Polarisierung oder Zentrierung – die grosse Frage des Wahljahres 2015

Bringen die Wahlen 2015 mehr oder weniger Polarisierung der Parteienlandschaft? Und was sind die Folgen für die Regierungsbildung in knapp einem Jahr? Zwei Fragen, die mich zum Jahresende beschäftigen, nicht aus dem Moment heraus, sondern grundsätzlich. Wie es sich für die Politikwissenschaft eigentlich immer gehört.

Giovanni Sartori, der grosse italienische Politikwissenschafter, entwickelte vor knapp 40 Jahren eine weit herum anerkannte Typologie der Parteiensysteme in Demokratien, um die Voraussetzungen stabiler Regierung zu bestimmen. Generell unterschied er zwischen Politlandschaften mit zwei oder mehr Parteien. Letzteres nannte er Pluralismus, den er entlang der weltanschaulichen Distanz der Parteien in einen gemässigten und einen polarisierten Pluralismus unterteilte. Schliesslich nannte er auch den segmentierten Pluralismus, bei dem nicht alle Parteien willens sind, mit anderen eine Regierung einzugehen.

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Die Schweiz klassierte Sartori als gutes Beispiel für den gemässigten Pluralismus. Vier, auf Dauer angelegte, grössere Parteien bildeten bei beschränkten ideologischen Differenzen gemeinsam und dauerhaft eine stabile Regierung. Viele Politikwissenschafter im Aus- und Inland folgten ihm darin.

Die Polarisierung und Zentrierung des gemässigt-pluralistischen Parteiensystems

Mit seinem Buch über das “Politische System der Schweiz” regte Adrian Vatter Ende 2013 an, die Schweiz neu als Fall für den polarisierten Pluralismus zu untersuchen. Weltanschauliche Divergenzen, Wachstum der Pole in der Parteienlandschaft und Zerfall der Zauberformel spätestens 2007 sah er als Haupt-gründe hierfür. Zum angelsächsischen Demokratie-Modell passt die Schweiz zwar unverändert nicht, denn Föderalismus und direkte Demokratie passen nicht dazu. Doch sind die Veränderungen der politischen Landschaft so bedeutsam, dass sich eine Neubeurteilung aufdrängt. Vor allem die Veränderungen im Verhältnis von Regierungs- und Parteiensystem rechtfertigen es für den Politikwissenschafter, von der Schweiz nicht mehr als Muster-, sondern als Normalfall einer Konsensdemokratie zu sprechen.

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Nun wissen wir, dass die Entwicklungen der letzten Jahre nicht linear verlaufen ist. “Abschied von der Polarisierung?”, fragte Politologin Silja Häusermann jüngst. Denn spätestens mit den Wahlen 2011 nahm die Schweiz Abschied vom Polarisierungsmuster. BDP und GLP hiessen die Siegerparteien der neuen Mitte und sie politisierten nicht mehr an den Polen, sorgten vielmehr im Zentrum für neue Allianzen. Die GLP reichte der SVP die Hand, um nach ihrem Ärger bei der Bundesratswahl 2007 in die Bundesregierung zurückzukehren, und die BDP sorgte für die nötige Mehrheit bei der Energiewende.
Studien zum Stimmverhalten der NationalrätInnen legen seit einigen Jahren nahe, wieder von einer Mässigung der Polarisierung auszugehen. Die Grünen waren zwischen 2004 und 2007 als Reaktion auf die Wahl Christoph Blochers besonders weit links, die SVP politisierte nach dessen Abwahl besonders deutlich rechts. Heute stehen die GPS-ParlamentarierInnen wieder etwa dort, wo sie zu Beginn des SVP-Aufstiegs waren, und jene der SVP politisieren in der Mitte wie zu Zeiten, als sie zwei BundesrätInnen hatten. Gemässigt ist der Schweizer Parteienpluralismus damit noch nicht, aber er ist wieder etwas zentrierter als auch schon.
Selbstredend stellt sich die Frage, wohin sich die Schweiz mit den Wahlen 2015 entwickeln wird? Die Bundesratswahlen, aber auch die National- und Ständeratswahlen werden die nötigen Antworten geben. Indikatoren der Entwicklungen sind die Stärke der seit langem erodierenden Parteien der alten Mitte, also FDP.Die Liberalen und CVP, aber auch der neu entstandenen Mitte aus GLP und BDP. Man wird auch darauf achten, ob die Polparteien rechts (SVP) und links (SP, GPS) schrumpfen wie 2011 oder ob es ihnen gelingt, den Trend zu brechen und wieder zu wachsen.
Noch ist es zu früh, hierzu verbindliche Feststellungen zu machen, denn der Wahlkampf befindet sich erst in der Vor-Vor-Phase. Gewichtige kantonale Wahlen stehen an; interessante Volksabstimmungen sind vor der Tür und der Mix aus Themen und Personen, über den im Herbst 2015 auch abgestimmt wird, wirkt noch etwas ungefestigt. Kein wirklich dominanter Trends ist aktuelle auszumachen, wenn man Abstimmungsergebnisse, kantonale Wahlen und nationale Umfragen bilanziert – bis auf den praktisch ungebrochenen Siegeszug der GLP.

