Die politischen BürgerInnen im Persönlichkeitstest

Morgen erscheint das neue Grundlagenwerk zur politischen Psychologie in der Schweiz. Verfasst hat es Markus Freitag, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern. Editiert hat es NZZ-Libro. Hier mein Rezension.

9783038102762

Markus F. ist zweifelsfrei ein gewissenhafter Mensch. Und er ist offen für Neues. Neurotische Störungen zeigt er keine, extrovertiert ist er nicht. Am ehesten noch könnte man ihn einen meist verträglichen Kollegen nennen. So würde ich Forscher Markus Freitag, Professor für politische Soziologie an der Universität Bern beschreiben. Sich selber sieht er ausgesprochen ähnlich. Das spricht für ihn, und für seinen neuen Persönlichkeitstest!

Persönlichkeitsmerkmale der Schweizer und Schweizerinnen
Aus der langen Reihe von Untersuchungen zum menschlichen Charakter im 20. Jahrhundert übernimmt der Berner Politikwissenschafter ein kurzes Erhebungsinstrument mit 15 Eigenschaften, die zu 5 Faktoren der humanen Persönlichkeitsstruktur gebündelt werden. Den Test wandte er während 5 Jahren bei 14000 SchweizerInnen an, um nun zu folgern: Die „BigFive“, wie die internationale Forschung die standardisierten Persönlichkeitsprofile nennt, gibt es auch in der Schweiz. Allerdings kommen sie unterschiedlich stark vor. Und nicht alle Individuen haben nur einen hauptsächlichen Charakterzug. Die Schweizer und Schweizerinnen sind
• erstens gewissenhaft (46-56%),
• zweitens verträglich (28-39%),
• drittens offen für Neues (16-27%),
• viertens extrovertiert (14-19%) und
• fünftens emotional instabil (2-4%).
Am wenigsten überrascht Letzteres. Denn das Konstrukt im Frageraster enthält mehr als die anderen Faktoren negative Aussagen. Das erschwert die Zustimmung und führt zum klar tiefsten Messwert. Mit Neurotizismus, wie die Big-Five-Forschung das Phänomen nennt, assoziiert man zudem zu schnell Neurosen als seelische Erkrankung. “Emotional instabil ist da deutlich neutraler.
Abgesehen von diesem Label-Problem, die Forschungsergebnisse im neuen Buch des Berner Professors sind solide und haben es in sich. Die Theorieaufarbeitung ist nahe der internationalen Literatur und für die Schweiz weitgehend neu. Die Datenlage ist ausgesprochen beeindruckend. Deren Auswertungen sind sophistiziert, wenn auch für Nicht-Eingeweihte anspruchsvoll. Das Buch aus dem NZZ-Libro-Verlag ist zudem grafisch schlicht aufgemacht, die Texte sind verständlich und die Buchanlage zeugt von grosser Überlegenheit mit dem Stoff.

Der politologische Mehrwert
Der politologische Mehrwert des Buches leitet sich aus der für die Schweiz erstmaligen Analyse von Persönlichkeitsmerkmalen auf politische Einstellungen und Verhaltensweisen ab. Nicht ganz überraschend, sind die Daten namentlich bei der Analyse der Parteibindungen interessant. Die Psychologie hat hier seit 60 Jahren stets Brauchbares entwickelt. Mit der jetzigen Innovation wird diese auf eine neue Basis gestellt. Denn Freitag zeigt, wie Persönlichkeitsmerkmale weltanschauliche Positionen, Werthaltungen, ideologisierte Themen und Präferenz für eine bestimmte Mediengattung bestimmen.
Politikwissenschafter Freitag trifft da den Nerv der gängigen Forschung. Denn nach Jahren soziologischer und ökonomischer Untersuchungen von Wählenden beschleicht einen das Gefühl, weder rein rationalistische noch vorwiegend kontextuelle Analysen seien hinreichend. Die Zugehörigkeit zu Grossgruppen hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv gelockert, und die so befreiten BürgerInnen sind nicht einfach eiskalte Rechner geworden. Freitags These lautet: Mit der Säkularisierung und Individualisierung der Gesellschaft einerseits und der Medialisierung, Personalisierung und Emotionalisierung der politischen Kommunikation anderseits, werden Persönlichkeitsmerkmale für die politischen Orientierungen und die Parteienwahl wichtiger. Um Missverständnissen vorzubeugen:
Der Forscher macht zwei wichtige Einschränkungen: Erstens ist sein Vorgehen eine Ergänzung, nicht ein Ersatz zu bisherigen Erklärungen namentlich der politischen Soziologie, und zweitens, die aufgezeigten Zusammenhänge gelten nicht als absolute, sondern sind durchwegs statistisch signifikante Wahrscheinlichkeitsaussagen.
Und das sind Freitags parteipolitischen Prognosen:
• Gewissenhaftigkeit verweist auf eine Nähe zur SVP.
• Verträglichkeit macht eine Bindung an SP oder CVP wahrscheinlicher, nicht aber an die SVP.
• Offenheit für neue Erfahrungen begünstigt Sympathien zu SP oder Grünen, nicht aber zur FDP.
• Extraversion ist dagegen sowohl für die Identifikation mit FDP als auch GPS und SP von Bedeutung. Bei den Letzteren allerdings mit negativem Vorzeichen.
• Gering, aber vorhanden sind die Effekte der emotionalen Instabilität, namentlich bei CVP und SP-AnhängerInnen. FDPler erscheinen da belastbarer.
Das alles interpretiert Freitag als Vorboten der Parteientscheidungen, die er bei den Nationalratswahlen 2015 zusätzlich mit den Persönlichkeitsprofilen untersucht hat. Sein Fazit:
SVP-Wählende waren wenig offen, dafür beharrlich, wenig kompromissbereit, dafür durchsetzungsfähig. Am meisten wirkte die Gewissenhaftigkeit, gegenläufig die Verträglichkeit.
FDP-Wählende vereinen ihrerseits hohe Werte für Extraversion und Gewissenhaftigkeit, nicht aber Offenheit und Ängstlichkeit. Sahen sie eine Möglichkeit, auch SVP zu wählen, sticht diese die FDP namentlich bei den Gewissenhaften aus.
Die SP wiederum erhielt ihre Stimmen vermehrt von Menschen mit offener Persönlichkeit. Hinzu kamen verträgliche Personen, mit Hand zu Introversion.
Von der Offenheit der Menschen profitierten auch die Grünen. Dagegen nützten ihnen Gewissenshaftigkeit und Extraversion wenig. Anders als bei der SP war Verträglichkeit hier kein besonderer Wahlgrund.
Es bleiben die Parteien der Mitte. Da hält sich Freitag augenscheinlich zurück. Einmal weil es bei Parteien wie der BDP und der GLP schwierig sei, aufgrund von Umfragen eindeutige Persönlichkeitsmerkmale festzumachen. Sodann auch wegen des Parteiauftritts, wobei Freitag namentlich an die CVP denkt. „Fallen die sozialen Katalysatoren aus der Umgebung weg, kommt einem sichtbaren programmatischen Profil, das die eine oder andere Persönlichkeit anspricht und ein entsprechendes politisches Verhalten herauskitzelt, eine immer grössere Bedeutung zu“, so der Fachmann. Es mag sein, dass man hier weitersuchen muss. Spannend wäre sicher die Verbindung zu Jonathan Haiths Aufteilung der moralischen Kategorien Progressiver in Freiheit, Fairness und Fürsorge, während Konservative Reinheit, Autorität und Loyalität als Prinzipien bevorzugen.

Das neue Standardwerk
Markus Freitag legt zweifelsfrei das bisherige Schweizer Standardwerk zum neuen Forschungsfeld der Politikwissenschaft vor. Der Platz auf der obligatorischen Vorlesungslektüre in der politischen Einstellungsforschung ist gesetzt. Das Buch dürfte sich im akademischen Bereich dann auch rasch etablieren. Für mich ist klar: Ich werde neu eine Doppelstunden “Politische Psychologie” in meine Vorlesung zur Wahlforschung einbauen. Thematisch birgt es Potential, auch ausserhalb der Universität, namentlich bei Werbenden, Medienplanenden und PolitcampaignerInnen, Verwendung zu finden.
Der Autor betont, in den vergangenen 5 Jahren aus wissenschaftlicher Neugier geforscht zu haben. Offen für neue Erfahrungen eben, gepaart mit der Gewissenhaftigkeit eines Professors. Als sich der Lehrstuhlinhaber dem neuen Thema annahm, ahnte er selbstredend nicht, in welche Fahrwasser er damit geraten könnte. Denn auch CambridgeAnalytica, im Winter 2016/17 vom „Magazin“ der Tamedia-Gruppe medienwirksam verdächtigt, Wesentliches zum Sieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen geleistet zu haben, arbeitet mit dem OCEAN-Modell. Das ist nichts anderes als der englische Name für das von Freitag verwendete BigFive-Instrumentarium.
Anders als die Marketingleute der Republikaner, die mit BigData aus dem Internet gearbeitet haben, ist Freitag bei der Datenbeschaffung konventionell vorgegangen. Er hat repräsentative Bevölkerungsbefragungen eingesetzt, und die Ergebnisse auf der individuellen Ebene anonymisiert. Das macht die direkte Nutzung für Microtargeting unbrauchbar. Dennoch, seine Resultate dürften die hiesige Wahlkampfkommunikation 2019 beeinflussen. Denn sie sind geeignet, die in der Schweiz unterentwickelte psychografische Segmentierung der Wählerschaften besser als bisher vornehmen zu können.

Ein kleiner Ausblick
Ob mit dem neuen Buch die Schweizer “Psyche des Politischen” bereits freigelegt wurde, glaube ich nicht. Dem Werk hätte ich den Titel gegeben: „Die politischen BürgerInnen im Persönlichkeitstest. Was die Politik daraus für Schlüsse ziehen kann“. Das bekommt man mit dem neuen Buch einwandfrei geliefert, wenn man den Band kauft. Wer ihn auch liesst, merkt schnell, dass die Lektüre das Bewusstsein für Persönlichkeitsmerkmale politisch denkender und handelnder Menschen schärft. Freitag tönt denn auch an, seinen Bürgertest zum Politikertest ausarbeiten zu wollen. Das wäre meines Erachtens sinnvoll, um zu verstehen, ob offene oder gewissenhafte BürgerInnen PolitikerInnen bevorzugen, wie sie sind, oder doch den Hang haben Extraversion als Charaktereingenschaft vieler PolitikerInnen wählen.

