Das Dilemma der “Politischen Kultur”-Forschung

(zoon politicon) “Politische Kultur” ist für die Sozialwissenschaft kein einfacher Begriff. Im Alltag häufig verwendet, ist er seit 1945 auch in die Sprache der Politik- und Gesellschaftswissenschaften aufgenommen worden. Im Englischen wird er mehrheitlich als “mass culture” verstanden, im Französischen normalerweise im Plural verwendet (“les cultures politiques”), und im Deutschen gibt es zahlreiche unterschiedliche Konotationen.

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Das breit angelegte Lehrbuch
Vor genau diesem Dilemma steht das Lehrbuch der beiden deutschen PolitikwissenschafterInnen Susanne und Gert Pickel. Und die AutorInnen stehen dazu: Die Politische Kultur-Forschung ist einerseits als Demokratieforschung nach dem 2. Weltkrieg entstanden und entwickelt sich dort weiter, anderseits beschäftigt sie sich vor allem seit den 60er Jahren mit den Einflüssen der gesellschaftlich bestimmten Kultur auf die Politik. Sie ist dabei zunächst empirisch-analytisch ausgerichtet, kann sich aber von den Zusammenhängen, in denen sie entstanden ist, nicht lösen.


Die Ausbildung der spezifischen politischen Kulturforschung

Im Lehrbuch kommen zunächst die wesentlichen Ansätze zur Sprache: Die allgemeinen Vorgehensweisen der amerikanischen Forschung in Anlehnung an Gabriel Almond und Sidney Verba, sowie die speziellen Ansätze, die Ronald Inglehard für den Wertwandel und Robert Putman für die Bestimmung von Sozialkapital in die Forschung eingebracht haben, werden vorgestellt. Das Buch spart nicht mit der Kritik dazu Die Einwände der Verhaltensforscher wie auch am kulturalistischen Selbstverständis des Wissenschaftszweiges kommen ebenso vor wie die eigenständige Konzipierung von politischer Kultur, die Karl Rohe vorgeschlagen hat, zur Sprache.

Für Rohe ist die aus der Umfrageforschung entstanden Bestimmung von politisch Kulturen im Nationalstaatenvergleich unzureichend, denn sie erschliesst einem nur die Soziokultur, wie es der Kritiker nennt. Vor allem entwickelt die vergleichende Sozialforschung kaum ein Verständnis für den Wandel politischer Kulturen. Rohe geht demgegenüber von einem dynamischen Konzept aus, das sich aus dem Verhalten und den Denkweisen der Akteure ergibt, die mit ihren Ordnungskonzepten des Politischen um die Deutungsmacht ringen und so nebst der Soziokultur auch Deutungskulturen etablieren. Diese sind zwar von der Soziokultur (oder Teilen davon) abhängig, einmal etabliert formen und verändern sie die Soziokultur auch.

Die Rückführung in die Demokratieforschung

Die Beobachtung politischer Kultur setzt bei der mainstream-Forschung beim Bürger/bei der Bürgerin an. Den möglichen individualistischen Fehlschluss überwindet sie, wie das Lehrbuch mehrfach zeigt, durch Aggregation und Ländervergleich. Die Minderheit der Forschenden, die Karl Rohe folgen, orientiert sich dagegen an der Meso-Ebene: dem Kampf der Akteure um die Deutungshoheit, die sich, so die beiden Pickels, besonders in Krisensituationen zeige.

Der zweite Teil des Buches konzentrieren sich die AutorInnen dann ganz auf die Makro-Ebene. Politische Kultur wird dabei nicht mehr hergeleitet aus Mentalität und Handlungsweisen, sondern anhand institutioneller und verfassungsrechtlicher Grössen bestimmt. Was Gabriel Almond für die Bestimmung von Massenkulturen bedeutet, ist Robert Dahl für die empirische Demorkatieforschung. Entsprechend stellt das Lehrbuch sein Polyarchie-Konzept breit vor und weist nach, wie es sich bis zum viel diskutierten Demokratieindex des Finnen Tatu Vanhanen weiterentwickelt hat. Schliesslich werden die heute so beliebten Untersuchungen der demokratischen Verfassungswirklichkeiten breit vorgestellt und diskutiert.