Szenarien weiteren Entwicklungen
Am Seminar der Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit, das jeweils anfangs Jahr die RegierungsrätInnen aller Kantone versammelt, werde ich vier Szenarien der Weiterentwicklung unseres Regierungssystems diskutieren:
• den Status Quo mit einem polarisierten Pluralismus und einem Schwer-punkt im Bundesrat der linken Mitte;
• den Status Quo ante polarisiertem Pluralismus und einem Schwerpunkt der rechten Mitte;
• die Rückkehr zum gemässigten Pluralismus und
• den Übergang zum segmentierten Pluralismus.

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Letzteres entspräche einem Systemwechsel, denn die Integration von zwei Polen der politischen Landschaft im Bundesrat würde aufgegeben. Entweder hätte die SVP drei Sitze oder SP und GPS kämen zusammen auf diese Zahl. Je zwei würden an FDP.Die Liberalen und CVP gehen. Der Vorteil: Eine klare Ausrichtung der Regierung, was kohärentere Regierungsentscheidungen in zentralen Dossiers wie der Europa-, aber auch der Finanz-, Wirtschafts-, Sozial-, Umwelt- und Energiepolitik erlauben würde. Der Nachteil: Selbst wenn solche Entscheidungen das Parlament passieren würden, wären sie bei Referenden nicht gesichert. Und der desintegrierte Pol würde zweifelsohne vermehrt von der Volksinitiative Gebrauch machen.

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Die Rückkehr zum gemässigten Pluralismus sähe eine Regierungszusammensetzung wie bis 2003 vor, allenfalls mit einer Vertretung der fusionierten grünen Parteien zulasten der SP. Gestärkt würde auf alle Fälle die Mitte, am besten mit einer Union aus CVP und BDP. Politische Richtungsentscheidungen wären nicht die Stärke in diesem Modell, pragmatische Lösungen zentraler Konflikte schon. Zwar wäre auch hier mit mehr Volksabstimmungen zu rechnen; doch dürfen sie vermehrt im Sinne der gestärkten Mitte mit zentrierten Lösungen ausfallen.

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Der Status Quo ante orientiert sich an der Regierungszusammensetzung zwischen 2004 und 2007. SVP, FDP.Die Liberalen und SP hätten je zwei BundesrätInnen, die CVP eine Vertretung in der Regierung. Der Schwerpunkt läge rechts der Mitte, ohne dass Mitte/Links wirkungsvolle Obstruktion leisten könnte. SP und CVP würden marginalisiert. In Finanz-, Wirtschafts- und Sozialfragen würden im konservativen Sinne geregelt; Energie- und Umweltpolitik kämen ohne Energiewende aus. Schliesslich würde die Europapolitik auf die nationale Kon-trolle der Zuwanderung, auch wenn das nur ohne Bilaterale geht. Achillesferse wäre der nationale Zusammenhalt des Landes, denn insbesondere in den Städten wäre mit abweichenden Präferenzen und vermehrten Konflikten zu rechnen.