Claude Longchamp
(gewissenhaft, offen für Neues, emotional leicht instabil, immer weniger extravertiert und beschränkt verträglich)

Markus Freitag: Die Psyche des Politischen. NZZ Libro, Zürich 2017.

Demokratiegeschichte ist Protestgeschichte.

978-3-0340-1384-0

Rezension von Rolf Graber: Demokratie und Revolten. Die Entstehung der direkten Demokratie in der Schweiz. Chronos Verlag, Zürich 2017.

In seinem neuesten Buch, „Demokratie und Revolten“ übertitelt, widerspricht Rolf Graber, Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Schweizer Geschichte an der Universität Zürich, gängigen Erzählungen der hiesigen Demokratiegeschichte. Weder sei die direkte Demokratie der Schweiz in der Regenerationszeit des 19. Jahrhunderts entstanden, noch lasse sich sie unvermittelt aus den mittelalterlichen Landsgemeinden ableiten. Vielmehr sei die Demokratiegeschichte der Schweiz eine Geschichte des politischen und sozialen Protestes, die in der “Sattelzeit” (R. Koselleck), hierzulande von der Spätaufklärung (um 1760) bis zur Etablierung der zweiten Verfassung des jungen Bundesstaates (1874), ihren Anfang habe.
Grabers These, im Schlusswort nachgerecht, ist unmissverständlich: „Die Untersuchungen haben gezeigt, dass die Forderungen nach mehr Partizipation immer auch an soziale und materielle Anliegen gekoppelt sind, die von der Hoffnung auf eine menschenwürdige Existenz befeuert werden und eine beträchtliche Dynamik entfalten. In diesem Sinne sind die Demokratiebewegungen eine Antwort auf gesellschaftlichen Entwicklungen und den liberal-kapitalistischen Modernisierungsprozess. Die Verlierer und Verliererinnen in diesem Modernisierungsprozess suchen einen sozialverträglicheren Weg in die Moderne.“
Das Material hierfür gliedert sich in vier Schwerpunkte: den Politisierungsprozess vor und nach der französischen Revolution (1762-1813), die Bewegungen während der Restauration (1815-1830), die Regeneration mit der Modernisierung der Landsgemeinden, aber auch dem Widerstand gegen die liberalen und konservativen Regierungen (1830-1848) sowie die demokratische Bewegung (1861-1896). Entwickelt werden so die Stufen der Institutionalisierung direkter Demokratie in der Schweiz. Zunächst geht es bloss um innere Dynamisierungen bestehender Zustände wie dem klassischen Republikanismus, den Gemeindefreiheiten, den Landsgemeinden, der überlieferten Geschlechterverhältnissen und den eingeschränkten Gleichheitspostulaten. Hinzu kommen jakobinische Impulse aus dem revolutionären Frankreich.
Doch dann passiert es in St. Gallen. Denn es kommt 1831 aus dem dramatischen Disput zwischen liberalen Anhängern der repräsentativen Demokratie und versammlungsdemokratischen Forderungen zum ersten Veto, der ersten direktdemokratischen Institution. Typischerweise sind die Rebellierenden enttäuscht, keine Volksherrschaft erreicht zu haben, übersehen dabei aber, dass sie das erste Muster der Volksbeteiligung mit Nachahmungseffekten etabliert hatten. Das Referendum, wie man es heute als gängigstes Volksrechte kennt, wird nicht in der für frühdemokratische Revolten quirligen deutschsprachigen Schweiz entwickelt, sondern 1845 erstmals in der Waadt eingeführt. Von da aus machen sie während. 1874 findet das fakultative Referendum Einzug in die Bundesverfassung, um 1891 um die Teilrevisionsinitiative erweitert.
Systematischen Wert hat das Kapitel zur „Demokratiegeschichte als Protestgeschichte“. Denn da wird das weit ausgebreitete Material einer synthetischen Analyse unterzogen: Zuerst geht es um Organisationsformen der direktdemokratischen Revolten. Grundlegend sind der legale Protest des Bittens und Begehrens von Untertanen aus der frühen Neuzeit. Hinzu kommen vorhelvetische Versammlungsformen mit der Landsgemeinde als Vorbild sowie gut verankerte volkskulturelle Protestformen mit hohem Symbolgehalt, meist in Form von Gewaltandrohung. Schliesslich werden auch neue Geselligkeitsformen des 18. Jahrhunderts, die in aufgeklärten Sozietäten entwickelt worden waren, zu den Anfängen der direkten Demokratie gezählt. Träger des Protest sind die ländliche Bevölkerung aus der Mittel- und Unterschicht. Angeführt werden sind von meist charismatischen Persönlichkeiten mit Nähe zur Bevölkerung, allen vor allen markanten Gastwirten. Deren Vorstellungswelten seien nicht irrational gewesen, wie die damaligen Eliten und ihre Nachfolger kritisierten, wendet der Autor ein. Vielmehr folgten sie einer grundlegenden Logik: sozialer Fortschritt durch politische Partizipation! Legitimiert wurde dies nicht selten durch den Rückgriff auf traditionsreiche Figuren der Schweizer Geschichte, allen voran Wilhelm Tell.
Direkte Demokratie ist demnach weder in den Anfängen der Eidgenossenschaft begründet worden, noch eine Spezialität der hiesigen Liberalen. Es ist die Folge von vielgesichtigen Rebellionen gegen die Etablierten, die jedoch nicht im populistischen Protest endeten, wie man aus heutiger Sicht meinen könnte. Denn ihre Besonderheit besteht darin, Institutionen der Volksbeteiligung an der Demokratie via Wahlen hinaus entwickelt zu haben.
Grabers Leistung wiederum ist es, die politkulturelle Eigentümlichkeit der schweizerischen direkten Demokratie herauszuarbeiten. Dabei widersteht er dem Versuch, sie zu einem einzigartigen Vorbild für andere zu stilisieren. Vielmehr bezeichnet er sie als unvollkommen. Denn die Inklusion gesellschaftlich randständiger Gruppen bedurfte stets internationaler Impulse. Die Frauen blieben lange ganz aus dem demokratischen Geschehen ausgeschlossen. Und äussere Bedrohungen wie der Zweite Weltkrieg führten via Dringlichkeitsrecht und Notrechtsregimes zu jähen Unterbrüchen der direkten Demokratie.
Was der Autor uns erzählt, ist ein farbenreiches Kaleidoskop aus Jugendrevolten, Zunftkonflikten, Utopien freier (Lands)Gemeinden, rebellierenden Fischweibern, Prügelmännern und Sackpatrioten, über die frühe demokratische Diskurse entstehen, zu oft als Pöbelherrschaft und Ochlokratie diskreditiert. Es ist aber auch eine Skizze der Genese von erfolgreichen und gescheiterten demokratischen Institutionen, die ihren lokalen oder kantonalen Kontext nur schwerlich überwinden konnten. Und es ist der Hinweis, dass internationale Verbindungen wie die des Waadtländer freisinnigen Staatsmannes Henry Druey zum Durchbruch der Volksrechte führten.
Das neue Geschichtsbuch hat denn auch eine spürbare Mission, die den Historiker aus Kreuzlingen als Interpreten von Jürgen Habermas erkenntlich macht: Die vielfältigen Widerstände zur Modernisierung seien Ausdruck des Spannungsverhältnisses von System und Lebenswelt, enthielten gleichsam eine Antwort auf die „Kolonisierung von Lebenswelt“ und die Zerstörungen traditioneller Existenzformen durch den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Modernisierung. „Diese Gegenentwürfe sind … Wegbereiter einer anderen Moderne, indem sie nach einem „weniger rücksichtslosen Weg in die Moderne“ suchen.
Oder noch deutlicher: Als permanenter Kampf um Anerkennung sei das Vorhaben „direkte Demokratie“ immer „ein unvollendetes Projekt, das über nationalstaatliche Ausprägungen hinausweist. Indem es an soziale Gerechtigkeit gekoppelt ist, verweist es auf den universalistischen Geltungsanspruch der Würde des Menschen als realistische Utopie einer gerechten Gesellschaft. Möglicherweise sind die Spuren der Demokratiegeschichte zugleich Pfade nach Utopia.“

Claude Longchamp

En marche, Martin Landolt!

2008, als die BDP entstand, bildeten die Vertretungen der Kantone Bern, Graubünden und Glarus den Kern der neuen Partei. Sie alle hatten die SVP verlassen. Die Bündner und die Glarner konnten sich zudem auf die Tradition der Demokraten berufen, die sich erst 1971 mit der BGB zur SVP zusammengeschlossen hatten. Doch das ist Geschichte. Um Zukunft zu haben, braucht die BDP eine Neubestimmung als republikanische Kraft. Hier die gekürzte und ergänzte Fassung meiner Rede vor der Delegiertenversammlung der BDP Schweiz.

Die Tradition der “Demokraten”
Die Demokraten sind ein Kind des 19. Jahrhunderts. Nach der Gründung des Bundesstaates 1848 dominierte der Freisinn die Politik weitgehend. Nur in den katholisch-konservativen Kantonen gab es noch Opposition hierzu. Vieles änderte sich mit dem Eisenbahnbau in den 1860er Jahren, denn auch der rief nach Widerspruch. Es war die demokratische Bewegung, getragen von Bauern, Gewerbetreibenden und Arbeitern, die sich gegen das einflussreiche „System Escher“ wehrten. In neuen Volksrechten sah die Demokratische Partei, die aus der Bewegung entstand, das eigentliche Mittel der Opposition. Zuerst im Kanton Zürich, dann im Bund machte sich die DP für das Referendum stark – und hatte Erfolg damit!
Doch die nationale Partei war nicht von Dauer. 1894 schloss sie sich der neu gegründeten FDP an. Erst die Krise der 30er Jahre im 20. Jahrhundert belebte den Gedanken der nationalen Partei neu. 1941 kam es zu einer Neugründung der Demokratischen Partei, die jedoch weitgehend folgenlos blieb. Anders sah es mit der DP in ihren kantonalen und städtischen Hochburgen aus. Namentlich in der Ostschweiz hielt sich die DP. Diese Kantonalparteien waren es denn auch, die sich 1971 der SVP anschlossen. Nur die Zürcher entschieden sich für die FDP.

