Während im deutschen Wahlkampf CDU/CSU und FDP immer deutlicher eigene Wege gehen, weiss Politologie-Professor Gschwend bereits, dass eine Koalition beider Parteien bei der kommenden Bundestagswahl einen Stimmenanteil von 52,9 Prozent bekommen und damit eine Mehrheit hinter sich haben wird.
Zusammen mit Helmut Norpoth hat Thomas Gschwend ein Prognosemodell für deutsche Bundestagswahlen entwickelt, das sich bisher recht gut gehalten hat. Es basiert auf einer Regressionsrechnung, die möglichst wenige Faktoren hat, die, gewichtet, bei zurückliegenden Wahlen das Ergebnis so präzise wie möglich “nachhergesagt” haben.
Das statistisch ermittelte Modell lautet:
Prognose für Schwarz-Gelb =
– 1,53*(AMT=Abnützungseffekt anhand der Zahl der Amtsperioden der Regierung)
+ 0,75*(PAR=Mittel der Parteistimmenanteile in den letzten drei Bundestagswahlen)
+ 0,38*(KAN=Kanzlerunterstützung unter Ausschluss von Unentschlossenen)
-5,6 %.
Im deutschen Regierungssystem ist demnach die Dauer der bisherigen Regierungskoalition, der Mittelfrist-Effekt, der wichtigste Prädiktor. Das spricht nicht gegen CDU/CSU, die erste eine Legislatur am Stück regiert, aber gegen die SPD. Es folgt mit den zurückliegenden Parteistärken der langfristige Präditor. Das gibt Schwarz-Gelb einen soliden Sockel. Das kurzfristige Moment, die Kanzlerpopularität, ist zwar am unwichtigsten, favorisiert aber Merkel eindeutig.
In die obige Formel eingesetzt, ergibt das eine Prognose von 52,9 Prozent an Zweitstimmen für Schwarz-Gelb am 27. September 2009, – oder die nötige Mehrheit für die Regierungsbildung durch die CDU/CSU ohne SPD.
Die Prüfung der Prognose steht selbstredend noch aus. Doch das ist der Vorteil solcher Modelle: Wenn das Ergebnis nicht mit der Prognose übereinstimmt, müssen nur die Parameter spezifiziert werden!
Claude Longchamp
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Norpoth, Helmut, und Thomas Gschwend. 2005. “Mit Rot-Grün ins Schwarze getroffen: Prognosemodell besteht Feuertaufe”, in: Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2002, Jürgen W. Falter, Oscar W. Gabriel und Bernhard Wessels (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 371-387.
Der Mannheimer Morgen schreibt heute:
Mehr als nur fauler Zauber?
Von unserem Redaktionsmitglied Hanna Fischer
Mannheim. So sieht er also aus, der moderne Zauberer von heute: schwarzes T-Shirt, helle Hose, grau meliertes Haar, Brille in leuchtend-grellen Farben. Mit weißen Kaninchen, die aus Zylindern krabbeln, hat Thomas Gschwend allerdings nichts zu tun. Der Politologe und Dozent an der Universität Mannheim verblüfft mit seiner “Zauberformel”. Schwarz-Gelb, sagt Gschwend, regiere nach dem 27. September die Bundesrepublik. Da ist er sich ganz sicher.
Es war vor elf Jahren auf Long Island, als der Mannheimer Wissenschaftler im Büro seines damaligen Doktorvaters Helmut Norpoth die Idee zu seinem statistischen Modell entwickelte. “Wahlprognosen sind eine zu ernste Sache, als dass man sie den Meinungsforschungsinstituten überlassen könnte” – so lautet der erste Satz des Aufsatzes, mit dem Gschwend und Norpoth ihren “Zauber” erklären. “Uns geht es nicht um Momentaufnahmen der politischen Stimmung. Wir haben uns gefragt: Was können wir aus den zurückliegenden Bundestagswahlen lernen? Gibt es Gesetzmäßigkeiten, Konstanten, Indikatoren, die die Umfrageforschung vernachlässigt? Und die gab es in der Tat”, sagt der Politologe.
Gschwends “Zauberformel” setzt sich aus drei Punkten zusammen. Erstens wird der langfristige Wählerrückhalt der Regierungsparteien berücksichtigt – gemessen als durchschnittlicher Wahlerfolg bei den vorangegangenen drei Bundestagswahlen. Zweitens spielt der mittelfristig wirksame Abnutzungsprozess der Regierung im Amt eine Rolle – gemessen an der Zahl der Amtsperioden. Und drittens bezieht das Modell die durchschnittliche Popularität des Kanzlers ein – gemessen durch Umfragewerte aus dem Zeitraum von acht Wochen vor dem Wahltag.
