Wahlen in den Niederlanden: Geert Wilders hat Sitze hinzuverloren.


Wilders’ PVV «verlor» bei den niederländischen Parlamentswahlen Sitze hinzu. Derweil «gewinnt» Ruttes VVD, die Partei des Ministerpräsidenten Mandate, weg.

Die Ergebnisse
Klar ist nach den niederländischen Wahlen von gestern, dass die sozialdemokratische Arbeiterpartei die eigentliche Verliererin ist. Der Junior-Partner in der Regierung büsste 29 von 38 Parlamentssitzen auf einmal ein. Von den 24,8 Prozent Wählendenanteil, den die Partei bisher hatte, bleiben noch 5,7 Prozent. Ihre Regierungsbeteiligung steht nach dem Kollaps ernsthaft zur Disposition. Etwas besser erging es der rechtsliberalen VVD von Ministerpräsident Mark Rutte. Zwar verlor auch sie 8 der 41 bisherigen Mandate. Doch bildet sie mit 33 Sitzen unverändert die stärkste Parlamentsfraktion.

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Quelle: Wikipedia, Parlamentswahlen in den Niederlanden 2017

Mark Rutte hat 5,3 Prozentpunkte Wähler und Wählerinnen verloren. Mit 21,3 Prozent kann er sich dennoch rühmen zum dritten Mal in Serie die stärkste Partei führen zu können. Sitze gewonnen haben die linken Grünen (+10, neu 14), die linksliberale D66 (+7, neu 19) und die christdemokratische CDA (+6, neu 19). Sie alle haben im Wählendenanteil 4-7 Prozentpunkte zugelegt. Auch Geert Wilders PVV legte zu. Neu hat sie 20 Sitze, 5 mehr als bisher. Neu liegt sie in der Wählerstärke auch an 2. Stelle. Wilders sprach denn auch von einem Sieg, über den er sich freue.

Die politischmedialen Kommentare

Nun ist unübersehbar, dass Wilders angesichts der hochgeschraubten Erwartungen eine krachende Wahlniederlage kassiert hat. Bis Ende 2016 sah es danach aus, als würde seine Partei die Nummer 1. 33 Sitze zeigten die Vorbefragungen im Maximum an. Ende Jahr lag die Partei noch bei den selbst erwarteten 30.
Doch dann kam Jahr der Einbruch. Vordergründig könnte man meinen, Donald Trumps Präsidentschaft in den USA haben ihren langen Schatten bis in die Niederlande geworfen. Wichtiger war wohl, dass alle niederländischen Parteien, so sehr sie sich Wilders Anti-Islam-Rhetorik auch angenähert hatten, wegen seiner hetzerischen Politik eine Koalition mit ihm kategorisch ausgeschlossen hatten. Letztlich wusste jeder Taktiker: Eine Stimme für Wilders ist ein Protest, aber kein Beitrag zur Machtbildung.
Medial war Wilders die Aufmerksamkeit sicher. Je internationaler die Presse war, um so deutlicher stach das ins Auge. Zahlreiche zogen eine Gerade von der Brexit-Abstimmung über die US-Wahl in die Niederlande. Einige verlängerten die Linie gar nach Paris und Berlin. In der Tat, der grassierende Rechtspopulismus ist das Gemeinsame, was die Volksentscheidungen prägte oder prägt und von London bis Berlin für hitzige Diskussionen sorgte resp. sorgt. Denn mit ihm geht es nicht nur um Defizite in der herrschenden Regierungspolitik. Es dreht sich auch vieles um einen Transformation der politischen Systeme von der liberale zu illiberalen Demokratien, die sich in Wahl- und Abstimmungskämpfen mit ihrer neuartigen politischen Kommunikation am deutlichsten zeigt.

Der politologische Kommentar
Pippa Norris, die Harvard-Politologin, setzt in der Nacht den kürzesten und bemerkenswertesten Tweet zu den niederländischen Wahlen ab: «Need to remember that rules matter.» Sie erinnerte daran, dass Wahlrechts-Regeln den Ausgang von Wahlen bestimmen. Nun wählte die Niederlande nach dem Verhältniswahlrecht. Man mag diese System vorwerfen, es habe die Pulverisierung der grossen Volksparteien aus den 80er Jahren begünstigt; neu bestimmen nicht mehr Christ-, Liberal- und Sozialdemokraten die Geschicke des Landes. Vielmehr braucht es unter den voraussichtlich 13 Parlamentsparteien mindestens 4 die zusammenpassen und regieren wollen. Der grosse Vorteil ist jedoch, dass das Proporzwahlrecht die politische Macht bricht. Mehrheitsparteien sind in den Niederlanden ganz fremd. Vielmehr ist der linksliberale Grundkonsens, der lange die Windmühlen des Landes drehte, verstummt, und es regiert (ganz wie in der Schweiz) die Polarisierung zwischen einer liberalkonservativen und einem grünroten Lager. Den Gegensatz bestimmen die Finanz- und die Gesellschaftspolitik. Das Gemeinsame findet sich in der Abwehr der Rechtspopulismus. Neu dürfte die Regierung keine Brücke zwischen den Lagern mehr schlagen, sondern mit den liberalkonservativen Parteien parlamentarische Mehrheiten bilden. Insofern fand ein Rechtsrutsch statt.
In Majorzsystemen wie in den USA zählt demgegenüber der absolute Wille zur Macht. Kombiniert mit einem Zweiparteiensystem führt es dazu, dass sich der Stärkere (gemäss Wahlrecht) vollumfänglich durchsetzt. Das ist die unübersehbare Lehre aus den USA. Aus Paris könnte eine andere kommen. Denn trotz Mehrheitswahlrecht ist das traditionelle Parteiensystem in Frankreich an seiner Grenze angekommen. Die Sozialisten wurden durch die Macht verbraucht, die Konservativen hat sie korrumpiert. Die Hoffnung auf einen Neuanfang geht einmal mehr von der Mitte aus. Auch wenn sie angesichts der rechtspopulistischen Herausforderung zur Rutschpartie werden könnte. Schliesslich gilt in Frankreich, es gewinnt, wer in der Stichwahl für die Medianwählen sinnvolle Angebote macht. Diese wandten sich zuerst Sarkozy, dann Hollande zu und neu dürften sie Macrons Potenzial sein.

Wahlkampf und Wahlrecht wieder unterscheiden lernen
Medienzentrierte Analysen von Wahlen machen einen fundamentalen Fehler. Gefangen von der Phänomenologie moderner Wahlkämpfe mit Personalisierung, Emotionalisierung und Skandalisierung hat sie vielerorts eine unkritische Nähe zum Rechtspopulismus entwickelt. Denn dieser befriedigt alle drei Erwartungen an Wahlkämpfe auf einmal. Am Ende geht es dabei nur noch um Pro oder Kontra den Trumpismus.
Dabei übersieht man gerne, dass in parlamentarischen Demokratien wie den Niederlanden (genauso wie in der Schweiz) das Wahlrecht nicht auf Bündelung der Macht, sondern ihrer Teilung aus ist. Wahlsieger ist nicht, wer den auffälligsten Wahlkampf führt, sondern die wahrscheinlichste Allianz für die Regierungsbildung anbieten und auch garantieren kann. So dürfte die öffentliche Agenda der Niederlande von Wilders bestimmt bleiben, nicht aber die kommende Regierung.
Insofern hat Wilders gestern tatsächlich Sitze hinzuverloren, und Rutte solche weggewonnen.

Claude Longchamp