Gemeinsames und Trennendes mit der BDP

Die Demokratischen Parteien waren stets eine Erscheinung der politischen Mitte: freiheitsliebend, sozial und demokratisch. Klassenkampf zwischen den sozialen Schichten und Kulturkampf zwischen den Konfessionen lehnten sie ab. Vielmehr suchten sie das Wohl des Volkes zu mehren, indem sie als kleine Partei überparteiliche Lösungen favorisierten. Genau das ist es, was die heutige BDP mit der früheren DP verbindet. Doch es gibt auch Trennendes: Die BDP war von Beginn weg eine Regierungspartei. Sie entstand, um die staatstragenden Kräfte, die aus der SVP angeschlossen wurden oder ihr den Rücken zudrehten, zu sammeln und ihnen eine neue politische Heimat zu bieten. Die DP von damals kontrastiert hiermit. Sie war von Anbeginn eine Oppositionspartei, deren Ziel es war, Unzufriedenen mit der freisinnigen Vorherrschaft eine gemeinsame Plattform zu bieten. In der Mobilisierung des Volkes waren anfänglich sie stark, die politische Arbeit in den Institutionen wurde jedoch nie ihr Ding.

Die Gegenwart der “Republikaner”
Die BDP sieht sich heute als Nachfolgerin der DP. Das ist richtig und falsch zu gleich! Richtig ist es, weil sie in den Kantonen Graubünden und Glarus in der Tradition der Demokraten steht. In anderen Kantonen macht diese Analogie indes wenig Sinn. Da ist die BDP eher die Nachfolge der BGB oder der UdC im ursprünglichen Wortsinn. Man kann noch weiter gehen. Bezogen auf das Urparteiensystem der Schweiz, wie es in der helvetischen Republik 1798 mit Demokraten, Republikanern und Föderalisten entstand, politisiert die heutige BDP am ehesten wie die ursprünglichen Republikaner: bürgerlich, am Gemeinwohl ausgerichtet und staatsbildend. Die Demokraten der ersten Stunde waren noch ausgesprochene Franzosenfreunde, Zentralisten und für die Beteiligung am revolutionären Europa mit Paris als Ausgangspunkt. Das ist nicht BDP-like. Die Föderalisten wiederum waren zu stark in der Tradition des Ancien Regimes verankert, um in der anbrechenden Moderne überhaupt einen Vorteil zu sehen. Auch das passt nicht zur heutigen BDP.
Republikaner sind in meinem Verständnis nicht die Anhänger von Schwarzenbach in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es sind auch nicht die Wähler Trumps oder Fillons. Republikaner handeln mit einer hohen Gesinnungsethik, aus der sie ihre Verantwortung ableiten. Und sie glauben an die gestaltende Kraft der Politik für das allgemeine Wohl, das sie mit ihrem Einsatz im Staat realisieren wollen.

Drei Herausforderungen der BDP

Die Frage ist berechtigt, ob die republikanische BDP eine Chance hat? Mit dem Rücktritt ihrer BundesrätInnen verlor die BDP den zentralen Hebel zu Macht. Sie ist nicht mehr die Mehrheitsbeschafferin par excellence. Davon unterscheidet sich die Lage in Graubünden, Bern und Glarus. National ist die BDP eine Parlamentspartei, die schnell lernen muss, Wahlen wieder zu gewinnen: zuerst in den Kantonen, 2019 auf Bundesebene. Denn bei einer weiteren Niederlage in Nationalratswahlen droht die Bedeutungslosigkeit und der Zerfall als Bundespartei.
Meine Einschätzung ist: Die politische Positionierung in der Mitte stimmt. Die hohe Rate an Erfolgen bei Volksabstimmungen bestätigt dies. Noch fehlt es aber am eindeutigen Unterscheidungsmerkmal im politischen Programm. Kleine Parteien haben da vor allem dann eine Chance, wenn sie sich als Vorausdenkerinnen profilieren können, und wenn sie für ihre Projekte überparteiliche Partner suchen.
Die zweite, viel grössere Herausforderung zur Trendwende besteht in der Rekrutierung des politischen Personals, das in den Kantonen und auf Bundesebene die BDP in den Parlamenten die BDP tatkräftig vertreten kann, das aber auch medial für eine glaubwürdige Präsenz sorgt. Die Zeit für die personelle Erneuerung ist kurz. 2018 sind massgebliche Wahlen in Bern, 2019 im Bund. Bis dann muss sich das neue Personal aufgebaut sein, das den turn-around schaffen will.
Damit verbunden ist die dritte Herausforderung: Thematisch, personell und kommunikativ muss eine Partei, die eine nationale Wahl verloren hat, alles auf eine Karte setzen, um die Aufmerksamkeit mit politischer Substanz, markanten Figuren und cleverer Vermittlung rasch wieder auf sich zu ziehen. Auf dem Land sind finden sich neue Wählerende am ehesten bei unkonventionellen Bürgerlichen, in den Städten parteipolitisch unabhängigen Linksliberalen.
Selbst wenn man die politischen Systeme und politischen Kulturen Frankreichs und der Schweiz nicht direkt vergleichen kann, zeigt das Beispiel von Emmanuelle Macron’s „En mache!“, dass es bei aller Aufmerksamkeit für Populisten an den politischen Polen ein Potenzial für die Mitte gibt, die den Anspruch stellt, ein Land regieren zu wollen und für eine politische Koalition mit ähnlich Gesinnten hüben und drüben bereit ist.
„En Marche!“, Martin Landolt!
Claude Longchamp

Medienwirkungen in Abstimmungskämpfen: nur differenzierte Ansätze zeigten, was gilt.

Dieser Blogbeitrag erschien zuerst als Standpunkt auf swissinfo.ch

Kürzlich berichtete swissinfo.ch von einer kleinen wissenschaftlichen Sensation. Erstmals sei der Zusammenhang zwischen der Nutzung eines Mediums mit politischer Ausrichtung und wechselnder Stimmabsicht in einer Sachfrage nachgewiesen worden. Ich halte dagegen: In Anbetracht des verkannten Forschungsstandes ist die gemachte Beobachtung kaum verallgemeinerbar.

Der neue Befund
Laurent Bernhard, Forscher am NCCR, präsentierte seine These an den 9. Aarauer Demokratietagen. Drei Fallbeispiele dienten ihm zur Erläuterung. Bei der Unternehmenssteuerreform II (2008) zeigte eine kombinierte Vor- und Nachbefragung eines repräsentativen Querschnitts von Stimmberechtigten einen Meinungswandel, der im direkten Zusammenhang mit der Mediennutzung stand. Konkret: Wer mehr in der Sache positiv berichtende Medien konsumiert hatte, der wechselte häufiger vom Nein ins Ja als umgekehrt.
In einem Blogbeitrag auf «DeFacto» rühmte sich der Autor, als erster den Effekt von Medieninhalten auf das Stimmverhalten im Bereich der direkten Demokratie aufgezeigt zu haben. Sein Schluss: “Stimmbürger und Stimmbürgerinnen lassen sich auf systematische Weise beeinflussen, wenn sie auf inhaltlicher Ebene mit höchst komplexen und wenig vertrauten Volksabstimmungen konfrontiert sind.”

Was die Wirkungsforschung sagt
Die Medienwirkungsforschung unterscheidet drei Folgen der Medienberichterstattung: Die elementarste besteht darin, Informationen zu erhalten und zu verarbeiten, die eine Meinungsbildung überhaupt erst erlauben. Einen sichtbaren Einfluss haben Medien zudem, wenn sie die eigentliche Ursache eines Meinungswandels sind. Man spricht aber auch dann von Medienwirkungen, wenn Medien durch die Ansprache tiefliegender Werte und Stereotypen in einem Abstimmungskampf eine Position begünstigen.
Selbst wenn Medienwirkungen in der politischen Kommunikation der theoretische Normalfall sind, gelingt ihr empirischer Nachweis meist nicht. Denn es ist schwierig, einen bestimmten zu isolieren und seinen spezifischen Effekt aufzuzeigen. Bei Schweizer Volksabstimmungen kommt das jedoch durchaus vor. Die SRG-Befragungen haben hier vieles erhellt, der Abstimmungsmonitor von foeg hilft bisweilen auch.
Typisch für spezifische Forschungsarbeiten zum Thema ist die politikwissenschaftliche Abschlussarbeit von Edward Weber von der Uni Zürich. Untersucht hat er 65 Volksabstimmungen im Zeitraum von 1998 und 2011. Seine Ergebnisse sind seit fünf Jahren greifbar.
Einer der interessanten Fälle ist auch bei Weber die Unternehmenssteuerreform II. Hauptgrund: sehr knappes Ergebnis. Er weist dabei einen Zusammenhang zwischen dem Werbeüberhang auf der Ja-Seite einerseits, der Zunahme der Zustimmung im Abstimmungskampf anderseits nach. Mehr noch: Mittels Modellrechnung kommt er zum Schluss, dass das Ergebnis ablehnend gewesen wäre, hätte bei den Werbeausgaben ein Gleichstand geherrscht. Gleiches fand er in seinem riesigen Datensatz nur sehr selten.

