Der Vorbote der kommenden Zivilgesellschaft

64.4 Prozent: Das Nein des Schweizer Volkes zur elektronischen Identifizierung ist eine Niederlage für Regierung und Parlament. Vor allem aber verdeutlicht das Verdikt den Aufstieg digitaler AktivistInnen zum ernstzunehmenden Machtfaktor. Parlament und Parteien sollten sich der Entwicklung stellen. Denn am vergangenen Abstimmungssonntag haben wir wohl erst einen Vorboten der aktiven Zivilgesellschaft gesehen: Zeitenwende?


Illustration: Michael Hüter

Die Bilanz der Behörden bei Abstimmung über ihre Gesetze ist im Grundsatz nicht schlecht. In 6 von 10 Fällen setzen sie sich durch. Doch in der noch jungen Legislaturperiode hat die Regierung schon die dritte Niederlage bei sieben Referenden kassiert, zuletzt die E-ID Abstimmung vom 7. März.
Unüblich war mit 64,4 Prozent Nein auch die Höhe der Niederlage. Nur zwei Mal war die Opposition in den letzten rund 10 Jahren grösser.
Eine Nachuntersuchung auf Befragungsbasis zeigte: Das Nein kam vor allem aus den Mittel- und Unterschichten, und es wurde von Menschen getragen, die Misstrauen in die Politik hegen (Link).
Dieses Abstimmungsergebnis verdient aber auch aus anderen Gründen eine nähere Betrachtung. Es zeugt von neuen Mechaniken, die sich im Schweizer Politbetrieb bisher abgezeichnet und nun erstmals mit Wucht manifestiert haben. Ich sehe vier Phänomene, die das ausserordentliche Ergebnis hier und jetzt erklären.

Erstens: Institutionelle und nicht institutionelle Öffentlichkeit
Tiefe Gräben zwischen politischer Elite und stimmender BürgerInnen-Basis sind in der Schweiz nicht die Regel (Link). Sie öffnen sich jeweils dann, wenn der Diskurs im Parlament und im Abstimmungskampf keinen Widerhall findet.
Eine Voraussetzung hierzu sind entgegengesetzte Interessen und Werte zwischen Behörden und Bürgerschaft. Das kommt namentlich dann vor, wenn wirtschaftliche Interessen mittels Lobbying in die gesetzgebenden Räte getragen werden und gut verankerte Selbstverständnisse der stimmberechtigten Bevölkerung übergehen. Aktuell standen sich die Ziele einer zügigen Digitalisierung, basierend auf einem Ansatz von öffentlich-privater Partnerschaft, dem Wunsch nach staatlich garantiertem Datenschutz ohne Möglichkeiten der Kommerzialisierung gegenüber.
Verstärkt wurde der Gegensatz durch eine referendumsfähige Allianz von links. Im Abstimmungskampf schlossen sich ihr die Delegierten der glp und AbweichlerInnen von rechts an. Verstärkend wirkten beispielhaft die Gewerkschaft SGB und der Kanton Waadt, der für eine Reihe skeptischer Kantone sprach. Zusammen bildeten sie die Stimme der einfachen Menschen in diesem Abstimmungskampf und damit die Basis der Ablehnung.

Zweitens: Themenprofilierte AktivistInnen
Themenprofilierte AktivistInnen sorgen für eine glaubwürdige Aktion über die politische Gegnerschaft hinaus.
Die TrägerInnen des Referendums rühmten sich am Abstimmungstag, das erste erfolgreiche Crowd-Referendum in der Schweiz durchgezogen zu haben. Ihnen sei es gelungen, viele Nerds aus der IT-Branche zu mobilisieren. Sie warben fachkundig und glaubwürdig gegen den Vorschlag der Behörden.
Gegenüber früheren vergleichbaren Kampagnen war das eine bemerkenswerte Weiterentwicklung. Denn Teile der behördenkritischen Politik beherrschen heute die digitale Form des politischen Kampfes fast schon perfekt. Nach den erfolgreichen Tools für die Beschaffung von Finanzen und Unterschriften kam diesmal die Crowd-Aktivierung von BürgerInnen dazu. Sie baut ganz auf BeeinflusserInnen, die sich thematisch präzise und zeitlich beschränkt in bewegungsähnliche Aktionen einbringen. In der Fachsprache nennt man das aucg “citizen marketer” – MultiplikatorInnen, die eine Kampagne weiter Tragen (Link).