Wie es ist, wenn es kein Paradigma gib
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Lange Zeit wurde diskutiert, ob Thomas Kuhns Analyse der Wissenschaftsentwicklungen in Paradigmen richtig sei oder nicht; dabei ist auch viel Kritik geübt worden an der Vorstellung, dass die Wissenschaft sich revolutionär entwickle und nach jeder Revolution einen Muster an Denk- und Vorgehensweisen entwickle, das sich in der Forschung weitgehend durchsetze. Wer sich mit der politischen Kulturforschung beschäftigt, merkt schnell, wie es ist, wenn sich, für einmal, gar kein dominantes Paradigma in der Definition des Gegenstandes, der Wahl der Ansätze und der Bestimmung geeigneter Methoden entwickelt hat. Das wiederum haben Susanne und Gert Pickel zum Anlass genommen, die offen verwendeten Konzept zur Annäherung an politische Kultur in einem Lehrbuch Interessierten vorzustellen. Und genau das ist ihnen gelungen, – mit allen Stärken und Schwäche der Sozialwissenschaften, die sich nicht nur mit abtrakten Systemen, sondern mit kulturell gewachsenen Beispielen beschäftigen.

Claude Longchamp

Eskalations-Monitoring: Das Interesse steigt!

(zoon politicon) Es freut mich, dass die Idee des Eskalations-Monitoring interessiert, herausfordert und dass es diskutiert wird. Die Nutzungszahlen auf meinem Lehrveranstaltungsblog haben sich gleich verdoppelt. Die Kommentare auf dem Blog, auf dem Mail und privat haben ebenfalls zugenommen.

Das Projekt
Die Idee des Eskalationsmonitorings zur Kontroverse zwischen der SVP und Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf ist ein Projekt. Diees ist kein einmaliger Beitrag. Und es ist auch kein Kommentar zur Situation. Sie ist jedoch ein ernstgemeinter Versuch, die Blogosphäre für die empirische Politikanalyse praktisch zu nutzen.

Die Blogosphäre ist dabei die Informationsquelle. Sie ist aber auch gleichzeitig Ort der Reflexion. Und sie soll für die Vermittlung verwendet werden. Statt Forschung im stillen Kämmerlein zu betreiben, statt Untersuchungen für Kunden zu machen, ist es meine Absicht, hier in, mit und für die Internet-Oeffentlichkeit zu forschen.

Monitore generell
Monitore sind keine Instrumente der Informationssichtung, die für die Blogosphäre typisch sind. Es sind Informationssysteme, die Prozesse mittels technischer Instrumente sichtbar machen sollen. Sie kommen als Verlaufsprotokolle in vielfältigster Weise vor.

Die junge Blogosphäre ist hierzu noch wenig genutzt worden, doch bietet hierzu Vorteile: Sie protokolliert laufend, und sie prodiziert damit offene Informationen in leicht verfügbarer Form. Sie bietet Möglichkeiten, diese qualitativ zu verarbeiten, um zu neuen Einsichten zu gelangen. Und sie stellt eine Möglichkeit der einfachen und schnellen Verbreitung dar.

Monitore kommen heute überall vor, wo gesellschaftliche Entwicklungen beobachtet werden: Zu Bestimmung des Wertewandeles beispielsweise, aber auch um Veränderungen der politischen Kultur zu ermitteln. Sie sind besonders häufig, wenn es sich um dynamische Prozesse handelt: Wenn Bewegungen in der Oeffentlichen Meinung oder auch Trends in Entscheidungsprozessen interessieren.

Monitore sind vorwiegend Führungsinstrumente. Sie werden von politischen Akteure genutzt. Vielleicht sind sie Cockpits. Das Bild gefällt mir allerdings weniger, weil es an ein Flugzeug erinnert, an eine Maschine, die man steuern kann. Gesellschaftlichen Prozesse sind eher interaktiv zu verstehen: Man verfolgt in und mit ihnen ein Ziel, man versucht, dieses anzusteuern. Aber man ist nicht allein: Es gibt Gegenkräfte, die andere Ziele verfolgen, andere Wege wählen, und auch auch einfach Widerstand leisten. Deshalb ziehe, hier ganz bestimmt, den Begriff des Tableaus vor. Er ist nicht mechanistisch, vermittelt aber die Absicht des Monitors: einen Ueberblick zu verschaffen.


Monitore in der Blogosphäre

Monitore auf der Blogosphäre haben eher den Charakter von Orientierungsinstrumenten. Weil sie im Zugang prinzipiell offen sind, eigenen sie sich weniger, beispielsweise politische Prozesse steuern zu wollen. Doch sind sie geeignet, dieses sicht- und damit diskutierbar zu machen.