Nur komplexe Forschungsdesigns bringen eine Klärung
Cloé Jans hat mit ihrer politikwissenschaftlichen Abschlussarbeit an der Universität Bern den bisher komplexesten Erklärungsansatz überprüft. Denn er umfasst alle denkbaren Ursachen, die sich messen lassen. Angewandt hat sie das Modell auf 35 Volksabstimmungen zwischen 2006 und 2011. Seit 3 Jahren ist auch diese Arbeit verfügbar. Drei wesentliche Erkenntnisse lassen sich aus ihr ableiten:
Erstens, in einem Abstimmungskampf verändern sich die Ablehnung einer Vorlage als Folge der Koalitionsgrösse. Je geringer die Einigkeit auf befürwortender Seite ist, desto eher nehmen die Neinstimmen im Abstimmungskampf zu.
Zweitens, die finanziellen Mittel beeinflussen die Veränderungen der Stimmabsichten. Der Zusammenhang ist systematisch, wenn die Opposition investiert, derweil der Effekt auf der Ja-Seite unsicher bleibt.
Drittens, auch die Komplexität und Relevanz der Vorlagen haben einen Einfluss auf die Dynamik der Meinungsbildung. Die Zusammenhänge sind aber nicht robust. Sie finden sich bei komplexen Vorlagen vor allem dann, wenn das Ja-Lager uneinheitlich auftritt oder die Nein-Seite Geld in die Hand nimmt.
Cloé Jans war am Ende ihrer vorbildlichen Master-Arbeit enttäuscht. Hauptgrund: In keinem Modell blieb der angenommene Medieneffekt signifikant. Oder anders gesagt: Nicht alles von dem, was man an Medienwirkungen im Einzelfall durchaus findet, ist verallgemeinerbar.

Meine Bilanz
Nun sagt die Studie von Jans nicht, dass die Beobachtungen von Bernhard falsch wären. Was jedoch fehlt, ist die korrekte Einordnung seiner Ergebnisse in den sehr wohl vorhandenen Forschungsstand. Der zeigt, dass die Sache in aller Regel komplex ist, und nur angemessene Forschungsdesigne gesicherte Zusammenhänge erhellen. Slogans zur Medienwirkung in Abstimmungskämpfen sind deshalb nicht angebracht. Untersuchungen basierend auf einer möglichst grossen Anzahl Fälle bringen am ehesten Licht ins Dunkel der vielfach vermuteten Wirkungen. Solche Erklärungen, die nicht nach einer einzigen Ursache suchen, sind allen anderen vorzuziehen.
Selbst wenn die These dadurch medial weniger steil ausfällt.

Claude Longchamp

Politische Entscheidfindung in der Schweiz neu eingeschätzt.

Es ist ein verkanntes Standardwerk der politikwissenschaftlichen Analyse des politischen Systems der Schweiz. Dennoch bleibt die Rezeption weit unter den Erwartungen. Nicht zuletzt wegen der englischen Sprache, in der es erschienen ist.

Es kommt selten genug vor, dass PolitikerInnen mich auf eine Neuerscheinung aus der politikwissenschaftlichen Grundlagenforschung angesprechen. Beim Buch “Political decision-making in Switzerland. The consensus model under pressure” war es gleich mehrfach so. Der eine Teil der Nachfragen ergab sich aus Interesse an der Sache, der andere aus dem Erstaunen, dass ein solch wichtiges Werk ausschliesslich in englischer Sprache erscheint.

sciarini

Die Rezension von Silja Häusermann
In der jüngsten Ausgabe der “Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft”, pardon, der “Swiss Political Science Review”, bespricht Silja Häusermann das neue Buch von Pascal Sciarini, Manuel Fischer und Denise Traber ausführlich und gekonnt. Einem grossen Trend in der forschenden Politikwissenschaft folgend, ist selbst die Rezension auf englisch. Das ist und bleibt eine hohe Hürde bei der Popularisierung von Forschungswissen, weshalb ich hier einige zentrale Aussagen zusammenfasse und die aus meiner Warte kommentiere.

Vier Eigenschaften kennzeichnen die neue Sicht auf Entscheidungsstrukturen gemäss der Spezialistin für Schweizer Politik an der Universität Zürich: Erstens, der Mut der Forscher aus Genf, ihre Argumente aus der Sicht der Makro-Perspektive zu präsentieren, selbst wenn sie grösstenteils aus Interviews mit Akteuren stammen; zweitens, das nicht-institutionelle Verständnis von Macht, das sich nicht aus besetzten Positionen, sondern aus Akteursbeziehungen ableitet; drittens, die Wiederholung und Ausweitung bestehender Studien, was erstmals die Abschätzung zeitliche Entwicklungen ermöglicht; und viertens, einige Schlussfolgerungen zur Bedeutung der Forschungsergebnisse für die politische Praxis.

Die in der Studie verwerteten Interviews reflektieren 11 zentrale Entscheidungen der Schweizer Politik im beginnenden 21. Jahrhundert. Ermittelt wurden diese aufgrund von 80 ExpertInnen-Interviews, die damals nahe, wenn auch nicht direkt im politischen Prozess postiert waren. Analysiert wurden die Entscheidungen aufgrund von 320 weiteren Interviews mit Insidern politischer Akteure, die an den Entscheidungen beteiligt waren. Einzelergebnisse aus dem Forschungsprojekt, wie etwas die herausragende die Dissertation von Manuel Fischer, habe ich hier auch schon besprochen; andere Resultate sind in Fachzeitschriften und Magazinen bereits mehrfach diskutiert worden. Dazu zählen die Hinweise auf den Rückgang des Korporatismus, der Aufstieg neuer Bruchlinien rund um kulturellen Liberalismus und globale Offenheit oder die Polarisierung des Parteiensystems.

Häusermann identifiziert mehrere Beiträge aus der neuen Gesamtsicht auf die Entscheidungsprozesse in der Schweizer Politik:

Zunächst das Muster der Entscheidungsfindung: Den Forschern erscheint die Entscheidfindung unverändert offen und einbindend, dennoch ist sie konfliktreicher geworden. Hauptgrund ist, dass sich ein neues, nationalkonservatives Akteursnetz rund um die SVP gebildet hat. Damit verbunden, hat sich sind die effektive Entscheidungen vom vorparlamentarischen Prozess in die vorberatenden Kommissionen des Parlaments verlagert worden. Dort dominieren nicht mehr FDP und CVP, sondern die Polparteien rechts und links. Als Folge des Machtverlustes im Zentrum haben Verbände insbesondere in der Innenpolitik an Bedeutung verloren, die Kantone sind in Fragen des Föderalismus zu relevanten Playern aufgestiegen und die Verwaltung ist in der Verlinkung der Europapolitik entscheidend geworden.

Sodann die Machtbeziehungen: Wer im inneren Kreis der Machtbeziehungen geblieben ist, zeigt sich, wenig erstaunlich, deutlich zufriedener mit den ausgehandelten Ergebnissen. Das gilt vor allem für die Wirtschaftsverbände. Auf der anderen Seite stehen namentlich die Gewerkschaften, die ihre ganz zentrale Stellung im Machtgeflecht eingebüsst haben. Indes, die Studie zeigt auf, dass nicht nur Polarisierung Zufriedenheit und Unzufriedenheit erzeugt. Denn gerade dann, wenn es viele Gewinner gibt, ist auch die Zufriedenheit hoch. Das bedeutet auch, dass die Konsenssuche und -findung von Vorteil für die Beteiligten ist und bleibt, selbst wenn sie seltener vorkommen.

Ferner die Europäisierung und Medialisierung: Beide Prozesse sind zeitliche Begleiter und sachliche Beschleuniger der Veränderungen. Das gilt namentlich in der Kombination beider Trends, denn gerade die Europafrage ist keine “ruhige Politik” mehr, sondern hochgradig zur “lauten Angelegenheit” mit vielen Stimmen geworden. Oeffentlichkeit herzustellen, bleibt nicht neutral. Denn die Frage der Positionierung selbst in Einzelfragen gewinnt auf diesem Weg an Wichtigkeit.

Schliesslich der Zeitvergleich: Die diachrone Darstellung zeigt, dass der Aufstieg des nationalkonservativen Netzwerkes die Parlamentsarbeiten nicht durchschlagend verändert hat. Hauptgrund ist, dass die SVP in zahlreichen Fällen in Opposition hierzu bliebt. Verschwunden sind allerdings breite Allianzen, dominierend sind minimale Koalitionen. Der Preis hierfür ist die steigende Unsicherheit von Entscheidungen, nicht zuletzt durch vermehrt riskierte Referenden.

Mir haben die Arbeiten von Sciarini und Gefährten schon mehrfach geholfen, meine Beobachtungen zur Veränderung von Entscheidungsprozessen zu systematisieren. So 2014 gerade nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative, als ich etwa vor dem Club politique über den Relevanzverlust der Verbände referierte und Verwaltung und Massenmedien als neue Treiber gerade der Europa-Politik vorstellte. Oder 2015, als ich vor den versammelten Regierungsräten der 26 Kantone sprach und es um den Aufstieg der SVP ging, der sich via eidgenössische Abstimmungen zeigte, nationale Wahlen thematisch dominierte, namentlich in Kantonsregierungen aber nie die gleiche Bedeutung erlangte. Und so auch 2016 in meinen Kursen für Verbände, nicht zuletzt, um die gestiegene Bedeutung der Parlamentsarbeit mit ihren ständigen Kommissionen als eigentlichen Ort der neuen Entscheidfindung zu illustrieren.

Mein Aufruf
Es wäre wünschenswert, wenn es ein Buch wie dieses minimal in einer deutsch- und französischsprachigen Kurzfassung gäbe. Vorteilhaft wäre zudem eine Aufdatierung der Grundlagen, die vor der globalen Finanzmarktkrise und ihren Folgen erhoben wurden. Denn mit ihr hat sich, so meine Einschätzung, die Praxis der Entscheidungsverfahren in der Schweiz nochmals verändert: Ökonomische Überlegungen bleiben zwar wichtig, sind aber definitiv nicht mehr ausschliesslich bestimmend. Denn die sozialen Konsequenzen oder die Folgen der Globalisierung etwa für die Demokratie haben bei zahlreichen Akteuren klar an Bedeutung gewonnen, sodass sich die ehemalige Vorherrschaft der Wirtschaftsakteure gleich nochmals verringert hat, sei dies im Parlament oder in den Medien. Und diese sind nicht mehr einfach Kanäle, die politische Botschaften top-down transportieren, sondern mutieren in ihrer ganzen Buntscheckigkeit zu eigentlichen Akteuren.
Für eine popularisierte Neufassung des Buches gibt es gute Gründe: In der Praxis begegnet man immer wieder BürgerInnen, ja Akteuren, die fernab politologischer Erkenntnisse Einfluss nehmen wollen und angesichts der Professionalisierung der Politik scheitern. Wer diese Stufe überwunden hat, ist oft noch stark von den grundlegenden Arbeiten von Hanspeter Kriesi geprägt, der die hohe Bedeutung der vorparlamentarischen Phase mit der breiten Konsenssuche durch einige Generalisten und viele Spezialisten betont hatte. Der Alltag in Bundesbern ist demgegenüber mächtig vielschichtiger, kompetitiver und überraschender geworden. Ein neues Standardwerk zu “Politische Entscheidungsfindung in der Schweiz” könnte dabei helfen, die Übersicht zu einem System im Wandel nicht zu verlieren.

