Referendumsfähigkeit im Zeitalter der Digitalisierung neu verstehen lernen

Die Digitalisierung schreitet voran. Sie erfasst zusehends auch die politischen Kommunikation und damit auch politische Kampagnen. Ironie der Geschichte: Das Referendum gegen die elektronischen Identifikationsdienste machte das mit der Opposition gegen die linear verstandene Digitalisierung deutlich. Warum das typisch ist für die gestiegen Referendumsfähig – aus dem linken Umfeld.


Tabelle anclicken, um sie zu vergrössern

Was Referendumsfähigkeit bedeutet
Nur wer referendumsfähig ist, gehört zum erlauchten Kreis der relevanten Akteure in der Schweiz. Das ist die seit langem herrschende Lehre. Denn so beweisen Parteien, Verbände und Bewegungen, dass sie eine Veto Macht gegen Parlamentsentscheidungen sind. Deshalb macht es Sinn, sie frühzeitig in die Willensbildung mit einzubinden.
Definieren kann man Referendumsfähigkeit auf zwei Arten: Enger ist die Umschreibung, wenn man alleine auf die nachweisliche Kompetenz abstellt, innert 100 Tagen die geforderten 50000 Unterschriften sammeln zu können. Allerdings hat diese Definition einen Nachteil. Denn es sichert nicht, dass ein Behördenprojekt auch gestoppt wird. Dafür braucht es zusätzlich die Fähigkeiten, Abstimmungsmehrheiten herstellen zu können. Deshalb ziehe ich die weitere Umschreibung vor, wonach ein Akteur nur dann referendumsfähig ist, wenn er sowohl die nötigen Unterschriften sammeln wie auch Referendumsabstimmungen gewonnen hat.

Neuentwicklungen und Beschleunigungen
Zwei Beispiele anhand der Plattform «WeCollect» illustrieren das. Sie war führend, als 2018 das Referendum gegen die sog. Versicherungsspione lanciert wurde. Die Unterschriftensammlung war mit 56000 Signaturen erfolgreich. Die Abstimmung selber geriet jedoch zum mittleren Flop. Nur 35 Prozent stimmten bei einer durchschnittlichen Beteiligung von 48 Prozent im Sinne der Opponenten.
Man konnte das mit dem damaligen Stand der Digitalisierung politischer Kommunikation erklären. Diese zeigte ihre Auswirkungen zunächst auf die Mobilisierung von MilitantInnen, die für die Unterschriftensammlungen entscheidend sind.
Zwischenzeitlich kann man durchaus die Auffassung vertreten, dass wenigstens die Könner der digitalen politischen Kommunikation auch in Abstimmungskämpfen relevant mobilisieren können. Dafür steht musterhaft das aktuelle Referendum gegen die elektronischen Identifikationsdienste. 65000 Unterschriften führten zu einer Unterstützung durch 64 Prozent der Stimmenden in der Referendumsabstimmung. Und dies bei einer überdurchschnittlichen Teilnahme von gut 51 Prozent.

Kennzeichen der neue Referendumsfähigkeit von links
Nun steht der gestrige Erfolg bei den elektronischen Identifikationsdiensten symptomatisch für die gestiegene Referendumsfähigkeit aus dem linken Umfeld. Ausgangpunkt dieses höchst aktuellen Trends war die Opposition gegen die Unternehmenssteuerreform III im Jahre 2017. Machtpolitisch war sie gegen die rechtbürgerliche Mehrheit in Regierung und Parlament gerichtet. Seither sind acht weitere Referenden hinzugekommen. 2018 gehörten das Geldspielgesetz und die erwähnte Versichertenüberwachung hinzu. 2019 war es die STAF, 2000 die Kampfjets, die erhöhten Kinderabzüge und das Jagdgesetz. Für das laufende Jahr kann man das Referendum gegen das Freihandelsabkommen mit Indonesien und die eID hinzufügen.
Allerdings war der Parolenspiegel bei alle diesen Referenden nicht einheitlich. Letztlich kann man drei Muster erkennen:
. die Opposition umfasst die Links-Parteien SP, Grüne und PdA sowie die GLP, allenfalls auch die EVP.
. die Opposition besteht aus den genannten Links-Parteien, allenfalls mit der EVP aber ohne die GLP.
. die Opposition setzt sich aus den grünen Parteien (GPS und GLP) zusammen, reicht über die EVP bis auf die rechte Seite.