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Bleibt der Status Quo mit formell bürgerlicher Mehrheit, die aber angesichts der personellen Zusammensetzung und der parteipolitischen Präferenz nur fallweise funktioniert, fallweise aber auch Mehrheiten von links her zulässt. Kohärenz entsteht so nicht unbedingt, denn die massgeblichen Politiken müssten wie heute Stück für Stück ausgehandelt werden. Bei der Energiewende scheint sich der linke Pol durchzusetzen, in Finanzfragen dominiert der rechte unverändert. Zentrales Streitfeld ist und bleibt die Stellung der Schweiz in einer sich ändernden Welt, insbesondere aber Europa- und die damit zusammenhängende Migrationspolitik. Priorität haben aber die Bilateralen, verbunden mit einer Neuregelung der institutionellen Beziehungen zur EU.

Die Frage des Wahljahres 2015
Wie gesagt, das sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als mögliche Zukünfte. Die realen entstehen kurzfristig durch das Ergebnis der Parlamentswahlen 2015, denn die wird die unmittelbare Zusammensetzung des Bundesrates bestimmen. Mittelfristig entscheidend wird sein, ob die Polarisierung der Parteienlandschaft gebrochen wird und ein handlungs- und entscheidungsfähiges Zentrum entsteht. Diese wird sich nicht an der alten Konkordanzpolitik ausrichten können, denn deren Zeit ist vorbei. Indes, der heutige Zustand wird unvollendet, mehr als Uebergang, denn als etwas Dauerhaftes. Damit stellt sich auch die Systemfrage, nämlich ob unsere Institutionen den Zwang zur Konkordanz wieder stärken, oder der politische Wille, wie er aus Wahlen entsteht, diese verändert.

Claude Longchamp

Eine Hochrechnung ist nicht nur eine Hochrechnung.

An Wahl- und Abtimmungssonntagen gehören Hochrechnungen zum Standard. Warum gfs.bern sie für die SRG erstellt, und was man heute erwarten kann.

Das Forschungsinstitut gfs.bern erstellt seit dem 6. Dezember 1992 die SRG-Hochrechnungen bei eidgenössischen Volksabstimmungen. Eine Team SozialwissenschafterInnen sicher den Datenfluss und erstellt die Analyse. Ich selber übernehme die Kommentierung für Fernsehen und Radio.

Der Grundgedanke ist einfach: Statt auf das nationalen Endergebnis zu warten, bedient man sich eines Endergebnisses in einem Kanton oder in einer Gemeinde. Voraussetzung ist, die Gemeinde oder der Kanton sind für die Schweiz repräsentativ, sie zählen schnell aus, und sie liefern die Resultate zuverlässig in die Zentrale der Forschenden.

Die Idee, das mit einer Gemeinde für die Schweiz zu machen, ist bestechend, aber auch mit Tücken versehen. Solche Gemeinden zu finden, ist nicht schwierig. Ist sie gross, ist sie aber zu langsam, ist sie zu klein, besteht das Risiko von Abweichungen ohne Systematik.

Die SRG-Hochrechnung umgeht diese Problematik, indem sie mit Gemeinden kooperiert, die für ihren Kanton typisch sind. Das hat einen weiteren Vorteil, denn nur so kann das Ständemehr, das Verfassungsänderungen von Belang ist, erfasst werden. Eine weitere Eigenheit des SRG-Hochrechnung besteht darin, nicht immer mit den gleichen Gemeinden zusammen zu arbeiten. Vielmehr werden sie je Vorlageninhalt verschieden ausgewählt.

An diesem Abstimmungssonntag arbeitet gfs.bern mit 276 Gemeinden zusammen. Die Idee ist, dass jeder Kanton je Vorlage durch mindestens 2 Gemeinderesultate abgedeckt wird.

Das Verfahren ist auf Sicherheit angelegt, nicht auf Schnelligkeit. Denn ob man das Resultat einer Abstimmung einen halbe Stunden früher oder später weiss ist nicht entscheidend; massgeblich ist, dass die Hochrechnung stimmt.

Die Resultate können sich sehen lassen. Im Schnitt ist die erste Hochrechnung auf 1 Prozent genau. Weit über 90 Prozent liegen in einem Fehlerbereich von maximal 2 Prozentpunkten.