Claude Longchamp

Von der Stabilität zur Unsicherheit. Clive Church analyisiert und interpretiert die zeitgeschichtliche Politik der Schweiz.

Eine aktuelle Buchbesprechung, auch aus Anlass der SVP-Feiern zum 100jährigen Bestehen ihrer Zürcher Kantonalpartei.

Der breiten Oeffentlichkeit dürfte Clive H. Church kein Begriff sein. Für Fachleute in Politik- und Geschichtswissenschaft ist der ehemalige Professor aus Kent (GB) seit vielen Jahren eine unumgängliche Referenz. Seine Bücher zum schweizerischen Regierungssystem, zur Stellung des Landes in der EU und zur Schweizer Geschichte sind mindestens auf Englisch eine unerschöpfliche Quelle für Befunde und Perspektiven.

politicalchance

Nun legt der pensionierte Wissenschafter eine Gesamtdarstellung des letzten Vierteljahrhunderts vor. “Political Chance in Switzerland: From Stability to Unvertainty” heisst sie. Erschienen ist sie Ende letzten Jahre im akademisch ausgerichteten Routledge-Verlag.

Fakten und Perspektiven

Church absolut plausible These ist, dass sich alles mit dem Ende des Sonderfalls, basierend auf Neutralität, politischem Abseitsstehen, aber wirtschaftlichem Internationalismus zu ändern begann. Das Nein von Volk und Ständen zum EWR-Beitritt 1992 war der sichtbare Anlass. Mehr als das Ereignis wirkten sich aber die Trends aus, so die Desindustrialisierung mit einer für die Schweiz ungewohnten Arbeitslosenraten, aber auch das Ende des praktizierten Bankgeheimnisses, dem Granit der Schweizer Stabilität, der zerfiel. Unter Druck geriet die Sozialpartnerschaft, gewachsen sind die sozialen Gegensätze und von vorrangiger Bedeutung wurden die Probleme rund um die Zuwanderung. So prägt heute Unsicherheit das Land, genauso wie das in vielen anderen Ländern rund herum (schon länger) der Fall ist. Noch gelang 2002 der Uno-Beitritt, und die Bilateralen mit der EU fanden 1999 und 2009 mehrfach die nötige Unterstützung. Doch mit der globalen Finanzmarktkrise verschoben sich die globalen Prioritäten. Die EU macht die Fortsetzung der Bilateralen von einem institutionellen Rahmenabkommen abhängig, und die Schweiz blockierte die Bilateralen mit dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative mindestens vorübergehend.
Interessant die Churchs Einschätzung von Stärken und Schwächen der Schweiz. In seiner Optik hat sich die Schweizer Politik mit der neuen Bundesverfassung aus dem Jahre 2000 verbessert, denn sie hat mit dem Verwaltungs- und Strafgericht auf Bundesebene und dem New Public Management in zahlreichen Kantonen das staatliche Handeln gestärkt. Ueberhaupt, die Etablierung der Konferenz der Kantone erneuerte den Föderalismus des Landes. Entwickelt hat sich auch das Parlament, selbst wenn es dem Milizgedanken verhaftet bleibt. Faktisch ist die parlamentarische Arbeit professioneller geworden, und sie hat sich von der Dominanz durch Regierungsvorgaben teilweise gelöst. Verringert worden ist dafür die Bedeutung des vorparlamentarischen Vermittlungsverfahrens, nicht zuletzt durch die Medialisierung der Politik. Nicht wirklich gelungen ist dagegen die Regierungsreform, welche die Führung des Landes angesichts veränderter Umstände hätte ermöglichen sollen.
Zentrale Folge ist nach Church das tripolare Parteiensystem, gespalten durch ökonomische und kulturelle Bruchlinien. Statt der Spaltung in Bürgerliche und Linke gibt es heute drei Lager: eines klar rechts, eines mitte-rechts und eines ebenso links davon. An die Spitze der Schweizer Parteien hat sich SVP gesetzt, namentlich durch die Sammlung und Mobilisierung der nationalkonservativen Wählerschaften. Profil gewonnen die neue SVP namentlich in der Europa- und Migrationspolitik, wo sie sich als Opposition durch herrschenden “classe politique”, wie sie es selber nennt, positionieren konnte. Und so sammelt, bündelt und führt sie den gegenwärtig Populismus in der Schweiz an.
Der hiesige Rechtspopulismus hat nach Church zwei Gründe: Zuerst die Wählerschaft, namentlich jene, die konservativen Werten verpflichtet ist und den Sonderfall gegen die Modernisierung der Schweiz verteidigt, sei dies in Fragen der europäischen Integration oder der behördlichen Liberalisierung der Ausländer- oder Asylpolitik. Sodann die neue SVP selber, der es gelungen ist, die historische Bindung an das bürgerlich-protestantischen Milieu aufzuweichen und sich namentlich für die Schweizer Arbeiterschaft in verschiedensten Branchen zu öffnen. Nötig waren hierfür eine neue Parteiorganisation auf nationaler Ebene, das Charisma von Christoph Blocher, die Medienpräsenz der Partei und eine aggressive Rhetorik, verstärkt durch modernes politisches Marketing.

Meine Würdigung
Clive Church beschreibt den politischen Wandel der Schweiz in der letzten 25 Jahren, oder besser einen relevanten Teil der zeitgenössischen Transformationen. Ausgelöst wurden sie durch die Dialektik von Globalisierung und Nationalismus, aber auch durch politische Institutionen, die gewachsen und verbessert weiter bestehen, auch wenn sie nicht mehr zum politischen Verhalten von Teile der Eliten und der Wählerschaft passen. Dabei stützt sich der Autor wie in all bisherigen seinen Büchern auf ein solides Wissen an Fakten. Verarbeitet hat er die wissenschaftliche Literatur namentlich aus der Politikwissenschaft. Eingeflossen sind zudem die Ergebnisse zahlreicher Interviews mit Exponenten der Schweiz (so auch mit mir).
Einverstanden bin in mit seiner Folgerung zur Dreiteilung des Parteiensystem, ein Thema, das ich in der Wahlanalyse von 1995 erstmals aufgriff. Treffend ist meines Erachtens auch die Beschreibung des Schweizer Populismus, der ohne den Nationalkonservatismus der Wählerschaft keine so tiefgreifende Polarisierung hinterlassen hätte. Richtig ist wohl auch, dass die SVP gleich auf mehreren Gebieten der Führung von Parteien die innovativste Partei der Schweiz ist. Es mag sein, dass die Antithese hierzu zu wenig beleuchtet wird, denn meines Erachtens sind die Kräfte, die der Postmaterialismus der 80er Jahre frei setzte, ebenso Bestandteil der Erneuerung und Polarisierung der Schweizer Politik.
Gelungen ist aus meiner Sicht die Kombination von Politik- und Geschichtswissenschaft. Entstanden ist ein nüchtern gehaltenes Buch, das dem politischen Alltag weniger nahe ist als zahlreiche Analysen von SchweizerInnen, dafür die reale Veränderungen angesichts grosser Datenberge in der gerade In der Politikwissenschaft nicht aus den Augen verliert. Zentral ist dem Autor, dass die Veränderungen der Bruchlinien mehr Optionen zulässt, damit die Unsicherheit jedoch nicht verringert. Und genau diese Unsicherheit ist es, welche den anhaltenden Nährboden für den Populismus abgibt.

Claude Longchamp

Wahlen in den Niederlanden: Geert Wilders hat Sitze hinzuverloren.


Wilders’ PVV «verlor» bei den niederländischen Parlamentswahlen Sitze hinzu. Derweil «gewinnt» Ruttes VVD, die Partei des Ministerpräsidenten Mandate, weg.

Die Ergebnisse
Klar ist nach den niederländischen Wahlen von gestern, dass die sozialdemokratische Arbeiterpartei die eigentliche Verliererin ist. Der Junior-Partner in der Regierung büsste 29 von 38 Parlamentssitzen auf einmal ein. Von den 24,8 Prozent Wählendenanteil, den die Partei bisher hatte, bleiben noch 5,7 Prozent. Ihre Regierungsbeteiligung steht nach dem Kollaps ernsthaft zur Disposition. Etwas besser erging es der rechtsliberalen VVD von Ministerpräsident Mark Rutte. Zwar verlor auch sie 8 der 41 bisherigen Mandate. Doch bildet sie mit 33 Sitzen unverändert die stärkste Parlamentsfraktion.

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Quelle: Wikipedia, Parlamentswahlen in den Niederlanden 2017

Mark Rutte hat 5,3 Prozentpunkte Wähler und Wählerinnen verloren. Mit 21,3 Prozent kann er sich dennoch rühmen zum dritten Mal in Serie die stärkste Partei führen zu können. Sitze gewonnen haben die linken Grünen (+10, neu 14), die linksliberale D66 (+7, neu 19) und die christdemokratische CDA (+6, neu 19). Sie alle haben im Wählendenanteil 4-7 Prozentpunkte zugelegt. Auch Geert Wilders PVV legte zu. Neu hat sie 20 Sitze, 5 mehr als bisher. Neu liegt sie in der Wählerstärke auch an 2. Stelle. Wilders sprach denn auch von einem Sieg, über den er sich freue.

