Einmal Ja, einmal Nein und einmal Spannung: Wie ich morgen in den Abstimmungssonntag steige.

Am morgigen Abstimmungssonntag bin ich wiederum ab 12 Uhr für «BlickTV» als Analytiker im Einsatz. Ich erläutere hier, was ich morgen erwarte.

Konkret ging es um die Verhüllungsinitiative des Egerkinger-Komitees und die Referenden gegen das Bundegesetz über die elektronische Identifiziert resp. das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und Indonesien.
Mehrfach habe ich hier über Zwischenstände berichtet. Dies ist die finale Version.

Prognose, Momentaufnahmen und Trends
Zwischenzeitlich sollte der Unterschied zwischen Prognosen, Momentaufnahmen und Trends klar sein: Prognosen sind in aller Regel einmalige Aussagen anhand eines messbaren Indikators, der etwas über das Endergebnis aussagt. Momentaufnahmen sind an sich das Gleiche, doch geht man nicht davon aus, dass das Endergebnis abgeleitet werden kann. Deshalb sollte man solche Messungen ein- bis zweimal wiederholen, um mindestens einen Trend erkennen zu können.
Ausgangspunkt aller Prognosen bei Volksabstimmungen sind die Entscheidungen im Parlament. Sie selber sind keine Vorhersage, denn man kann nicht zwingend daraus schliessen, dass die Volksentscheidung gleich ausfällt. Vor allem bei umstrittenen Fragen geht man von mehr Opposition im Abstimmungsergebnis als im Parlament aus. Ergebnisse zu Volksinitiativen fallen damit positiver, solche zu Gesetzesreferenden negativer aus.


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Parolen und Medientenor
Als erste Möglichkeit einer annähernden Vorhersage kann man auf den Parolenspiegel abstellen.
Vereinfacht kann man auch einzig auf die Parole der Partei abstellen, welche bisher am erfolgreichsten war. Das sind seit den Wahlen 2019 die Grünliberalen. Das gibt schon eine Prognose, die in 9 von 10 Fällen zutrifft.
Weniger fehleranfällig ist es, Lager mit Ja resp. Nein Parolen zu bilden und die Parteien mit ihrer Stärke bei den letzten Nationalratswahlen zu verrechnen. So ermittelte Allianzstärken wie die von Swissvotes sind recht realistischer. Vorausgesetzt ist aber, dass es keine namhaften Abweichungen von Kantonalparteien gibt.
Denkbar ist es auch, die Vorhersage auf der Medienberichterstattung aufzubauen. Eine einfacher Analyse dazu erstellt das Züricher Uniinstitut Fög. Es zeigt auf, in welchem Verhältnis positiv resp. negativ über eine Vorlage im Abstimmungskampf berichtet wurde. Daraus kann Schlüsse ziehen, denn generell gilt, dass das Mediensystem einen leichten Bias Richtung Behörden aufweist.
Alle diese Vorgehensweisen klassieren wir als Prognosen zweiter Priorität. Denn sie sind brauchbare Proxy.

Prognosen mittels künstlicher Intelligenz
Neuerdings gibt es Prognosen mit künstlicher Intelligenz. Das ist beispielsweise bei Analyse des Bundesbüchleins der Fall. «Stellus.ch» leistet das mittels maschinellem Lernen. Abgestellt wird dabei vor allem auf die verwendeten Begriffe. Abgleitet wird, wie wahrscheinlich ein Ja oder Nein ist. Prozentwerte gibt es hier (leider) nicht, nur (Un)Sicherheiten.
Komplexere Vorgehensweisen stellen auf mehrere Quellen ab. Das leisten die AI Prognosen von Thomas Willi an der Uni Zürich resp. Sebastien Perseguers von der ETH Lausanne. Wie die Verrechnung erfolgt, ist allerdings nicht im Detail bekannt. Zudem ist die Sicherheit unterschiedlich. Perseguers gibt von einem Unsicherheitsbereich von weniger als 1 Prozentpunkt an. Das ist anspruchsvollm bisher aber nicht nachprüfbar. Denn die Prognose wird erstmals erstellt. Derweil beziffert Willi seinen Unsicherheitsbereich mit +/- 20 Prozent. Faktisch heisst das, bei Vorhersagen von 30 bis 70 Prozent ist die Mehrheit nicht gesichert.