Erfolgsformeln
Das politische Profil der Unterstützung hat einen Einfluss auf die Chancen, eine Mehrheit in der Volksabstimmung zu finden. Aufgrund der bisherigen Daten gilt:
. eine erweiterte grüne Opposition ohne die Linksparteien scheitert in der Volksabstimmung
. linksgrüne Oppositionen ohne die GLP sammeln zwar erhebliche Anteile an Nein-Stimmen; ablehnende Mehrheiten bleiben aber die Ausnahme
. linksgrüne Opposition mit der GLP und allenfalls weitere Parlamentsparteien sind dagegen in der Regel mehrheitsfähig.
Mit andern Worten: Die Allianzstärke der OpponentInnen ist durchaus ein relevanter Faktor, der den finalen Nein-Anteil mitbestimmt. Notwendig, aber nicht hinreichende Voraussetzung ist die linksgrüne Opposition. Denn letztlich reicht es erst, wenn die linke Gegnerschaft auch die GLP einbinden kann. Sie ist es, welche das Scharnier zwischen links und Mitte herstellt.

Digitalisierung der politischen Kommunikation als Hintergrund
Man kann sich fragen, warum das Phänomen in den letzten drei, vier Jahren so an Fahrt gewonnen hat. Meines Erachtens hat auch das tatsächlich mit der voranschreitenden Digitalisierung der politischen Kommunikation zu tun.
Schon länger erwartet die Forschung, dass es mit der online-Kommunikation zu einer Dezentralisierung der einflussreichen Akteure kommt. Mehr politisch aktivierbare Gruppierung mit einer spezifischen Klientel oder Anhängerschaft werden relevant.
Was man theoretisch sinnvoll herleiten kann, hat viel mit der aktuellen Corona-Lage zu tun. Denn sie hat den eigentlichen Durchbruch für erfolgreiche digitale Kampagnen gebraucht. Symptomatisch ist dabei auch, dass die digitale Kommunikation der Opposition, die aus Misstrauen setzt, begünstigt.
Das neue Phänomen relativiert die einleitend zitiert Definition von Referendumsfähigkeit, denn der exklusive Kreis an Akteure wird weiter durchlöchert. Wichtiger wird dagegen die Zivilgesellschaft, die auch ohne parlamentarischen Opposition aktiviert werden kann, möglicherweise auch erst mit dem Referendum resp. der Unterschriftensammlung. Eine aktive Oeffentlichkeit, relevant aus gesellschaftlichen Gruppen getragen, tritt neben die Parteien. Sie werden nicht abgelöst, verlieren aber ihr Monopol. Und auch hier: Je breiter sie bestückt ist, desto grösser sind die Erfolgschancen.
Dani Graf, der Kopf hinter dem Referendum spricht gar von einer historischen Konstellation. Erstmals sei ein Crowd-Referendum das ausserhalb der Parteien lanciert worden sei, erfolgreich gewesen.

Die neue Lehre
Man kann es auch so sagen: Das eID-Referendum wird stilbildend wirken! Die relevanten Lehren aus der gestrigen Abstimmung sind:
. breite linksgrüne Opposition,
. thematischen Allianz mit der GLP, allenfalls auch der EVP und
. digitale Kampagnenfähigkeit.
Sie bilden die neuen Zutaten für die Referndumsfähigkeit von links.
Selbstredend macht das das Handeln der Behörden in potenzielle referendums-nahen Lagen nicht einfacher. Sinnvoll dürfte es werden, die alte Referendumsregel unter veränderten Umständen zu beachten. Das hiesse, denkbare Oppositionen aus der Zivilgesellschaft frühzeitig die die behördliche Willensbildung einzubinden, mit dem Ziel, Vorlagen inhaltlich und kommunikativ besser gegen Referendumsabstimmung zu sicher.

Kleines PS
Das Referendum gegen die PMT-Gesetz, über das wir am 13. Juni 2021 abstimmen, dürfte dieses Voraussetzung erfüllen. Die Abstimmung kann durchaus als Testlauf für die hier vertretene These verstanden werden. Allenfalls wird man möglicherweise mit Referendum gegen das COVID19 Gesetz die gleichen Ausführungen wie hier auch von rechts her gesehen machen müssen.

Claude Longchamp