Die politischmedialen Kommentare

Nun ist unübersehbar, dass Wilders angesichts der hochgeschraubten Erwartungen eine krachende Wahlniederlage kassiert hat. Bis Ende 2016 sah es danach aus, als würde seine Partei die Nummer 1. 33 Sitze zeigten die Vorbefragungen im Maximum an. Ende Jahr lag die Partei noch bei den selbst erwarteten 30.
Doch dann kam Jahr der Einbruch. Vordergründig könnte man meinen, Donald Trumps Präsidentschaft in den USA haben ihren langen Schatten bis in die Niederlande geworfen. Wichtiger war wohl, dass alle niederländischen Parteien, so sehr sie sich Wilders Anti-Islam-Rhetorik auch angenähert hatten, wegen seiner hetzerischen Politik eine Koalition mit ihm kategorisch ausgeschlossen hatten. Letztlich wusste jeder Taktiker: Eine Stimme für Wilders ist ein Protest, aber kein Beitrag zur Machtbildung.
Medial war Wilders die Aufmerksamkeit sicher. Je internationaler die Presse war, um so deutlicher stach das ins Auge. Zahlreiche zogen eine Gerade von der Brexit-Abstimmung über die US-Wahl in die Niederlande. Einige verlängerten die Linie gar nach Paris und Berlin. In der Tat, der grassierende Rechtspopulismus ist das Gemeinsame, was die Volksentscheidungen prägte oder prägt und von London bis Berlin für hitzige Diskussionen sorgte resp. sorgt. Denn mit ihm geht es nicht nur um Defizite in der herrschenden Regierungspolitik. Es dreht sich auch vieles um einen Transformation der politischen Systeme von der liberale zu illiberalen Demokratien, die sich in Wahl- und Abstimmungskämpfen mit ihrer neuartigen politischen Kommunikation am deutlichsten zeigt.

Der politologische Kommentar
Pippa Norris, die Harvard-Politologin, setzt in der Nacht den kürzesten und bemerkenswertesten Tweet zu den niederländischen Wahlen ab: «Need to remember that rules matter.» Sie erinnerte daran, dass Wahlrechts-Regeln den Ausgang von Wahlen bestimmen. Nun wählte die Niederlande nach dem Verhältniswahlrecht. Man mag diese System vorwerfen, es habe die Pulverisierung der grossen Volksparteien aus den 80er Jahren begünstigt; neu bestimmen nicht mehr Christ-, Liberal- und Sozialdemokraten die Geschicke des Landes. Vielmehr braucht es unter den voraussichtlich 13 Parlamentsparteien mindestens 4 die zusammenpassen und regieren wollen. Der grosse Vorteil ist jedoch, dass das Proporzwahlrecht die politische Macht bricht. Mehrheitsparteien sind in den Niederlanden ganz fremd. Vielmehr ist der linksliberale Grundkonsens, der lange die Windmühlen des Landes drehte, verstummt, und es regiert (ganz wie in der Schweiz) die Polarisierung zwischen einer liberalkonservativen und einem grünroten Lager. Den Gegensatz bestimmen die Finanz- und die Gesellschaftspolitik. Das Gemeinsame findet sich in der Abwehr der Rechtspopulismus. Neu dürfte die Regierung keine Brücke zwischen den Lagern mehr schlagen, sondern mit den liberalkonservativen Parteien parlamentarische Mehrheiten bilden. Insofern fand ein Rechtsrutsch statt.
In Majorzsystemen wie in den USA zählt demgegenüber der absolute Wille zur Macht. Kombiniert mit einem Zweiparteiensystem führt es dazu, dass sich der Stärkere (gemäss Wahlrecht) vollumfänglich durchsetzt. Das ist die unübersehbare Lehre aus den USA. Aus Paris könnte eine andere kommen. Denn trotz Mehrheitswahlrecht ist das traditionelle Parteiensystem in Frankreich an seiner Grenze angekommen. Die Sozialisten wurden durch die Macht verbraucht, die Konservativen hat sie korrumpiert. Die Hoffnung auf einen Neuanfang geht einmal mehr von der Mitte aus. Auch wenn sie angesichts der rechtspopulistischen Herausforderung zur Rutschpartie werden könnte. Schliesslich gilt in Frankreich, es gewinnt, wer in der Stichwahl für die Medianwählen sinnvolle Angebote macht. Diese wandten sich zuerst Sarkozy, dann Hollande zu und neu dürften sie Macrons Potenzial sein.

Wahlkampf und Wahlrecht wieder unterscheiden lernen
Medienzentrierte Analysen von Wahlen machen einen fundamentalen Fehler. Gefangen von der Phänomenologie moderner Wahlkämpfe mit Personalisierung, Emotionalisierung und Skandalisierung hat sie vielerorts eine unkritische Nähe zum Rechtspopulismus entwickelt. Denn dieser befriedigt alle drei Erwartungen an Wahlkämpfe auf einmal. Am Ende geht es dabei nur noch um Pro oder Kontra den Trumpismus.
Dabei übersieht man gerne, dass in parlamentarischen Demokratien wie den Niederlanden (genauso wie in der Schweiz) das Wahlrecht nicht auf Bündelung der Macht, sondern ihrer Teilung aus ist. Wahlsieger ist nicht, wer den auffälligsten Wahlkampf führt, sondern die wahrscheinlichste Allianz für die Regierungsbildung anbieten und auch garantieren kann. So dürfte die öffentliche Agenda der Niederlande von Wilders bestimmt bleiben, nicht aber die kommende Regierung.
Insofern hat Wilders gestern tatsächlich Sitze hinzuverloren, und Rutte solche weggewonnen.

Claude Longchamp

Lobbying zwischen Einzelinteressen und Gemeinwohl

Anbei die schriftliche Fassung meiner frei vorgetragenen Einleitung zum Podium über Lobbying an der Berner Fachhochschule, gehalten im twittersicheren Keller der Berner Gesellschaft zum Distelzwang.

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Die story zum Ort der Versammlung
Diese Woche las ich in der Berner Zeitung, Martin Luther sei ein Populist gewesen, vielleicht sogar der erste seiner Art. Nur, wer sich in Berner Geschichte auskennt, der weiss, dass dem nicht so ist. Denn der erste Populist in der Aarestadt war Peter Kistler. Und das kam so.
1470 missriet die Wahl des Berner Schultheissen gründlich. Die Junker waren zwischen absinkendem Adel, der von seinen Ländereien lebte, und aufsteigendem Geldadel, der mit dem Handel reich geworden war, zerstritten. Keiner ihrer Favoriten wurde Herr über die Stadt, sondern Metzgermeister Kistler.
Kistler hasste die alteingesessenen Berner Familien. Machtmässig kam er jedoch nicht gegen sie an. Doch ihr Lifestyle im Sinne der aufkeimenden Renaissance war weitherum ein umstrittenes Thema. Das wusste Kistler. Der neue Schultheiss verschärfte als Erstes die Kleiderordnung der Stadt. Die von Bubenbergs, hochnäsig genug, hielten sich nicht daran und marschierten des Sonntags in verbotenen Kleidern im Berner Münster ein. Prompt wurden sie vom Schultheissen vor das Sittengericht gestellt. Jeanne, die zweite Frau Adrians, wurde wegen verbotenem Auftritt verurteilt. Die Familie liess sich das nicht bieten und zog sich auf ihren Landsitz im Schloss Spiez zurück.
Nach einem Jahr war Kistler nicht mehr Schultheiss. Das war damals nicht unüblich. Auch nicht fremd war, dass er in die nobelste Gesellschaft der Stadt aufgenommen wurde. Unüblich war aber, dass die Gesellschaft zum Distelzwang, deren Gast wir heute sind, keine Stadtadeligen, sondern einen Metzgermeister zu den ihrigen zählte. Die Absicht wirkte, denn über Peter Kistler berichten die Quellen danach nichts mehr. Dazu muss man wissen, dass in Bern die Zünfte 1373 aufgehoben und durch Gesellschaften ersetzt worden waren. Deren Aufgabe war, es die Polizeiaufgaben sicherzustellen und das Leben in den Quartieren zu organisieren. Anders als in Zürich oder Schaffhausen durften sie sich nicht direkt in die Politik einbringen. Ihr Wirken war ganz im Geheimen. (Dazu passt, dass der Raum, in dem wir heute tagen, so dicht versiegelt ist, dass niemand von ihnen Handy-Empfang hat und life über die Veranstaltung twittern kann.)