Blogopshären-Monitore unterscheiden sich in einem von anderen Monitoren: Sie heben die klassische Trennung von Objekt und Subjekt in der Forschung (teilweise) auf. Die Subjekte sind Objekte, die agieren und reagieren. Die Objekte werde dadurch Subjekte. Sie sollen sich sehr wohl am Projekt beteiligen können, wenn sie dieses nicht einfach verhindern wollen.


Auf den Punkt gebracht!

Ich verspreche mir hier mehr, andere, sprich: neue Einsichten in das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen, die sich über die Abwahl von Christoph Blocher genervt haben, aber auch von jenen, denen die Angriffe auf Eveline Widmer-Schlumpf auf den Geist gibt. Sie unmittelbar im Rahmen des Eskalationsmonitorings zu beobachten, ist meine Absicht. Eine Vorhaben, das nicht auf der Beobachtung von Verhalten, aber auch nicht auf der Befragung von Einstellungen basiert. Vielmehr ein Projekt, das Einstellungen in ihren Konsequenzen beobachten will.

Claude Longchamp

PS:
Keine Angst: Das Tableau ist nicht das Ziel, ist ein erstes Hilfsmittel der Projektarbeit. Aber ich entwickle die Idee vom letzten Samstag auch nur schrittweise, meist in meiner sog. Freizeit …

Tableau des Eskalations-Monitorings

(zoon politicon) Hier die vorläufige Liste der online-Quellen zum Eskalations-Monitoring, das ich angeregt habe. Sie enthält Links zu

. online-Ticker zur news-Lage
. AkteurInnen der Kontroverse
. PartisanInnen der Aktuere
. KommentatorInnen mit eigenen Blogs
. Diskussionsforen
. AnalytikerInnen

Berücksichtigt habe ich die Blogs, die sich mehrfach zur laufenden Kontroverse geäussert haben.
Die Liste wird laufend aufdatiert. Für interessante Hinweise, die mir entgangen sind, bin ich dankbar.

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“Legale Wahl einer Bundesrätin oder erschlichen aus persönlichen Karrieregründen”, ist die zentrale Frage, die hier beschäftigt und gegenwärtig zu einer Eskalation der Dinge führt, die beoachtet und analysiert werden soll.


online-Ticker

google über Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf
google über Bundesrat Samuel Schmid
google über (Schweizer) Bundesrat
google über SVP Schweiz
google über SVP-Präsident Toni Brunner
google über Christoph Blocher


Akteure

SVP Schweiz
SVP Graubünden
SVP Kt. Bern
Christoph Blocher, alt Bundesrat

Partisanen (EWS-kritisch)

winkelried.info
Side Effects
Brielmaier
morgarten.info
Smythe Style
SecondLitart
personalblog
Gegenbewegung

Partisanen (SVP-kritisch)
gugus-dada
ignoranz
ouVertures.info
stoepsorama
goggiblog

Regelmässige KommentatorInnen
ticinolibero (fdp)
Andreas Kyriacou (grüne)
reto m. (sp)
Bürger-Herold
bodenständigi chost (traditionell, unpolitisch)
der leumund
iRaff
Tratschen über …

emeidi
thinkabout

Satire
Lupe
Zgraggen Schagg

Foren
NZZVotum (Schweizer Forum)

AnalytikerInnen
Chefredaktor-Blog
Arlesheim reloaded
Wahlkampfblog
Knill Blog
Philippe Welti
eDemokratie
Klaus Stöhlker

Aggregatoren
Politik-Blogs
slug

Die Verlinkung einzelner Artikel ist nicht sinnvoll, dafür verwende man einen der übliche aggregatoren, die ich hier auf aufgeführt habe.

Ich hoffe, es wird rege benutzt, und es führt zu übersichtlichen Einschätzungen!

Claude Longchamp

Regiert Geld den politikwissenschaftlichen Geist?

(zoon politicon) Jüngst habe ich am IDHEAP in Lausanne über politische Kampagnen referiert. Und bin ich dabei auf ein wenig reflektiertes Phänomen gestossen.

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Der Olympische Geist verkommt mehr und mehr zum Geldgeschäft; verkommt jetzt auch der politikwissenschaftliche Geist zu zur unreflektierten Uebernahme von Marktkategorien in die Politikanalyse?