Mit anderen Worten: Hochrechnungsergebnisse von rund 47-53 Prozent bei Volksmehr lassen sofort einen verlässlichen Rückschluss auf die Mehrheit zu; beim Ständemehr liegt der Fehler bei maximal einem Kanton. Das gilt bei der ersten Hochrechnung; danach werden die Hochrechnungen Schritt für Schritt genauer.

Die SRG-Hochrechnungen haben sich in den letzten Jahren verändert. Entwickelt wurde von gfs.bern auch eine Erstanalyse. Sie basiert auf der Auswertung vorläufiger und definitiver Kantonsergebnisse. Geklärt wird, in welchem Masse zentrale Konfliktlinien wie Sprachgrenzen oder der Stadt/Land-Graben von Belang sind. Geschätzt werden auch Einflüsse aus der Wirtschaftsstruktur eines Kantons und der sozialen Zusammensetzung der BewohnerInnen. Schliesslich kommen politische Analysen dazu: Der Einfluss der Verschuldung oder des Steuerregimes kommen hinzu.

Zu diesem allgemeinen Charakteristiken gesellen sich vorlagenspezifische Analysen. Am 30. November sind das der Ausländeranteil oder die Bevölkerungsdichte für Ecopop, sowie die kantonalen Politiken zur Pauschalbesteuerung für die entsprechende Vorlage.

Der Start der Hochrechnung ist um 10 Uhr, wenn die ersten Abstimmungslokale schliessen. Für 1230 werden Trendergebnisse erwartet, die klären, ob eine Vorlagen abgelehnt oder angenommen wird. Ab 1300 kommt dann die eigentliche Hochrechnung dazu, welche Angaben zur Höhe von Ja und Nein und, wenn nötig zum Ständemehr macht.

Gegenwärtig in Entwicklung begriffen ist die jüngste Neuerung für den Abstimmungssonntag: Die Analyse von Social Media Aktivitäten im Abstimmungskampf und am Abstimmungstag selber.

Claude Longchamp

Ecopop auf keinem online-Kanal in der Mehrheit

Anders als bei früheren Migrationsinitiativen gelang es Ecopop nicht, mit ihrer Kampagne in Online-Kanäle eine früher Vorherrschaft zu erreichen und damit die allgemeine Berichterstattung zur ihrer Vorlage wirksam zu beeinflussen.

Seit 2010 legt das fög bei allen wichtigen Volksabstimmungen einen ausführliche Medienanalyse zur Berichterstattung im Abstimmungskampf vor. Berücksichtig werden dabei die Printmedien. Komplementär hierzu ist die Uebersicht, welche die Firma talkwalker erstellt. Dabei handelt es sich um eine Bestandesaufnahme von online Aktivitäten. Erfasst werden hier alle elektronischen Beiträge, die wie bei den fög-Analysen hinsichtlich Resonanz und Tonalität ausgewertet werden.

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Erstmals publiziert wurden Auszüge aus diesen Ergebnissen heute morgen von der SRG. Sie zeigen zwei klare Befunde, die einen wichtigen Schluss zulassen:

Erstens: Die Resonanz der drei Vorlagen im zurückliegenden Abstimmungskampf war unterschiedlich; 65 Prozent aller erfassten Beiträge beziehen sich auf die Ecopop-Initiative, 20 Prozent auf das Gold-Begehren und 15 Prozent auf die Pauschalbesteuerungsinitiative. Im Vergleich zu den Printmedien die Reihenfolge auf den Plätzen 2 und 3 vertauscht. Mit anderen Worten: Namentlich die Initiative gegen die Pauschalbesteuerung war auf Internet viel weniger als Thema als in den Printmedien. Umgekehrt konzentrierte sich die online-Aufmerksamkeit noch stärker auf Ecopop.
Zweitens: Die Tonalität zur Ecopop-Initiative war sowohl im Print wie auch in Online-Bereich negativ. Denn die Online-Analyse zeigt, dass sämtliche unterscheidbaren Kanäle negativ berichteten. Das gilt am klarsten für elektronische Newspaper und online-news Plattformen, gefolgt von Blogs, Magazinen, Foren, Radio/TV und youtube. Am Schluss dieser Liste sind facebook und twitter. Facebook kannte vergleichsweise am meisten befürwortende Standpunkte, Twitter hatte am meisten neutrale Informationen. Doch auch hier überwiegt die Ablehnung.