Die story zu geheim und öffentlich
Jürgen Habermas widmete seine Habilitationsschrift den Strukturwandel der Öffentlichkeit. Auf ihn geht der Begriff der Arkanpolitik zurück. Arkan meint geheim, und Arkanpolitik ist die Politik im Geheimen. Dem setzte der Philosoph die Öffentlichkeit gegenüber. Diese, so der gereifte Habermas, kenne drei Formen: die Begegnungs-, Versammlungs- und Medienöffentlichkeit.
Begegnungsöffentlichkeit entsteht im Informellen, da wo sich Menschen begegnen und austauschen und wo fliessende Informationen weiter verwendet werden darf. Das ist bereits öffentlicher als das Geheime. Versammlungsöffentlichkeit ist strukturierter. Sie ist typisch für eine Partei, die sich zur Parolenfassung trifft. Da gibt es Redner, Publikum und einen Präsidenten, der darüber wacht, dass Veranstaltungen nach einem Plan ablaufen und Pro und Kontra angemessen zum Zug kommen. Öffentlich sind diese Versammlungen deshalb, weil in aller Regel das Ergebnis nach aussen getragen werden darf.
Medienöffentlichkeit ist noch mehr. Es beinhaltet alles, was den Konsumenten von Produzenten der Medien zur freien Meinungsbildung zur Verfügung gestellt wird. Häufig setzen wir heute Oeffentlichkeit mit dem gleich, was Habermas Medienöffentlichkeit nannte.
Habermas verstand seine Typologie historisch. Doch kann man sie auch verwenden, um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu verstehen. Beispielsweise bei Lobbyisten.
Lobbyisten sind nicht mehr draussen, aber ich nicht ganz drinnen. Ihr Raum ist die Lobby, im Konkreten wie übertragenen Sinn. Und es gilt, dass sie dem Habermaschen Strukturwandel der Öffentlichkeit unterliegt.
Lange nutzten die Lobbyisten nur die Vorteile der Begegnungsöffentlichkeit, das heisst den Zugang zu Regierenden, deren Informationen sie zum Vorteil deren Politik weiter verwenden durften. Lobbyisten lebten lange auch vom Vorteil der Versammlungsöffentlichkeit. In der Schweiz erwiesen sich vor allem die Zusammenkünfte der Vertreter von Branchenorganisationen, aber auch der Bauern- und Gewerbeverbände resp. der Gewerkschaften als nützliche Bühnen. Die dritte Stufe der Oeffentlichkeit erreichte die Lobbyisten erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Denn da wurden sie flächendeckend medienöffentlich. Bisweilen war das ihre Strategie, bisweilen erfuhren sie das widerwillig als eigentliche Medienopfer.
Beat Kappeler, der NZZ-Kolumnist, meint in seinem jüngsten Buch, das Ende der Arkanpolitik sei noch lange nicht erreicht. Entsprechend heisst der Sammelband «Staatsgeheimnisse». Die Lobbyisten kommen darin auch vor. Sie seien, schreibt mein Nachbar in Hinterkappelen, wie die Verbände Kinder der Volksrechte. Sie hätten in der Schweiz Macht, wenn sie, wie Parteien referendums- oder initiativfähig seien. Denn dann beteilige man sie oder ihre Mandanten am Vernehmlassungsverfahren. Damit nicht genug, heute werde die Einflussnahme weit über diese Institution der Interessenberücksichtigung hinaus praktiziert!

Die story zu unserem Podium
Lobbying versteht sich als gezielte Einflussnahme auf Entscheidungen und ihre Träger, sei dies direkt durch persönliche Kontakte oder aber indirekt durch Medienarbeit. Auf unserem Podium finden Sie vrschiedene Typen von Lobbyisten:
Zuerst die Vertreter der Wirtschaftsinteressen, organisiert durch Firmen oder Wirtschaftsverbände. Typisch ist hier, dass Interessenvertretung ganz direkt geschieht, indem die Wirtschaftsorganisationen selber im Parlament Einsitz nehmen. Urs Gasche, VRP der BKW, alt-Regierungsrat aus Bern und Nationalrat der BDP steht dafür.
Dann die Vertreterin des gesellschaftlichen Wertewandels, mit dem namentlich kulturelle Selbstverständnisses neu verhandelt werden. Obwohl gelernte Oekonomin, ist Kathrin Bertschy kaum in Wirtschaftsverbänden aktiv. Dafür politisiert sie mit und für soziale Bewegungen, deren Anliegen sie ins Parlament einbringt.
Schliesslich die Vertreterin des Staats selbst. Denn zu den auffälligsten Neuerungen im Lobbying gehört, dass der der Staat nicht nur Adressat der gezielten Einflussnahme ist, sondern selber Einfluss nimmt, wenn auch ebenen-versetzt. So lobbyiert der Kanton Genf auf Bundesebene, wie das Beispiel von Frau Sacra Tomisawa-Schumacher zeigt.
Die Diversifizierung der Public Affairs hat in der Schweiz wie anderswo zu spezialisierten Agenturen auf dem Gebiet geführt. Sie bieten für Verbände Dienstleistungen wie die Vernetzung vor Ort an. Sie managen soziale Bewegungen oder Initiativkomitees, damit sie politisch relevanter werden. Und sie supporten Kantone, die sich vom Ständerat, ihrer eigentlichen Vertretung, vernachlässigt fühlen. Lorenz Furrer vertritt eben dies auf unserem Podium.

(M)eine kleine Würdigung
Meine Damen und Herren, Lobbying ist gerade in den letzten 10 Jahren professioneller geworden. Lobbyisten sind keine farblosen Kofferträger der Mächtigen mehr, wie die meisten Karikaturisten noch sehen. Vielmehr sind Lobbyisten heute politische Akteure, teils klar eingeordnet in Parteien und Verbände, teils frei vagabundierend zwischen Aufträgen und Ad-hoc-Komitees. Ersteres hat die Oeffentlichkeit besser unter Kontrolle, und sie bilden selten Anlass für wirkliche Klagen. Letzteres wird immer häufiger problematisiert. Lobbyisten haben Lobbying in Sachen Lobbying gerade bei Lobbyisten nötig, meinte jüngst der Berner Bund.
Lobbyisten haben, so meine These, den Filz aus dem militärisch-industriellen-freisinnigen Komplex ein gutes stückweise entfilzt. Ich halte das für eine Verbesserung. Lobbyisten geniessen dennoch einen schlechten Ruf. Der häufigste Witz über sie geht so, dass der Lobbyist eine Freund bittet, seiner eigenen Mutter nicht zu sagen, was er arbeite, denn sie glaube er sei Pianist. Vielleicht stimmt das auch, denn Lobbying findet nicht nur im der Vorhalle des Parlaments statt, wie gewisse Kritiker meinen. Lobbying ist zu einem flächendeckenden Phänomen im politischen Entscheidungsprozess geworden, der meist strategisch alle weissen Tasten drückt, manchmal auch einfach eine schwarze bedient, wenn sie sich anbietet.
Lobbying wird meines Erachtens nicht verschwinden, auch wenn Populisten Lobbyisten ins Pfefferland senden möchten. Bestes Beispiel hierfür ist Thomas Minder, der sich für seine Vorstösse im Parlament gegen Lobbyisten beraten lässt, selbst von einer Person, die sich ohne Scham Lobbyist nennt. Ständerat Minder hat meines jedoch dort recht, wo er fordert, dass die Aktivitäten der Lobbyisten geregelt werden sollten. Denn sie haben sich viel schneller entwickelt, als wir uns dessen Gewahr sind.
Ich hoffe, unser Podium unter Leitung des Bund-Chefredaktors Patrick Feuz wird uns zu alledem erhellen.

Claude Longchamp

Postscriptum (nachgehaltenem Podium)
Meine kleine Würdigung nach dem Geschehen auch dem Podium geht auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Vertreter des Lobbyings ein.
In meiner Optik sind die Unterschiede zwischen Furrer, Gasche und Bertschy gering. Letztlich haben sie alle ein mehrheitlich liberales Staatsverständnis, genährt von der Ueberzeugung, dass es allen gut geht, wenn es dem Einzelnen gut geht. Genau deshalb ist es für sie absolut legitim, Einzelinteressen in der Politik zu vertreten, sei es als PolitikerIn, als LobbyistIn oder beides in einem.
Nun ist der Gegensatz zum Liberalismus in der Lobbydebatte nicht der Sozialismus, sondern der Republikanismus. Die res publica ist sie in erster Linie die Politik des Gemeinwohls. Für den Republikaner ist nicht das Sammelsurium des Willens Einzelner richtig, sondern der generelle Wille des Gemeinwesens. Politik in der Republik ist Einsatz für das Wohl der Gemeinschaft. Die Einzige auf dem Podium, die das wenigstens im Ansatz für sich in Anspruch nehmen kann, ist die Vertreterin Genfs, dem Gemeinwesen, das sich direkt auf den Republikaner Jean-Jacques Rousseaus beziehen kann.
Nun hat der liberale Staat einen grossen Vorteil. Er, nicht Rousseau, hat die Demokratie hervorgebracht, und er, nicht der Philosoph der Rhonestadt, hat den Wohlstand erlaubt. Doch der Liberalismus hat keine Antwort auf das zerfallende Gemeinwesen. Das ist sein Nachteil.
Ich schlage deshalb ganz im Sinne der Republik vor, dass Lobbying nicht verboten wird. Lobbyisten sollten aber einen Dienst am Gemeinwesen Schweiz erbringen. Denn ob all dem heutigen Individualismus sollte uns die Gemeinschaft nicht gleichgültig sein. Die res publica kennt eine 2000jährige Geschichte Sie ist nicht das Ende, aber der Anfang des guten Staates.
CL

Zentrifugale Demokratie

Was hat die Schweiz für eine politisches System, fragte ich heute meine Studierenden an der Universität Zürich. Hier die Antwort, die etwas mehr als einen Satz braucht. Am ehesten gleicht unsere System, wie es heue funktioniert, einer Zentrifuge.

SCHWEIZ FILM FESTIVAL LOCARNO 2016
Bundesrat und Politikwissenschafter: Alain Berset

Auf der kantonalen Ebene gleichen die Institutionen eher dem Präsidialsystem. Die Regierung hat eine vom Parlament unabhängige Legitimation. Auf der Bundesebene sind wir dem parlamentarischen System näher. Denn der Bundesrat wird von der Vereinigten Bundesversammlung bestimmt. Jedoch, es fehlt so oder so an zentralen Elementen, die eine eindeutige Zuordnung zulassen würden: So gibt es auf Bundesebene kein Misstrauensvotum, einem wichtigen Kennzeichen des parlamentarischen Regierungssystems. Und auf Kantonsebene sind wir speziell, weil wir nicht bloss einen Präsidenten wählen, sondern ein ganzes Regierungskollektiv, das wir in seiner Zusammensetzung erst noch selber bestücken.
Parlamentsabhängige Exekutivgewalt ist denn auch eine der typischen Antworten, die Staatsrechtlern und Politikwissenschaftern geben, um das politische System der Schweiz zu kennzeichnen. Erklären kann man sich das nur historisch.
Eindeutig sind bloss die beiden Prinzipien, welche den Schweizer Regierungen eigen sind: das Kollegial- und das Departementalprinzip. Umschrieben werden damit, dass die wichtigen Entscheidungen von der Regierung gemeinsam getroffen werden, während die einzelnen Regierungsmitgliedern in ihren Departementen Entscheidungsfreiheiten geniessen. Ersteres kommuniziert man geschlossen nach aussen, für letzteres ist jedes Mitglied selber zuständig.

