Zuwanderung: Nein zur SVP-Initiative zeichnet sich ab

Am 27. September 2020 stimmen die Stimmberechtigten unter anderem über die Initiative für “eine massvolle Zuwanderung” ab. Ein Nein zum SVP-Begehren zeichnet sich ab.

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Im Jahr 2000 haben die BürgerInnen ein Paket von sieben bilateralen Abkommen (Bilaterale 1) mit 67 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Das ermöglichen der Schweizer Wirtschaft den Zugang zum europäischen Markt. Eines dieser Abkommen ist das Personenfreizügigkeitsabkommen, das es Schweizer Bürgerinnen und Bürgern unter bestimmten Bedingungen erlaubt, in der EU zu leben, zu arbeiten und zu studieren. Für EU-Bürgerinnen und -Bürger gilt das Gleiche in Bezug auf die Schweiz. Wird das FZA gekündigt, so treten automatisch auch die anderen sechs Abkommen ausser Kraft (Guillotine-Klausel).

Die neue Volksinitiative der SVP
Ein Komitee rund um die SVP hat die Begrenzungsinitiative mit 116’139 gültigen Unterschriften eingereicht. Konkret verlangt sie die eigenständige Steuerung der Zuwanderung. Wird die Initiative angenommen, muss der Bundesrat mit der EU innerhalb von 12 Monaten das Ende der Freizügigkeit aushandeln. Gelingt dies nicht, so muss er das FZA innert weiteren 30 Tagen einseitig kündigen. In diesem Fall würden alle sieben Abkommen der Bilateralen 1 ausser Kraft treten. Gemäss Initianten gibt es in der Schweiz Massenzuwanderung, was die Arbeitsplätze und Wohlstand für Einheimische gefährde sowie Infrastruktur und Umwelt im Inland belaste.
Bundesrat und Parlament lehnen die Initiative rundweg ab. Im Nationalrat stimmten 142 VolksvertreterInnen dagegen, 53 dafür; 2 enthielten sich. Im Ständerat überwog die Gegnerschaft mit 37 zu 5 (2) Stimmen. Dabei dominierte das Muster “SVP gegen alle anderen”; die Geschlossenheit der Fraktionen war ausgesprochen hoch.
Die Behörden sehen den bilateralen Weg als Ganzes gefährdet, was die stabilen Beziehungen der Schweiz zu ihrer wichtigsten Partnerin in Frage stelle. Das setze in einer Zeit mit wirtschaftlichen Unsicherheiten Sicherheit aufs Spiel.

«Begrengunzsinitiative» vs.»Kündigungsinitiative»
Die Frühphase des Abstimmungskampfes drehte sich vor allem um die Bezeichnung des Volksbegehrens. Von den Initianten «Begrenzungsinitiative» genannt, bezeichnet sie die Gegnerschaft als «Kündigungsinitiative».
Die Initianten halten Neuverhandlungen bei entsprechendem Einsatz des Bundesrats für möglich, ihre Widersacher für äusserst unwahrscheinlich.
Marketingvertreter sehen den Einfluss der Namensgebung auf die Wahrnehmung und Meinungsbildung als gegeben an, Kommunikationsforscher reagieren skeptisch. Der empirische Nachweis spezifischer Wirkungen sei bisher nicht gelungen. Das hat auch damit zu tun, dass Abstimmungstitel oder -kürzel das Framing nicht exklusiv bestimmen.