Prognostizierte Ausgänge
Was nun sagen die Prognosen für den Abstimmungstag voraus? Beginnen wir mit dem einfachsten.
Demnach wird das Freihandelsabkommen mit Indonesien gemäss allen Indikatoren angenommen, und das Gesetz zur «eID» scheitert ebenso unisono.
Die komplexen Schätzung mittels künstlicher Intelligenz sind sich bei der «eID» einig, dass 57 Prozent Nein der wahrscheinlichste Werte sei. Beim Freihandel divergieren sie stark, nämlich zwischen 56 und 65 Prozent Ja.
Komplizierter sind die Aussagen zur Verhüllungsinitiative. Die Prognose von Perseguers legt ein knappes Nein von 52 Prozent nahe, die von Willi ein recht deutliches Ja mit 58 Prozent.
Die anderen Vorhersagetools sind hier alle im Nein. Das spricht für einen minimalen Vorteil für die Gegnerschaft.


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Umfragen und Wettbörsen als Stimmungsbarometer
Selbstredend kann man auch die Umfragen zu den Stimmabsichten beiziehen. Davon gibt es 3 («gfs.bern» für SRG, «leewas.ch» für Tamedia und «50plus1.ch» für Bluewin). Zwei davon basieren auf mehreren Messungen, sodass man auch Trend ermitteln kann. Das ist nötig, denn die letzten Erhebungen sind am Abstimmungssonntag mehr als zwei Wochen alt. Die Umfrage von 50plus1.ch mit einer Messung lassen wir hier weg, denn sie ist bereits vier Wochen alt.
Einig ist man sich den beiden berücksichtigen Umfrageserien bei den Gesetzesreferenden. “gfs.bern” wie «Leewas» geben ein knappes Ja zur Freihandelsvorlage und ein mehrheitliches Nein zu der «eID». Die Trends sind nicht ganz eindeutig, verstärken aber die Aussage zum Endergebnis eher als dass sie sie relativeren.
Auch hier gibt es bei der Verhüllungsinitiative Unterschiede. Beide Serien sprechen zwar von einem Trend Richtung Nein, aber auf einen anderen hoher Zustimmungsniveau. «Gfs.bern» hatte final ein 49:47 und wertet das als Patt. «Leewas» kommt auf 59:40 und spricht von einer soliden Ja-Mehrheit.
Zur Kategorie der Stimmungsbarometer zähle ich auch die Wettbörse von “50plus1”. Sie basiert auf einem Panel von Börsianern, die auf den vermuteten Abstimmungsausgang wetten. Das Wett-Ergebnis soll dem Abstimmungsergebnis entsprechen. Problematisch sind Wettbörsen, weil sie stark von publizierten Umfrageergebnissen abhängen.
Das Endergebnis stimmt den auch mit der Bilanz bei den Umfragen überein. Angenommen wird ein Ja zum Freihandel, ein Nein zu den «eID» und ein knappes Ergebnis mit einem leichten Nein-Vorteil beim Verhüllungsverbot.

Bilanz
Bilanziert man nun Prognosen, Momentaufnahmen und Trends, starte wie folgt in den Abstimmungssonntag:

• Ja zum Freihandel
• Nein zur eID
• offener Ausgang bei der Verhüllungsinitiative

Ein erster Test ergibt sich aus den diversen Hochrechnungen, die zwischen 1200 und 1230 erscheinen via Twitter, Tagesanzeiger-Online und SRG.

Claude Longchamp