Es macht Sinn, das politische System der Schweiz als föderalistisch, republikanisch und demokratisch zu umreissen. Denn typische Elemente der Republik, so das Gemeinwesen, das sich souverän definiert und Behörden auf Zeit bestimmt, sind in der Schweiz gewährleistet. Die Demokratisierung eben dieser Behörden ist weit vorangeschritten, vor allem der beiden Parlamentskammern, die heute von Volk gewählt werden. Auch die Möglichkeit von Volksentscheidungen ist Ausdruck eben dieser Demokratisierung. Der Föderalismus erklärt sich von selber. Der Staatsaufbau ist überall ausgesprochen mehrstufig.
Man ist heute zudem bestrebt, die Schweiz auch hinsichtlich des Demokratietyps zu klassieren. Unterschieden wird dabei zwischen Wettbewerbs- und Konsensdemokratien. Wir sind zweifelsfrei Letzterem näher. Wir sind aber auch nicht mehr der Spezialfall, wie man es vor Kurzem noch meinte. Diese Kennzeichnung abstrahierte stets von der Möglichkeit der direkten Demokratie, die in einem beträchtlichen Masse jenseits der Konsensbildung funktioniert. Aber auch kantonale Wahlen sind heute wettbewerbsorientierter denn je, und die Entscheidungsfindung selbst in Kernfragen basiert vermehrt auf dem Prinzip der Allianzbildung unterhalb des grossen Konsenses. Angestrebt werden wechselnde minimale Koalitionen, die fallweise geändert werden können.

Zentrifugale Demokratie nennt Bundesrat Alain Berset das politische System der Schweiz. Gemeint ist, dass heute nicht mehr die Kräfte vorherrschend sind, die eine Sammlung in der Mitte befördern, sondern jene, die polarisierend wirken. Das gilt für Parteien wie auch für Massenmedien. Das alles hat seine Gründe, zum Beispiel die multipolaren Konfliktlinien, von denen nur die ökonomische recht erfolgreich vermittelt wird, die kulturelle dafür zu regelmässig grossem Streit führt. Damit verbunden ist eine Renationalisierung der Politik, die sich vermehrt in konfliktreicher Abgrenzung zur Staatsgemeinschaft definieren will. Dazu gehört auch eine Reparlamentarisierung der Entscheidungsfindung, indem das Parlament sein Programm vermehrt unabhängig von der Regierung festlegt. Die Schweizer Politik der jüngsten Zeit wird zudem durch exemplarische Mobilisierungen und Medialisierung bestimmter Sachfragen bestimmt. Das bleibt nicht ohne Folge: Denn die Medien lechzen nach personalisierter Politik und nach polarisierten Positionen.
Für das Konsenssuche zwischen politischen Akteuren ist das alles Gift. Deshalb sind wir heute eine vergiftete Konsensdemokratie: ein politisches System mit konkordanten Strukturen, aber überwiegend Wettbewerb im Verhalten der zentralen Akteure. Der Musterfall der Konsensdemokratie, wie er bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts bestand, ist angesichts anhaltender Polarisierungen ausgehölt.

Claude Longchamp

Worüber wir am 21. Mai 2017 abstimmen: die Energiestrategie 2050 in der Vorschau

Die Volksentscheidung zur Energiestrategie 2020 steht an. Hier erläutere ich, worum es geht, was das Parlament entschied und was man vom Abstimmungskampf bereits sieht, um zu beantworten, was für eine Entscheidungstyp wir erwarten.

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Am 21. Mai 2017 stimmt die Schweiz über die Energiestrategie 2050 ab. Dabei handelt es sich um das Programm von Regierung und Parlament, das im Gefolge des Unfalls in Fukushima 2011 entwickelt worden ist. Verabschiedet wurde es am 30. September 2016. Die SVP hat dagegen das Referendum ergriffen und die erforderliche Unterschriftenzahl rechtzeitig beigebracht.

Worum es geht
Mit der Energiestrategie 2050 stellt sich der Bund auf erwartete Veränderungen – ausgelöst durch Wirtschaft, Technik und Politik – der Energiemärkte ein. Mir ihr soll die Schweiz die neue Ausgangslage vorteilhaft nutzen und ihren hohen Versorgungsstandard erhalten. Gleichzeitig trägt die Strategie dazu bei, die energiebedingte Umweltbelastung der Schweiz zu reduzieren. Konkret geht es darum, den Energieverbrauch zu senken und erneuerbare Energien mit geeigneten Massnahmen auszubauen. Zudem hält die Energiestrategie 2050 fest, dass die Schweiz aus der Kernenergie aussteigt, indem bestehende Kernkraftwerke nicht durch neue ersetzt werden dürfen. In Aussicht gestellt wird ferner ein zweites Massnahmenpaket, das aber noch nicht vorliegt und über dieses am 21. Mai 2017 auch nicht abgestimmt wird. Bei einem Nein zur ersten Etappe würde es genauso wie die bereits vorbereiteten Verordnungsänderungen obsolet.

Parlamentsentscheidung und Referendum

Der National- und der Ständerat stimmten der Energiestrategie 2050 zu. Die grosse Kammer votierte bei 6 Enthaltungen mit 120 zu 72 dafür, in der kleinen Kammer lautete das Verhältnis 35 zu 6 bei 3 Enthaltungen. Die Ja-Stimmen kamen im Wesentlichen aus den Reihen der SP, der Grünen, der CVP, der GLP und der BDP. Uneinheitlich war die Stimmabgabe namentlich bei der FDP. Mehrheitlich war man dafür, minderheitlich dagegen. Dagegen wandten sich die Vertreter der SVP. Während der Unterschriftensammlung wandte sich die SVP vor allem aus Kosten- und Naturschutzgründen gegen den Bundesbeschluss. Die finanziellen Folgen für die Haushalte seien zu hoch, ebenso würden die absehbaren, zahlreichen Windräder das Landschaftsbild beeinträchtigen. Zudem könne die Versorgungssicherheit nur mit Kernenergie gesichert werden.
Extrapolationen aus den Schlussabstimmungen im Parlament sprechen für eine Zustimmungsmehrheit. Stellt man auf den Ständerat ab, kommt man auf 59:41, beim etwas kritischeren, meist aber zuverlässigeren Nationalrat reicht es für 54:46. Betont sei, dass beide Ableitungen von einer normalen Wirkung des Abstimmungskampfes ausgehen, sprich von einer aufbauenden Kraft seitens der Mehrheit.

Anfänge des Abstimmungskampfes
Die Fassung von Parolen ist bereits in Gang. Bisher ergeben sich keine Abweichungen von der Parlamentsposition. Mit Spannung erwartet man vor allem die Positionierung der FDP. Diese steht an der Delegiertenversammlung vom 4. März 2017 an. Der Fraktionsmitglieder finden sich in beiden Komitees. Die Konferenz der Kantonalparteien empfiehlt mit 14:13 Zustimmung.
Von den grossen Wirtschaftsverbänden hat sich der Schweizerische Gewerbeverband für die Vorlage ausgesprochen, während sich economiesuisse noch nicht entschieden hat. Immerhin unterstützte der Dachverband der Wirtschaft die Unterschriftensammlung nicht. Dafür ist der Verband Schweizerischer Elektrizitätswerke, dagegen sind der Baumeisterverband, kritisch geäussert hat sich zudem Swissmem. Zustimmung beschlossen haben der Bauernverband und der Städteverband.
Vom Abstimmungskampf merkt man noch wenig. Plakate fehlen noch ganz, Inserate auch. In den sozialen Medien gibt es die ersten Positionsbezüge, kaum aktiv sind die Massenmedien. Grösseres Aufsehen erregte bisher nur der Entscheid, das vorübergehend abgestellte Kernkraftwerk Leibstadt wieder ans Netz zu bringen. Proteste gab es seitens der Grünen, beschränkt auch aus dem nahen Ausland. Namentlich die rasche Ausserbetriebnahme am Tag nach der Inbetriebnahme sorgte für Verwirrung, verbunden mit Kritik am federführenden ENSI.

Klassierung des Entscheidungstyps
Bis jetzt liegt keine repräsentative Befragung zu den Stimmabsichten im Vorfeld der Volksabstimmung über die Energiestrategie 2050 vor. Eine Online-Panel-Befragung unter Leitung des Instituts für Wirtschaft und Ökologie der Universität St. Gallen, in den ersten drei Tagen nach der Volksabstimmung über die Atomausstiegsinitiative durchgeführt, spricht von 55 Prozent der Stimmberechtigten für und 11 Prozent gegen die neue Energiestrategie. Mit 76 Prozent Ja sind die Wählenden der GLP am ehesten dafür, Bei der FDP beträgt der Anteil 68 Prozent, bei der SVP jedoch nur minderheitliche 40 Prozent. Da relativ viele Unschlüssig sind, gibt es an keiner Parteibasis eine gesicherte Mehrheit dagegen.
In unserem Klassifikationsschema handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine positiv prädisponierte Behördenvorlage. Hauptgrund ist, dass das Thema nicht neu ist und sich vorläufige Stimmabsichten mit dem Abstimmungskampf zur Atomausstiegsinitiative der Grünen ausgebildet haben dürften. Fragen des Atomausstiegs zeigten immer wieder, dass die Meinungen nicht gänzlich stabil sind, jedoch Vorahnungen zu Stimmabsichten frühzeitig ausgebildet sind. Wenig wahrscheinlich ist es deshalb, dass es sich bei der Energiestrategie um eine nicht prädisponierte Entscheidung handelt. Wäre das so, wäre die Mehrdimensionalität der Vorlage, die sich nicht ohne weitere Informationen erschliesst, der Grund.
Bei einer positiv vorbestimmten Entscheidung entwickeln sich die Stimmabsichten im Normalfall weg von Unentschiedenen hin zu beiden Lagern. Eine Zunahme der Befürworter sowie der Gegner ist das wahrscheinlichste, was für eine Zustimmungsmehrheit in der Volksentscheidung spricht. Namentlich dann, wenn die Entscheidung nicht vorbestimmt sein sollte, kann es auch zu einem Spezialfall der Meinungsbildung kommen, bei dem die Opposition wächst und gleichzeitig die Zustimmung sinkt.

Claude Longchamp