Von der Stabilität zur Unsicherheit. Clive Church analyisiert und interpretiert die zeitgeschichtliche Politik der Schweiz.

Eine aktuelle Buchbesprechung, auch aus Anlass der SVP-Feiern zum 100jährigen Bestehen ihrer Zürcher Kantonalpartei.

Der breiten Oeffentlichkeit dürfte Clive H. Church kein Begriff sein. Für Fachleute in Politik- und Geschichtswissenschaft ist der ehemalige Professor aus Kent (GB) seit vielen Jahren eine unumgängliche Referenz. Seine Bücher zum schweizerischen Regierungssystem, zur Stellung des Landes in der EU und zur Schweizer Geschichte sind mindestens auf Englisch eine unerschöpfliche Quelle für Befunde und Perspektiven.

politicalchance

Nun legt der pensionierte Wissenschafter eine Gesamtdarstellung des letzten Vierteljahrhunderts vor. “Political Chance in Switzerland: From Stability to Unvertainty” heisst sie. Erschienen ist sie Ende letzten Jahre im akademisch ausgerichteten Routledge-Verlag.

Fakten und Perspektiven

Church absolut plausible These ist, dass sich alles mit dem Ende des Sonderfalls, basierend auf Neutralität, politischem Abseitsstehen, aber wirtschaftlichem Internationalismus zu ändern begann. Das Nein von Volk und Ständen zum EWR-Beitritt 1992 war der sichtbare Anlass. Mehr als das Ereignis wirkten sich aber die Trends aus, so die Desindustrialisierung mit einer für die Schweiz ungewohnten Arbeitslosenraten, aber auch das Ende des praktizierten Bankgeheimnisses, dem Granit der Schweizer Stabilität, der zerfiel. Unter Druck geriet die Sozialpartnerschaft, gewachsen sind die sozialen Gegensätze und von vorrangiger Bedeutung wurden die Probleme rund um die Zuwanderung. So prägt heute Unsicherheit das Land, genauso wie das in vielen anderen Ländern rund herum (schon länger) der Fall ist. Noch gelang 2002 der Uno-Beitritt, und die Bilateralen mit der EU fanden 1999 und 2009 mehrfach die nötige Unterstützung. Doch mit der globalen Finanzmarktkrise verschoben sich die globalen Prioritäten. Die EU macht die Fortsetzung der Bilateralen von einem institutionellen Rahmenabkommen abhängig, und die Schweiz blockierte die Bilateralen mit dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative mindestens vorübergehend.
Interessant die Churchs Einschätzung von Stärken und Schwächen der Schweiz. In seiner Optik hat sich die Schweizer Politik mit der neuen Bundesverfassung aus dem Jahre 2000 verbessert, denn sie hat mit dem Verwaltungs- und Strafgericht auf Bundesebene und dem New Public Management in zahlreichen Kantonen das staatliche Handeln gestärkt. Ueberhaupt, die Etablierung der Konferenz der Kantone erneuerte den Föderalismus des Landes. Entwickelt hat sich auch das Parlament, selbst wenn es dem Milizgedanken verhaftet bleibt. Faktisch ist die parlamentarische Arbeit professioneller geworden, und sie hat sich von der Dominanz durch Regierungsvorgaben teilweise gelöst. Verringert worden ist dafür die Bedeutung des vorparlamentarischen Vermittlungsverfahrens, nicht zuletzt durch die Medialisierung der Politik. Nicht wirklich gelungen ist dagegen die Regierungsreform, welche die Führung des Landes angesichts veränderter Umstände hätte ermöglichen sollen.
Zentrale Folge ist nach Church das tripolare Parteiensystem, gespalten durch ökonomische und kulturelle Bruchlinien. Statt der Spaltung in Bürgerliche und Linke gibt es heute drei Lager: eines klar rechts, eines mitte-rechts und eines ebenso links davon. An die Spitze der Schweizer Parteien hat sich SVP gesetzt, namentlich durch die Sammlung und Mobilisierung der nationalkonservativen Wählerschaften. Profil gewonnen die neue SVP namentlich in der Europa- und Migrationspolitik, wo sie sich als Opposition durch herrschenden “classe politique”, wie sie es selber nennt, positionieren konnte. Und so sammelt, bündelt und führt sie den gegenwärtig Populismus in der Schweiz an.
Der hiesige Rechtspopulismus hat nach Church zwei Gründe: Zuerst die Wählerschaft, namentlich jene, die konservativen Werten verpflichtet ist und den Sonderfall gegen die Modernisierung der Schweiz verteidigt, sei dies in Fragen der europäischen Integration oder der behördlichen Liberalisierung der Ausländer- oder Asylpolitik. Sodann die neue SVP selber, der es gelungen ist, die historische Bindung an das bürgerlich-protestantischen Milieu aufzuweichen und sich namentlich für die Schweizer Arbeiterschaft in verschiedensten Branchen zu öffnen. Nötig waren hierfür eine neue Parteiorganisation auf nationaler Ebene, das Charisma von Christoph Blocher, die Medienpräsenz der Partei und eine aggressive Rhetorik, verstärkt durch modernes politisches Marketing.

Meine Würdigung
Clive Church beschreibt den politischen Wandel der Schweiz in der letzten 25 Jahren, oder besser einen relevanten Teil der zeitgenössischen Transformationen. Ausgelöst wurden sie durch die Dialektik von Globalisierung und Nationalismus, aber auch durch politische Institutionen, die gewachsen und verbessert weiter bestehen, auch wenn sie nicht mehr zum politischen Verhalten von Teile der Eliten und der Wählerschaft passen. Dabei stützt sich der Autor wie in all bisherigen seinen Büchern auf ein solides Wissen an Fakten. Verarbeitet hat er die wissenschaftliche Literatur namentlich aus der Politikwissenschaft. Eingeflossen sind zudem die Ergebnisse zahlreicher Interviews mit Exponenten der Schweiz (so auch mit mir).
Einverstanden bin in mit seiner Folgerung zur Dreiteilung des Parteiensystem, ein Thema, das ich in der Wahlanalyse von 1995 erstmals aufgriff. Treffend ist meines Erachtens auch die Beschreibung des Schweizer Populismus, der ohne den Nationalkonservatismus der Wählerschaft keine so tiefgreifende Polarisierung hinterlassen hätte. Richtig ist wohl auch, dass die SVP gleich auf mehreren Gebieten der Führung von Parteien die innovativste Partei der Schweiz ist. Es mag sein, dass die Antithese hierzu zu wenig beleuchtet wird, denn meines Erachtens sind die Kräfte, die der Postmaterialismus der 80er Jahre frei setzte, ebenso Bestandteil der Erneuerung und Polarisierung der Schweizer Politik.
Gelungen ist aus meiner Sicht die Kombination von Politik- und Geschichtswissenschaft. Entstanden ist ein nüchtern gehaltenes Buch, das dem politischen Alltag weniger nahe ist als zahlreiche Analysen von SchweizerInnen, dafür die reale Veränderungen angesichts grosser Datenberge in der gerade In der Politikwissenschaft nicht aus den Augen verliert. Zentral ist dem Autor, dass die Veränderungen der Bruchlinien mehr Optionen zulässt, damit die Unsicherheit jedoch nicht verringert. Und genau diese Unsicherheit ist es, welche den anhaltenden Nährboden für den Populismus abgibt.

Claude Longchamp