In den bisherigen Analysen zu Social Media in Abstimmungskämpfen dominierte die Einschätzung der Gegenöffentlichkeit. Wer in den Printmedien zu kurz kommt und es sich nicht leisten kann, das mit bezahlter Werbung zu kompensieren, weicht auf Online-Publikationen aus. Ohne Zweifel bilden die Kommentarspalten der elektronischen News-Plattformen eine Gegenöffentlichkeit, in der sich die Ecopop-Befürworter direkt darstellen konnten. Allerdings gelang es ihnen diesmal nicht, auch auf facebook eine Vorherrschaft aufzubauen, ebenso wenig auf Twitter. Man kann vermuten, dass die Ecopop-Gegnerschaft gerade hier ihre Präsenz erhöht hat. Damit dürften sie aus der Niederlage bei der Masseneinwanderungsinitiative gelernt haben, denn diese zeichnete sich als Erstes auf facebook ab.

Damit fand, mindestens in Sachen Ecopop, eine Angleichung der Trends in der vielfach fragmentierten Medienlandschaft statt. Selbst wenn diese zunehmend einen hybriden Charakter hat; ohne handfesten Anlass sind die Tendenzen in den verschiedenen Teilöffentlichkeiten sind nicht einfach gegensätzlich.

Claude Longchamp

Mein Einsatzplan für den kommenden Abstimmungssonntag

Was am kommenden Abstimmungssonntag via SRF kommuniziert wird!

Wie immer an Abstimmungssonntagen bin ich mit meinem Team vom gfs.bern am Abstimmungssonntag im Volleinsatz. Wir rechnen alle drei eidg. Vorlagen hoch, analysieren die eintreffenden Ergebnisse aus Kantonen und Gemeinde, extrapolieren sie auf die nationale Ebene und schätzen frühzeitig ab, was wie stark angenommen resp. abgelehnt wird. Zudem unterziehen wir die Resultate einer Erstanalyse zum Konfliktmuster und bringen die Ergebnisse mit der Meinungsbildung in der Bevölkerung, den Massenmedien und den neuen soziale Medien in Verbindung.

Anbei der Fahrplan für den kommenden Sonntag (vorbehältlich kurzfristiger Aenderungen).

Trendrechnungen Volksabstimmungen
12:30 Trend zu allen drei Vorlagen, falls möglich, via TV
12:37 Trend zu allen drei Vorlagen, falls möglich, via Radio

Hochrechnungen Volkabstimmungen
13:00 1. Hochrechnungen zu allen drei Vorlagen, wenn möglich, via TV
13:05 1. Hochrechnungen zu allen drei Vorlagen, wenn möglich, via Radio
13:16 Kleine Analyse Hochrechnungen, via TV
13:30 1. Hochrechnung zu Vorlagen, die noch nicht hochgerechnet wurden, sonst 2. Hochrechnung, via TV
13:35 Kleine Analyse neue Hochrechnungen, via TV
13:45 Kleine Analyse Hochrechnung, via Radio
13:55 Analyse social media
14:00 Analyse Hochrechnungen, via TV
15:00 Hochrechnung Stimmbeteiligung, Analyse Kampagne Ecopop
15:20 Analyse internationale Reaktionen

Erstanalysen
16:00 Erstanalyse Pauschalbesteuerung, via TV
16:20 Erstanalyse Goldinitiative, via TV
16:37 Erstanalyse Ecopop, via TV

Bilanz und Ausblick

18:39 Schlussanalyse Abstimmungs-Sonntag, via TV

Erläuterungen
Trendrechnung: qualitative Aussagen über erwartete Annahme/Ablehnung, wenn Trendergebnis klarer als 45/55 resp. 55/45
Hochrechnung: quantitative Aussagen über erwartete Werte der Zustimmung/Ablehnung beim Volks- und Ständemehr (wenn nötig), max. Fehlermarge +/-3 Prozentpunkte, dann jede halbe Stunde mit verbesserter Fehlermarge (nur wenn sich Mehrheiten ändern)
Erstanalyse: Analyse des Kantonsprofil von Zustimmung und Ablehnung aufgrund von weiteren Kontextmerkmalen

Claude Longchamp

Die andere direkte Demokratie

Der Politblog auf Newsnetz wird 5jährig. Hier mein Blog zum kleinen Jubiläum – grundsätzlich gehalten.