Das Phänomen
Nicht zum ersten Mal ist mir bei diesem oder einem mit ihm verwandten Thema aufgefallen, dass es dabei im studentischen Publikum nicht nur eine offizielle, sondern auch eine inoffizielle Leseweise gibt: Letztere lautet vereinfacht: Geld bestimmt Kampagnen, und Kampagne bestimmen die Politik. Also bestimmt Geld die Politik!

Ich muss da immer gleich nachfragen: Haben nicht die Grünen bei den jüngsten Parlamentswahlen in der Schweiz klar zugelegt, mit der Klimapolitik ein neues Thema gesetzt und den Anspruch angemeldet zu haben, nach den zahlreichen Erfolgen in den Städte, Kantonen und auch im Bund Teil der Regierungsparteien zu werden? Und wares es nicht sie, die – mangels Geld – auf eine nationale Kampagne “im gekauften Raum” verzichtet haben? – Ist nicht die Annahme der Verwahrungsinitiative in der Volksabstimmung gegen den fast einhelligen Willen von Regierung und Parlament – und ohne eigentlichen Abstimmungskampf – ein deutlicher Gegenbeleg dafür, dass man auch ohne Geld politische Mehrheiten für sich gewinnen kann?

Zu den Forschungsergebnissen
Die Wahl- und Abstimmungsforschung weltweit und auch in der Schweiz hat sich des Zusammenhangs angenommen. In den USA lassen sich positive Korrelationen nachweisen zwischen dem finanziellen Mitteleinsatz einerseits, und dem Wahlerfolg andererseits. Doch da hat das System: Die Geldbeschaffung ist eine Teil der Kampagnen. Sie ist ein Teil der vorherrschenden Kultur, auch in der Politik, die sich am rationalen Marktverhalten der Anbieter und Nachfrager ausrichtet. In der Schweiz sind die Belege für die Käuflichkeit von Wahlen und Abstimmungen deutlicher geringer. Unverändert gilt das sibyllinische Bonmont des Berner Politologen Wolf Linder: “Dass Wahlen und Abstimmungen in Schweiz käuflich seien, ist bisher nicht bewiesen worden, – allerdings ist auch das Gegenteil nicht bewiesen worden.”

Zur Analyse
Ich habe eine andere These, für die hidden agenda in der Wissenschaft, wenn es um den Einfluss von Geld in der Politik geht: Die Ansätze der politischen Oekonomie, die ein rationales Verhalten von Akteure annehmen, das sich auf materielle, sprich finanzielle Interessen reduzieren lasse, sind auch in der Politikwissenschaft zu vorherrschenden Deutungsmacht aufgesteigen. Der Vorgang verläuft mittlerweile kritiklos. Dabei übersieht man die Konsequenzen, die sich aus der Uebertragung von Vorstellungen ergeben, die für das Marktverhalten, das durch Angebot und Nachfrage resp. durch Geld als Kommunikationsmittel gesteuert wird, typisch sind.

Sozialphilosophisch inspirierte Theoretiker der europäischen Gegenwart – und zwar Jürgen Habermas bis Niklas Luhmann – haben letztlich immer darauf bestanden, Politik und Wirtschaft, als Teilsysteme wie auch als Lebenswelten, in eigenen Termini zu denken und zu untersuchen. Denn sie folgen unterschiedlichen Logiken, die aus der Geschichte der Demokratie, auch auch aus der Differenzierung von Funktionen hergeleitet werden können.

Mein Wunsch
Das würde dafür sprechen, bewusster mit Analysekategorien umzugehen. Geld ist das unbestrittene Steuerungsmittel der Wirtschaft, Macht jenes der Politik. Das sollte man auch in der Politikwissenschaft noch unreflektiert aufgeben, werde in den sichtbar-offiziellen, wie auch in den versteckt-inoffiziellen Deutungen!

Claude Longchamp

Konkordanz in der Schweiz auf dem Prüfstand

(zoon politicon) Seit die SVP Schweiz sich nicht mehr in der Regierung sieht, ihren Wählerauftrag aus der Opposition zum Bundesrat heraus sichtbarmachen will, an den Bundesratsparteiengesprächen nicht mehr teilnimmt, und in der “Arena” gleich starke Delegationen von Regierung und Opposition fordert, ist die Konkordanz wieder in aller Leute Mund. Seither wird auch viel behauptet, wie man sich in der Konkordanz nicht zu verhalten habe, wer den Rubikon überschritten habe, und welche Institutionen der Konkordanz überflüssig geworden seien.