Drittens: Die Pandemie-Siegerinnen
Die TrägerInnen des E-Id-Referendums sind Pandemie-Gewinner, denn sie haben die Zeichen der Corona-Krise rechtzeitig erkannt.
Die zahlreichen und andauernden Corona-Massnahmen haben die Versammlungsdemokratie mit Gemeindeversammlungen zum Erliegen gebracht. Angeschlagen sind auch die Vereine als Basis der direkten Demokratie.
Wer meinte, damit ginge wie in vielen anderen Ländern die politische Beteiligung zurück, sah sich jedoch getäuscht. Die Abstimmungsbeteiligung steigt seit den 1990er Jahren. Genauso verhält es mit dem politischen Interesse. Unter Corona-Bedingungen erreichte es Spitzenwerte (Link).
Am 7. März stimmten 51 Prozent ab. Überraschen würde es nicht, wenn sich typische Veränderungen der neuen Zeit erneut zeigen würden. Bei Männern, die sich ihre Meinung gerne am Stammtisch bilden, ist die Teilnahme rückläufig. Bei Frauen ist sie insgesamt steigend. Junge Frauen sind die eigentlichen Trendsetterinnen (Link).

Viertens: Die aktivierte Zivilgesellschaft
Erfolgreiche digitale Kampagnen und veränderte Mobilisierung kennzeichnen den neuartigen Umbruchs der Zivilgesellschaft.
Internationale Untersuchungen halten schon länger fest: Die kritische Öffentlichkeit aktiviert vor allem Gesellschaftsgruppen, die sich gegen Konzerne oder den Staat wenden. Streitpunkte sind die Missachtung fundamentale Anforderungen wie Menschenrechte, Umweltschutz und Garantie der Privatsphäre (Link).
Das nährt das Misstrauen. Es ist eine Triebfeder des politischen Engagements. Es bildet die aktive Zivilgesellschaft von heute, die nicht kommerziell ausgerichtet ist und politisch überparteilich aktiv wird.
In der Schweiz stellte man das 2016 als Reaktion auf die Durchsetzungsinitiative der SVP fest; 2019 prägte es das Wahljahr, und 2020 sprach man bei der Konzernverantwortungsinitiative davon, als das Volks- nicht aber das Ständemehr erreichte wurde. Nun ist das Phänomen mitten in kurzen und heftigen Referendumskämpfen angekommen – und das bemerkenswerte Ende der vorgeschlagenen eID gebracht.
Was die Zukunft bringt

Was kommt?
Die mannigfaltige Zeitenwende in der politischen Aktivierung könnte weiter Schule machen. Die themenspezifische Oeffentlichkeit ist bereit, sich vermehrt einzubringen. Sie startet ihre Kampagnen selber, unabhängig von der institutionellen Logik. Damit übt sie zusehends Druck auf Staat und Wirtschaft aus; hilfreich erweist sich die Digitalisierung der politischen Kommunikation (Link).
So stimmt die Schweiz am 13. Juni 2021 über das Covid-19-Gesetz und über die polizeilichen Massnahmen gegen den Terrorismus ab. Trotz Corona sind in beiden Fällen ausserordentlich viele Unterschriften zustande gekommen. Ihre TrägerInnenschaften bilden sich ausserhalb oder am Rand der Parteien und binden neue Menschen in die oppositionelle Politik ein. Und sie dürften in den kommenden Monaten mit Tempo für Überraschungen sorgen und ihre Ansichten in die Öffentlichkeit tragen..
Die Politik tut gut daran, der Herausforderungen der Jetzt-Zeit ernst zu nehmen (Link).

BOX
Trend zur Spaltung
Mit der Digitalisierung werden mehr Akteure politisch aktiv. Sie relativieren das Monopol von Staat, Parteien und Verbänden in der Öffentlichkeit. Demokratiepolitisch ist dieser Pluralismus erwünscht. Doch hat es auch problematische Seiten (exemplarischer Link).
Drei typische Thesen aus der Forschung zur Digitalisierung der politischen Kommunikation (Link):
These 1: Die Massenkommunikation wird zur Community-Kommunikation, die ihre Szenen treffsicher kommuniziert, die Öffentlichkeit aber spaltet.
These 2: Die lokal zentrierte Kommunikation wird durch gut vernetzte globale Akteure beeinflusst, die ihre weltweiten Erfahrungen schnell und überall einbringen.
These 3: Das Spektrum des politisch denk- und sagbaren wird erweitert, was Ansichten begünstigt, die Misstrauen in die etablierte Politik verstärken.