Die diesjährige Bundestagswahl stellt für Gschwend und Norpoth allerdings einen Sonderfall dar: “Die Große Koalition sieht sich selbst lediglich als Notlösung, nachdem 2005 keines der politischen Lager eine Regierungsmehrheit auf sich vereinen konnte. Daher haben wir unsere Berechnungen auf die von der Kanzlerin präferierte schwarz-gelbe Koalition konzentriert und deren Stimmanteil ermittelt”, sagt Gschwend. Für Union und FDP hat der Wissenschaftler einen Stimmenanteil von 52,9 Prozent errechnet.
Schon zwei Mal lag die Formel richtig: 2002 prognostizierten Gschwend und Norpoth 47,1 Prozent für die amtierende Regierung (Rot-Grün) – und trafen damit exakt das Wahlergebnis. Bei der Wahl vor vier Jahren lagen die Wissenschaftler knapp daneben. Statt der vorhergesagten 42 Prozent für SPD und Grüne wurden es am Ende 42,3 Prozent. Auch die Tests an den Wahlen zwischen 1953 und 1998 hätten gezeigt: Es funktioniert.
Zauberei? “Das ist biederes Handwerk”, betont Gschwend, der sich auch schon die Bezeichnung “Harry Potter der Wahlforschung” gefallen lassen musste.
Matthias Jung, Leiter der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen, ist von Gschwends Modell ganz und gar nicht überzeugt: “Die Formel erzeugt die Illusion, dass alles, was die Wähler vor der Wahl erleben, sei es der Wahlkampf oder das TV-Duell, keine Rolle spielt.” Ein weiterer Kritikpunkt Jungs: “Die Aussagekraft der Formel ist nur sehr begrenzt.” Das liege daran, dass das Modell, das die Wissenschaftler bei der diesjährigen Bundestagswahl anwenden, neben CDU und FDP keine anderen Parteien berücksichtigt. “Das Modell pickt sich die Sachen raus, die leichter vorherzusagen sind”, so Jung. “Es geht doch hier hauptsächlich um den Showeffekt.”
Wahlabend mit der Familie
Gschwend ist überzeugt: Nur noch ein riesiger Skandal könne seine Prognose über den Haufen werfen. Und zwar ein Skandal, in den Kanzlerin Angela Merkel verwickelt ist. “Je populärer der Herausforderer im Vergleich zur Kanzlerin wird, umso eher verdüstern sich die schwarz-gelben Erfolgsaussichten für den 27. September”, erklärt der Politologe.
Dem Wahlabend fiebert Gschwend seit langem entgegen. “Der ist schon deutlich spannender geworden, seit es mein Modell gibt”, sagt er. Zu Hause vor dem Fernseher sitzen wird er am 27. September, vielleicht gibt es eine Wahlparty mit Freunden, Frau und Töchtern. Dann zeigt sich, ob Gschwend und sein früherer Doktorvater auch diesmal richtig liegen – oder ob die “Zauberei” ein Ende hat.
Zwischenzeitlich hat Thomas Gschwend selber zur Abweichung des Resultats von der Prognose Stellung genommen. Generell bilanzierte, früh die richtige Koalition vorhergesehen zu haben, die Effekte des Wechsels indessen überschätzt zu haben.
Die Gründe dafür sieht Gschwend wie folgt: Wir können natürlich nicht in die Köpfe der Wähler hineinschauen, vermuten aber Folgendes: Die Umsetzung von Popularität vor der Wahl in Stimmen am Wahltag hat für die schwarz-gelbe Wunschkoalition der Kanzlerin nicht so funktioniert, wie wir das von den anderen Bundestagswahlen her kannten. Leider sind bisher noch keine Umfragedaten, die eine genauere Analyse ermöglichen würden, öffentlich zugängig. Trotzdem gibt es Anzeichen, die diese Vermutung stützen.