Die Untersuchung
Gerade recht, um die tagesaktuelle, von parteipolitischen Interessen bestimmte Diskussion zu spiegeln, kommt da die politikwissenschaftliche Dissertation von Christian Bolliger, die 2007 unter dem Titel “Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz, 1945 bis 2003”, erschienen ist. Bolliger interessiert sich dabei nicht für alles und jedes, was mit der Konkordanz zu tun hat, sondern für eine spezifische, in der Schweiz aber wichtige Fragestellung: “Wie stark entsprach die politische Praxis der schweizerischen Regierungsparteien im Wandel der Zeit dem Modell der Konkordanz, und trug diese Praxis zur Verminderung der gesellschaftlichen Praxis bei?”

akteursbeziehungen
Analyseschema für die parteipolitische Praxis der Konkordanz von Christian Bolliger (anclickbar)

Nach 467 kohärent und flüssig geschriebenen Seiten, die sich den Grundlagen der Fragestellung und dem empirisch anspruchsvollen Test der relevanten Hypothesen zu den Akteursbeziehungen widmen, kommt der Berner Politikwissenschaft zu folgendem bündigen Schluss: “immer weniger”. eigentlich hätte er noch beifügen müssen: ziemlich unberechtigterweise!

Der Analyseansatz
Bolliger denkt nicht streng institutionell. Konkordanz ist für ihn eine Praxis. Begründet sieht er sie, in Anlehnung an die international etablierte Konkordanztheorie, zuerst in der Segmentierung der Schweiz. Diese hat vier starke Konfliktlinien hervorgebracht, die es so kombiniert in andern Gesellschaften nicht gibt: die konfessionelle Konfliktlinie zwischen Katholiken und Reformierten, den Gegensatz von Stadt/Land, die Unterschiede zwischen den Sprachregionen und die Klassenstruktur im Besitzstand. Doch auch die direkte Demokratie, speziell das Referendum, sieht er im Gefolge der schweizerischen Konkordanztheorie, als Rechtfertigung, denn sie hat nach den Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit den Zwang zur Zusammenarbeit der politischen Eliten erhöht.

Daraus leitet der Autor sein analytisches Modell der Akteursbeziehungen ab. Zwischen den grösseren Parteien braucht es Kooperation, hier als Parteienkonkordanz beschrieben, denn zwischen den BürgerInnen einer segmentierten Gesellschaft herrscht Polarisierung. Die Parteien wiederum haben die Aufgabe, Bindungen herzustellen zwischen den StimmbürgerInnen und den Eliten, die konfliktmindernd wirken. Sie müssen dabei, eingebunden in die Parteienkonkordanz, ihre innere Geschlossenheit bewahren können.

Wie das genau ausgeprägt ist, interessierte den ehemaligen Doktoranden. Wenn Parteienkooperation und innere Geschlossenheit funktionieren, spricht er von Stabilität der Konkordanz. Gibt es nur Parteikooperation, halten die Parteien die inneren Widersprüche aber nicht aus, redet er von brüchiger Konkordanz. Gekittet ist die Konkordanz, wenn wenn die innere Geschlossenheit tief und die Parteikooperation gering ist. Und schliesslich ist die Parteienkonkordanz gescheitert, wenn es keine Parteienkooperation mehr gibt, dafür die Geschlossenheit der parteilichen Eliten hoch ist. Das jedoch ist nur die horizontale Konkordanz. Die vertikale entsteht aus den alles entscheidenden Bindungen der Parteieliten und den StimmbürgerInnen:

. Wirksam ist die Konkordanz dann, wenn Parteienkooperation und gesellschaftliche Bindungen hoch sind, denn das führt zu einer Verminderung der Polarisierung.
. Unwirksam ist sie, wenn die Parteienkooperation funktioniert, es aber an gesellschaftlichen Bindungen mangelt.
. Ein offener Parteienwettbewerb herrscht vor, wenn die Polarisierung in der Bürgerschaft gering, in den parteilichen Eliten aber stark sind.
. Schliesslich ist von manifesten Konflikten die Rede, wenn sowohl die gesellschaftliche wie auch die parteipolitische Polarisierung ausgeprägt ist.

Die Ergebnisse
Was nun ist, bei der Analyse von Volksabstimmungen, Parteikampagnen und politischer Praxis Sache?

