamtschweizerischen Volksabstimmungen auf 50 Prozent zählen, welche sich äusserten, und 71 Prozent teilten im Schnitt die Parteiposition. Noch etwas besser steht die GPS mit Werten von 51 Prozent beim Teilnahmewert und 79 Prozent beim Unterstützungsanteil da.

Die erte Folgerung lautet: Die verringerte Sammlungsfähigkeit vor allen rechter Parteien hat ihr Gewicht bei Volksabstimmungen geschmälert. Ihre Erfolgsbilanz ist schlechter als die der linke, aber auch der Mitte-Parteien.

Die Gründe für Abweichungen von den Parteiparolen
Nun gibt es verschiedene Gründe, warum die Parteiwählerschaften den Parolen ihrer Parteien nicht folgen:

Der erste besteht in kaum nachvollziehbaren Positionsbezügen; das leistete sich die FDP namentlich bei „Jugend&Musik“ – einer Vorlage, der die Fraktion im Parlament noch einstimmig zustimmte, bei der dann die Konferenz der Kantonalpräsidenten aber eine Nein-Parole herausgab. Institutionalisierte Uneinigkeit schmälert nicht nicht den Einfluss einer Partei, sie ist für den Gesamtauftritt einer Partei schädlich.

Der zweite wichtigere Grund besteht in der Profilierungsabsicht der Parteien, egal ob Fraktion, Delegiertenversammlung oder Parteitag, wenn man damit selbst aus Sicht der eigenen Wählerschaft übers Ziel hinaus schiesst. Die SVP und FDP erlebten das bei der Volksinitiative „Eeigene 4 Wände dank Bausparen“, der SP geschah Gleiches bei der Volksinitiative „Schutz vor Passivrauchen“, und die CVP lehnte sich bei der ersten Bausparinitiative 2012 zu weit aus dem Fenster. Vielleicht war das auch bei der GPS in Sachen Ferieninitiative der Fall, denn bei all diesen Beispielen folgte die Mehrheit der Parteiwähler dem Vorpreschen der Parteispitze bei den genannten Initiativen nicht.

Der dritte, ebenso wichtige Grund ist umgekehrter Natur: Der Fall liegt dann vor, wenn Regierungsparteien Regierungsvorlagen unterstützen, dafür aber bei ihrer eigenen Wählerschaft keine Gefolgschaft finden. FDP und CVP betraf dies bei der „Managed-Care“ Abstimmung. Der SP könnte Vergleichbares im Falle einer Referendumsabstimmung zum Asylgesetz im kommenden Jahr blühen.

Die zweite Folgerung heisst damit: Parteien in der Schweiz haben aus inneren und äusseren Gründen immer wieder Mühe, ihre eigene Wählerschaft richtig einzuschätzen.

Was heisst das für die Konkordanz?
Mit Blick auf die Konkordanz sind die beiden letzten Konstellationen von Belang: Denn die moderierende Funktion der Kollektivregierung mit vier resp. fünf Parteien im gleichen Boot wirkt nicht (mehr), wenn Regierungsparteien eine von den Behörden abweichende Position einnehmen. Wenn sie dafür bei ihrer Wählerschaft Support finden, aber im gesamten Elektorat aber in der Minderheit bleiben, ist das im Einzelfall oder je nach Thema wenig problematisch ist. Wenn eine Regierungspartei dagegen abweicht, keine mehrheitliche Gefolgschaft bei allen WählerInnen und gar den eigenen findet, liegt eine offensichtlich komplett falsche Fehleinschätzung der Stimmungslage vor, die nur noch als überzeichnete Profilierungssucht bezeichnet werden kann. Die Analyse zu den Nationalratswahlen 2007 verwies erstmals darauf, indem sie nahelegte, dass die Polarisierung unter den Parteieliten grösser geworden ist als unter ihren Wählenden.

Scheitern Behördenvorlagen in der Volksabstimmung, haben aus der Sicht der Konkordanz sowohl Regierungsparteien ein Problem, die eine Protest-Nein ihrer eigenen Wählerschaften nicht verhindern konnten, als auch jene, die ihre ursprünglich befürwortende Position mit Blick auf die Abstimmung änderten. Denn mit ihrem Nein tragen sie zur Versenkung einer Vorlage bei, die aus der Mitte von Regierung und Parlament stammt, der man selber angehört.

Damit sind wir beim dritten Schluss: Sachpolitisch war 2012 keine Jahr der Konkordanz. Regierung und /oder Parlament verloren beide Abstimmungen, gegen deren Vorlage das fakultative Referendum ergriffen worden war, und bei einer Volksinitiative setzte sich die Opposition gegen die Behördenpolitik durch. Konflikte zwischen Regierungsparteien, Profilierungsabsichten und Mobilisierungsschwäche einzelner Regierungsabsichten komplettieren den eher kritischen Blick auf den Stand der Zusammenarbeit unter den Regierungsparteien im ersten Jahr nach den jüngsten Parlamentswahlen.

Claude Longchamp