Ueber Schweizer Nationalratswahlen weiss die Wahlforschung recht gut Bescheid. Ganz anders ist das bei Ständeratswahlen: Schon die amtlichen Statistiken des Bundes sind spärlich, zählt man das doch zu den kantonalen Aufgaben, die uneinheitlich verfahren. Und die akademische Wahlforschung hat sich dem Thema nur sehr zurückhaltend angenommen. Zeit, um das grösseres Loch im Wissen über Schweizer Wahlen zu füllen!
Generell gesprochen zeigen Ständeratswahlen im Zeitvergleich eine Polarisierungstendenz wie Nationalratswahlen, was Auffassungen relativiert, das ein ganz anderer Wahlmechanismus spiele.
Ich habe mir vorgenommen, meine Lehrveranstaltungen zur Wahlforschung an den Unis ganz auf die Ständeratswahlen zu verlagern. Denn nirgends ist die Brache so gross, wie bei dieser Art von Wahlen.
Das sozialpsychologische Konzept der Normalwahl eröffnete eine durchaus sinnvolle Angehensweise für Ständeratswahlen. Es unterscheidet zwischen lang- und kurzfristigen Faktoren der Wahlentscheidung. Die Langfristigkeit ergibt sich aus der Sozialstruktur und ihren Auswirkungen auf Parteien. Erwartet wird, dass so die Hausmacht der KandidatInnen entsteht. Kurzfristig auf den Wahlerfolg wirken sich das Personenimage und die Themenpositionen aus, die im Wahlkampf eine herausragende Rolle spielen.
Gemäss der Normalwahlanalyse obsiegt der oder die KandidatIn, welche die grösste Hausmacht hat. Ergibt sich diese nicht aus der eigenen Partei heraus, geht es um Wahlabsprachen zwischen verwandten Parteien. Bei Ständeratswahlen in der Schweiz beginnen hier die taktischen Ueberlegungen. Welche Parteien sind wie gut motiviert, ihre WählerInnen zu beteiligen, und wie gut sind die KandidatInnen in den Allianzparteien akzeptiert.
Damit ist man bei den Wahlkämpfen der KandidatInnen. Ihre Verankerung in der politischen Welt, die Kennzeichnung als Bisherige, die Auftritte in den lokalen Medien, die Erfahrung der Wahlkampfstäbe und die gewählten Kommunikationsstrategien sind hier die wichtigsten Determinanten.
Nicht zu übersehen ist, dass bei Ständeratswahlen (anders als bei amerikanischen Präsidentschaftswahlen) meist nicht ein Wahlgang alleine entscheidet. Im ersten werden deshalb die Ausgangspositionen innerhalb des Lagers bestimmt, um die FavoritInnen in eine möglichst günstige Lage zubringen, während im zweiten Wahlgang die eigentlich Ballotage stattfindet.
Ergebnisse von Ständeratswahlen können aufgrund amtlicher Resultate studiert werden. Wissenschaftliche Umfragen über Wahlmotive stehen dagegen selten zur Verfügung. Hilfreich und machbar sind Monografien zu Wahlkampagnen. Denkbar sind auch Prognosemodelle aufgrund von Personeneigenschaften oder Wahlallianzen. Schliesslich werden Hochrechnungen und Erstanalysen zu Ständeratswahlen medial vermehrt eingesetzt.
Mehr wissen hierzu, ist sicher gefragt: Denn die Komitees von StänderatskandidatInnen fragen nicht selten um Rat, was eine aussichtsreiche Kampagne sein könnte. Sie wollen wissen, welche Allianzen sie eingehen sollen, welche Themen favorisiert oder ausgeklammert werden sollen. Und sie mehr erfahren, welche Imageeigenschaften ankommen, und welche nicht.
Umso erstaunlicher ist es, dass Ständeratswahlen in der Schweiz bisher nur randständig untersucht wurden. In den Selects-Studien gibt es erste Ansätze dazu, genauso wie im Vorfeld es einige Befragungen im Vorfeld von Wahlen gibt. In Kantonen mit innovativen statistischen Aemtern finden sich kleine Untersuchungen zu ständerätlichen Wahlergebnissen.
Ich bin überzeugt, dass man rasch weiter kommen wird und spätestens bei den nächsten Erneuerungswahlen in den Ständerat im Oktober 2011 die besten Arbeitshypothesen testen kann.
Claude Longchamp
Ich dachte, Ständeratswahlen seien Persönlichkeitswahlen. Da könnte man doch das Ganze Drum und Dran mit den Parteien und Themen auch weglassen.
In der Tat, ich halte die Unterscheidung zwischen Persönlichkeits- und Parteiwahlen für obsolet. Sie stammt aus der Zeit des Uebergangs von der Majorz- zur Proporzwahl (für den Nationalrat). Ohne Zweifel war das ein grosser, vielleicht sogar der grösste in der Schweizer Wahlgeschichte.
Doch impliziert er, dass wir bei Nationalratswahlen nur Parteien, bei Ständeratswahlen nur Personen wählen würden. Das ist mehrfach falsch.
Bei Nationalratswahlen können wir Parteien wählen, wir können aber auch unseren Personenpräferenzen Ausdruck geben. Wir können sogar mit einer neutralen Liste nur Personen wählen. Das widerspricht der Auffassung der Parteiwahl ganz.
Umgekehrt werden die Chancen von Kandidaturen bei Ständeratswahlen auch durch parteipolitischen Ueberlegungen bestimmt.
Das fängt damit an, ob die Doppelvertretung im Ständerat nach dem Prinzip der ungeteilten Standesstimme funktionieren soll, was für eine Bestückung aus einem politischen Lager spricht, oder ob das politische Spektrum breit vertreten sein soll, mit dem Risiko, dass sich die beiden Kantonsstimmen neutralisiere. Es zeigt sich aber auch bei den Wahlempfehlungen der Parteien, der Werbung für parteifremde KandidatInnen und der Mobilisierung zugunsten solcher Personen.
Genau deshalb schlage ich auch vor, das aus der Sozialpsychologie stammende Konzept zu verwenden, das Wahlentscheidungen sowohl auf Parteiidentifikation wie auch auf Personen- und Themenentscheidungen zurückführt. Hinzu kommt, wie ich angetönt habe, dass man auch eine taktische Komponenten mitaufnehmen sollte, weil man abgesichts der Wahlchancen und Personenkonstellationen bisweilen nicht die idealste, wohl aber optimalste Kandidatur unterstützen kann.
>Prinzip der ungeteilten Standesstimme funktionieren soll, was für eine Bestückung aus einem politischen Lager spricht, oder ob das politische Spektrum breit vertreten sein soll, mit dem Risiko, dass sich die beiden Kantonsstimmen neutralisiere.
Das Argument ungeteilte Standesstimme kommt ja immer nur dann, wenn eine Partei mit einem 2. Kandidaten Erfolg haben will.
Das ist allerdings lächerlich, weil auch Ständeräte der gleichen Partei unterschiedlich stimmen, und Ständeräte nicht die Partei, sondern deren Wähler und deren Kanton vertreten.
Erinnert man sich an die Zusammensetzung des Zürcher Ständerats, so haben Personen mit Charisma mehr Chancen als reine Parteiköpfe.
Ebensogut könnte man im Nationalrat für die ungeteilte Parteistimme argumentieren. Das hätte den Vorteil, dass pro Kanton lediglich eine Person verteten sein muss. Nur welche?