Die Anhänger der SPD standen nicht deutlich hinter ihrem Kanzlerkandidaten. Die Unterstützungswerte von Steinmeier lagen nur bei rund 55 %. Offensichtlich hat die hypothetische Entscheidung „Merkel oder Steinmeier?“ die eigenen SPD-Reihen nicht so fest geschlossen wie das üblicherweise der Fall ist. Viele wünschten sich Frau Merkel anstelle des eigenen Kandidaten als Bundeskanzler(in), ohne jedoch für die Union zu stimmen. So war Frau Merkel vor der Wahl populärer als die Bundeskanzler bei früheren Wahlen. Das lag hauptsächlich an der besonderen Situation der amtierenden „Großen Koalition.“ Die SPD gehörte einer Regierung an, die nicht von einer Persönlichkeit aus der eigenen Partei, sondern aus der Gegenpartei geleitet wurde. Es gab offenbar SPD-Anhänger, die es ohne weiteres mit sich vereinbaren konnten, einerseits lieber die Amtsinhaberin anstelle des eigenen Kandidaten als Kanzler zu bevorzugen, aber am Wahltag doch der eigenen Partei ihre Stimme gaben statt ihrer Wunschkanzlerin ins Amt zu verhelfen. Vermutlich waren viele Wähler derart an die „Große Koalition“ gewöhnt, dass sie trotz gegenseitiger Konfrontationen im zurückliegenden Wahlkampf zu solch einem gefühlten Spagat fähig waren. Dieser Umstand bescherte 2009 der amtierende Kanzlerin bei SPD-Anhängern Sympathien, einen „Großer Koalitions-Bonus“ sozusagen, die bei Wahlen ohne Grosse Koalition nicht zu erwarten sind. Ein Vergleich von Kanzlerpopularität in den Reihen der Parteianhänger mit Kanzlerpopularität vergangener Wahlen beweist das eindeutig.
Wir haben uns daraufhin die veröffentlichten Berichte der Forschungsgruppe Wahlen zum Politbarometer angesehen, auf deren Basis wir unser Maß für die Kanzlerpopularität konstruierten. Zudem haben wir auch die von der Forschungsgruppe Wahlen dankenswerterweise archivierten Daten für 2002 reanalysiert.
Vor der Wahl 2002, als die eine Großpartei (SPD) im Amt und die andere (CDU/CSU) in der Opposition war, erfreuten sich Kanzler Schröder wie auch Kanzlerkandidat Stoiber nahezu voller Unterstützung in den eigenen Reihen. In Ost wie West. Zwischen 80 und 90 % der CDU/CSU- Anhänger wünschten sich lieber Stoiber als Schröder als Kanzler. Über 90 % der SPD-Anhänger wünschten sich lieber wieder Schröder.
Für 2005 ergibt sich im Wesentlichen dasselbe Bild. Hier berufen wir uns auf die veröffentlichten Werte im Politbarometer. Beide Kanzlerkandidaten konnten unter den jeweiligen Parteianhängern klar polarisieren. Während die damalige Herausforderin sich auf rund 80 % Zustimmung im eigenen Lager verlassen konnte, konnte der Amtsinhaber auf rund 90 % seiner Anhänger zählen. Ein solches Muster ist typisch für den Normalfall einer Bundestagswahl, wo CDU/CSU und SPD auf entgegengesetzten Seiten der Macht stehen.”
Daraus zieht Gschwend folgenden Schluss: “Für den seltenen Fall einer Wahl wie der in 2009, wo diese beiden Parteien gemeinsam im Amt sind, wäre es ratsam, die Variable „Kanzlerpopularität“ im Prognosemodell entsprechend zu bereinigen. Insbesondere dann, wenn die Wahlprognose auf eine andere Parteienkombination abzielt, also Schwarz-Gelb statt Schwarz-Rot. Nehmen wir also den typischen Fall, in dem sich die beiden Großparteien gegenüberstehen: Hier finden die beiden Kanzlerkandidaten etwa die gleiche Zustimmung in den eigenen Parteilagern. Unter dieser Annahme erhielten wir für 2009 einen vom „Großen Koalitions-Bonus“ bereinigten Wert für die Kanzlerpopularität von 61 % für die amtierende Kanzlerin. Mit einem solchen Popularitätswert hätte unser Modell sodann eine Prognose von 49,1 % Stimmen für Schwarz-Gelb geliefert. Bei einem solchen Sonderfall wie in 2009, ist eine solche Korrektur sicherlich zu rechtfertigen.
Die Kanzlerpopularität eignet sich ohne weiteres als Prognosefaktor bei Wahlen, in denen sich die Kanzlerkandidaten wie auch die hinter ihnen stehenden Parteien auf entgegengesetzten Seiten befinden. Wenn beide Großparteien jedoch zusammen im Amt sind und mit eigenen Kanzlerkandidaten antreten, dann hat die Kanzlerpopularität nur bedingte Prognosekraft für eine andere Kombination von Parteien.”
Die Argumentation ist in sich stringent. Sie erweitert aber die relevanten Annahmen, was entscheidend sei. Das ist wissenschaftstheoretisch legitim, wissenschaftspraktisch nicht unprobematisch. Denn es relativiert den Wert, mit der propagierten Formel bessere Prognosen als andere gemacht zu haben, weil man “die strukturellen” Faktoren des Wahlausgangs kenne.