Den gewählten Zeitraum unterteilt der Autor zunäcsht in drei Phasen: die unmittelbare Nachkriegszeit, die er mit Blüte der Konkordanz zusammenfasst, die 70er und 80er Jahre, welche die etablierte Konkordanz herausgefordert haben, und die Jahrtausendwende, in der die schweizerische Konkordanz entwertet worden sei. Vertieft beschäftigen muss man sich also nur mit der letzten Phase.

Den generellen Befund gilt es allerdings hinsichtlich der vier eingeführten Konfliktlinien zu differenzieren:

. Bezogen auf den Religionsfrieden in der Schweiz sieht Bolliger die Konkordanz weiterhin wirken. Die Parteien sind weiterhin in den Konfessionsgruppen verankert, und sie suchen in konfessionellen Fragen das Einvernehmen untereinander.
. Wechselhaft ist die Konkordanz in Sprachfragen geworden. Das hat weniger mit dem Verhalten der Parteien untereinander zu tun, als mit den Aufleben der Sprachgegensätze unter den Stimmberechtigten vor allem angesichts der aussenpolitischen Oeffnung.
. Verringert hat sich die Konkordanz bei den Klassenfragen. Hier ist man zu einem offenen Parteienwettbewerb übergegangen, bei dem man sich auf Eliteebene konkurrenziert, ohne dass in der stimmenden Bevölkerung ein vergleichbarer Konflikt festzustellen sei.
. Wenn das alles die Krisenbefunde der Konkordanz relativiert, so sieht Bolliger diese bei den Stadt/Land-Gegensätzen generell aufgebrochen: Sowohl die Elitekooperation sei um die Jahrtausend-Wende verschwunden, als auch die Bevölkerung in den Zentren und ihren Peripherien würden in unterschiedliche Richtungen tendieren. Das ist denn auch die eigentliche Herausforderung unserer Zeit.

Das alles führt den Autor zu vier Folgerungen für die gegenwärtige Situation:

. Erstens, die innere Geschlossenheit der Parteien bleibt, trotz selbständigen Kantonalparteien und ausdifferenzierten Verbänden, relativ hoch und konstant.
. Zweitens, die Bindungen der Parteien in der stimmberechtigten Bevölkerung sind aber schwach, sie ist aber teilweise im Wandel begriffen.
. Drittens, die gesellschaftlichen Konfliktlinien ihrerseits bestehen oder brechen auf, vor allem in räumlicher Hinsicht bei der Sprache und bei der Siedlungsart.
. Viertens, die Konkordanz ist angesichts dieser Verhältnisse in ihrer Praxis erheblich erschüttert.


Die Würdigung

Vieles von dem, was Christian Bolliger in seiner Doktorarbeit berichtet, dürfte Zustimmung finden. Sein Ansatz ist weitgehend deskriptiv, und seine Beschreibung treffen wohl zu. Allerdings neigt der Autor zu erheblichen Schematisierungen, die im Zeitverlauf, auf Ebene der einzelnen Parteien und bezogen auf die untersuchten Volksabstimmungen differenzierter hätten ausfallen können.

Die eigentliche Leistung der Disseration ist aber, eine Ordnung in die Begriffe der Konkordanzpraxis gebracht zu haben. Diese ist, so darf man folgern, nicht zwangsläufig eine theoretische Grösse, die aus der Gesellschaft, ihren zurückliegenden Konflikten, deren Verabreitungen in institutionellen Regelung entsteht. Vielmehr ist eine gewisse Bandbreiten an verschiedenen Praxen möglich, wie die Akteurskonstellationen zeigen: Wirksame Konkordanz in Konfessionsfrage steht eine offenen Wettbewerb bei Wirtschaftsinteressen gegenüber, brüchige Konkordanz in der Sprachenfrage koexistiert tiefen Konfliktlinien bei den Stadt/Land-Gegensatzen. Die einfache Schematisierung zwischen geeinter und gespaltener Gesellschaft, die Konkordanzdemokratie erfordert oder Wettbewerbsdemokratie zulässt, ist damit aufgehoben.

Die politische Praxis, die sich seit dem 12. Dezember 2007 stellt, erhellt die Studie von Christian Bolliger damit noch nicht. Der wissenschaftliche Praxis zur Konkordanzpraxis , die seit den Arbeiten von Neidhard und Lijphard zementiert erschien, erweitert die Arbeit um eine willkommene Innovation.

Claude Longchamp

Das generelle Forschungsprojekt
Christian Bolliger: Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz 1945 bis 2003, Diss. Bern 2007
Die Buchreihe