Wer hierzulande von Demokratie spricht, meint vor allem die direkte. Und wer von der direkten Demokratie redet, denkt unweigerlich an Volksrechte: Referendum und Initiative sind die Instrumente, mit denen wir die Politik der Behörden bremsen und anschieben.

Direkte Kommunikation statt vermittelte

Mit dem Aufkommen des Cyberspace hat direkte Demokratie weltweit eine neue Bedeutung erlangt. Gemeint ist das, was die Kommunikationswissenschaft etwas ungelenk «Disintermediation» nennt: den Abbau von Vermittlern durch die Internetkommunikation. Denn mit dem Cyberspace brauchen Sender keine hochtrabenden technischen Kanäle mehr, um ihre Botschaften zu kommunizieren. Sie können es, mit einfachen Instrumenten der Kommunikation, häufig selber tun.

Blogs sind ein Kind der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts. In der Schweiz durchgesetzt haben sie sich während der 00er-Jahre des 21. Jahrhunderts. Ihre Zahl, auch ihre Nutzerinnen und Nutzer sind nicht bekannt. Man spricht von 10 Prozent der Internetnutzer, die mit Blogs senden und empfangen.

Nicht alle, die bloggen, sind damit glücklich geworden. Einzelne sind wegen unverzeihlicher Fehler gescheitert – weit über die Blogosphäre hinaus. Andere können sich rühmen, Debatten über den Fallschirm des bestverdienenden Managers in unserem Land angeschoben zu haben.

Bezogen auf die Politik relativiert das die Bedeutung der Repräsentation, wie sie Parlamente, Parteien und Verbände garantieren. Cyber-Kommunikation verstärkt Demokratie nicht per se, denn die direkte Kommunikation ohne Regeln erhöht die Unübersichtlichkeit und verringert die Sicherheit von Verfahren der Entscheidung.

Blogs und Politik
An diese Seite solcher Risiken sind aber unerwartete Chancen getreten. Bundesräte wurden zu Bloggern. Fachleute erörtern mit ihren Kolleginnen und Kollegen relevante Fragen vor Publikum. Thinktanks propagieren ihre umfangreichen Berichte mit knappen Beiträgen, die zum Weiterlesen reizen. Lobbyisten schaffen Vertrauen, indem sie Transparenz über ihr Treiben herstellen. Das alles ist neu, und ohne Cyberkommunikation wäre es praktisch undenkbar.

die Bandbreite der Stimmen, die dank Blogs öffentlich werden, ist heute pluralistischer denn je. Geöffnet wurde auch das Spektrum der Meinungen. Aus Organisationen werden Leader, Sprecher, die etwas zu sagen haben und es mediengerecht kommunizieren können.

Bei weitem nicht alles Neue ist den Bloggern zu verdanken. An ihre Seite sind Facebook und Twitter getreten, beides Instrumente, die recht einfach zu bedienen und mit beschränktem Aufwand zu betreiben sind. Blogs haben aber den Vorteil, dass man ausführlicher argumentieren kann, denn man ist beispielsweise nicht auf 140 Zeichen beschränkt. Und gerade in der Politik sind Blogs weniger auf das Bildhafte und Emotionale fixiert, wie das bei Facebook häufig der Fall ist.

Man kann es auch so sagen: Blogs sind jener Ort der standortbezogenen Kommunikation mit Argumenten und Fakten geworden, der von den agilen sozialen Medien konkurrenziert, aber auch befruchtet wird.