Unterschiede zur MEI-Abstimmung
Die Initiative der SVP steht in einer ganzen Reihe EU- und migrationsskeptischer Volksbegehren der Nationalkonservativen in der Schweiz. Die Minarett-, Ausschaffungs- und Masseneinwanderungsinitiativen wurde in den Volksabstimmungen angenommen. Zuletzt scheiterte aber die Durchsetzungsinitiative 2016 deutlich.
Analyse der jetzigen und früherer Initiativen legen 5 Unterschiede nahe:
Erstens habe der Bundesrat seither dazu gelernt; die Federführung liegt bei Bundesrätin Karin Keller-Suter, die sich mit der Ueberbrückungsrente für die Sozialpartner starkt gemacht hat.
Zweitens lässt die neue Volksinitiative kaum mehr Spekulationen zu. Die Kündigungsklausel ist unmissverständlich.
Drittens sind die Einwanderungszahlen deutlich tiefer als auch schon. Der Problemdruck ist entsprechend geringer.
Viertens hat sich die Themenkonjunktur namentlich im Wahljahr 2019 entwickelt. Klima- und Frauenfrage, nicht mehr die Migrationsthematik sind massgeblich.
Fünftens hat die SVP jüngst Wahlen exemplarischer Weise verloren und tut sich schwer, eine Nachfolge für den amtsmüden Parteipräsidenten zu finden.

Arbeitslosenzahlen und EU-Verhalten
Allerdings kann man spekulieren, die Corona-Krise habe die Annahmechancen verändert. Die Grundstimmung in der Schweiz sei nationalistischer worden. argumentierten jüngst verschiedene Leitartikler. Dem kann man gegenüber stellen, dass die Bereitschaft zu wirtschaftlichen Experimenten sicher nicht erhöht hat, wie eine aktualisierte Trendanalyse der Interpharma ergeben hat. Beides dürfte sich gegenseitig aufheben.
Sollten jedoch die Arbeitslosenzahlen bis zur Abstimmung klar über 4 Prozent hinaus wachsen, ist mit vermehrter Unruhe in der Schweizer Oeffentlichkeit zu rechnen. Das könnte unerwartete Entscheidungen eher zulassen. Und es bleibt das Verhalten der EU im Vorfeld der Entscheidung namentlich beim umstrittenen Rahmenabkommen als Unsicherheitsfaktor.

Die Konfliktlinie unter den Kampagne-Akteuren
Zwischenzeitlich die wichigsten Kampagnenakteure Stellung bezogen. Unverändert steht die SVP isoliert im befürwortenden Lage, denn SP, FDP, CVP, GPS, GLP und BDP lehnen die Initiative ab. Auch sind alle Jungparteien auf der gleichen Position wie die Mutterparteien.
Klar auf Seiten der SVP sind einzig der parteilose Ständerat Thomas Minder und die AUNS, während sich die Wirtschaftsverbände, Arbeitgeber und Arbeitnehmer demonstrativ hinter dem Bundesrat versammelt haben.
Anderes als bei den angenommenen Volksinitiativen ist es der SVP bisher nicht gelungen, namhafte Abweichler in den bürgerlichen Reihen für sich zu gewinnen; vielmehr sieht sie sich wegen Bundesrat Guy Parmelin und parteinahen Unternehmern selber mit Widerspruch konfrontiert.

Erste Umfragen
Verschiedene Umfragen verweisen auf eine Zustimmungsabsicht in der Grössenordnung von rund einem Drittel der Teilnahmewilligen. Die Zahl der Unschlüssigen ist mit weniger als einen Zehntel verhältnismässig gering.
Das hat in erster Linie damit zu tun, dass über verwandte Themen mehrfach entschieden wurde und die Meinungsbildung alles andere als bei Null beginnt. Anders als bei früheren Umfragen vor der Abstimmung besteht diesmal keine mehrheitliche Zustimmungsabsicht in der Anfangsphase. Das wiederum spricht dafür, dass das neuerliche Volksbegehren kaum mehr Hoffnungen auf eine breite Mobilisierung der nationalkonservativen Opposition auslöst.
Die Wettprofis von “50plus1” geben der Initiativen bloss 5 Prozent Chancen, angenommen zu werden. Der Trend der Wetten verläuft leicht gegen die Initiative.

Erste Zwischenbilanz
Die Abstimmungschancen der Initiative “für eine massvolle Zuwanderung” stehen schlecht. Ueberraschungen im Abstimmungskampf sind nicht ganz auszuschliessen, ihre Wahrscheinlichkeit ist gegenwärtig aber gering.

Weiterführende Informationen
Amtliche Informationen
Initiativkomitee:
Nein-Komitee:
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