Blogs und Massenmedien
Das Ganze zusammen hat das Mediensystem verändert. Hybrider, sprich gemischter, ist es geworden, sagen uns die Experten der politischen Kommunikation.

Bezogen auf Massenmedien haben Blogs gleich mehrere Funktionen. Zunächst sind sie Mikro-Vermittler zwischen politischen Akteuren und Massenmedien. Sie bereiten neue Geschichten vor, sie speisen vernachlässigte Sichtweisen ein und sie liefern auch mal Fakten, die unterzugehen drohen. Medien wiederum konsultieren Blogs, wenn sie eine Story brauchen, aber auch, wenn sie seriöse Recherche betreiben. Wer etwas zu sagen und schreiben hat, wird so gefragt (oder ungefragt) zur Referenz bei Medienschaffenden – auch ohne dass man jede Woche miteinander telefonieren muss.

Umstritten geblieben sind Blogs als Instrumente der Medien selber. Anfänglich standen die Blogger dem kritisch gegenüber; man fürchtete um Authentizität. Heute machen die meisten mit, wenn sie Angebote erhalten, via Plattformen der Medienhäuser ein grösseres Publikum ansprechen zu können. Geblieben ist die Skepsis, wenn Journalistinnen und Journalisten ihre Blogs nicht Dritten öffnen, sondern dazu gebrauchen, um ihre Artikel, die sich nicht platzieren konnten, auf diesem Weg zu publizieren.

Der Angelpunkt der Diskussion heute sind die Kommentarspalten zu den Blogs. Ohne Regeln, ohne Moderation können sie zum Tummelfeld der Kritik werden, die polemisch und verletzend agitieren kann. Das schreckt ab, denn mit gelebter Debatte hat das nichts zu tun.

Digitale Populismus als Schwachstelle
Die kritischste Form der Blogs in Onlinemedien ist der digitale Populismus. Gemeint ist, dass als Reaktion auf Blogbeiträge häufig in anonymisierter Form hemmungslose Kritik an Politikern oder Politikerinnen und politischen Institutionen geübt werden kann. Denn so entziehen sich die Autoren ihrerseits der Kritik, der Prüfung von Fakten, der Präsentation von Argumenten, die sie widerlegen, aber auch der Verantwortung für das von ihnen Geschriebene.

Die so veranstaltete direkte Demokratie hat kaum mehr etwas damit zu tun, was wir uns alle wünschen: durch Debatten, Argumente und durch Fakten zu qualifizierten Standpunkten zu kommen – wo es zwar kein gesichertes Wissen gibt, aber Einschätzungen über den Moment hinaus fehlerhaftes Handeln verhindern sollen. Mit oder ohne etablierte Volksrechte, aber dank offener Diskussionen auch via Blogs.

Claude Longchamp

Handbuch der Abstimmungsforschung: Auf 480 Seiten (fast) alles Wissenswerte greifbar gemacht

Wer sich bisher einen Überblick über den Forschungsstand zur direkten Demokratie und Volksabstimmungen in der Schweiz verschaffen wollte, griff zum bewährten “Handbuch der Schweizer Politik” und konsultierte die beiden diesbezüglichen Stichworte. Auf zweimal 25 Seiten wurde man in die Institutionen der direkten Demokratie eingeführt. Aufgezeigt wird deren Wirkung auf System und Politik und Fragen wie das Mass an Unterstützungsleistung für Behörden, deren Rolle im Wahlkampf, der Wirkung auf die Mobilisierung bei Entscheidungen werden geklärt.

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Seit einigen Tagen gibt es hierzu eine Alternative: das “Handbuch der Abstimmungsforschung” von Thoma Milic, Bianca Rousselot und Adrian Vatter. Die drei (teils ehemaligen) Berner PolitikwissenschafterInnen legten jüngst ein neues Werk mit dem Anspruch vor, den neuen Standard zu definieren. Das Neue besteht eindeutig darin, auch über Theorien und Methoden der Abstimmungsforschung zu berichten, genauso wie einige ihrer zentrale Anwendungsfelder vorzustellen.

Interessierte erhalten auf diesem Weg erstmals eine Übersicht über sozialstrukturelle Ansätze der Abstimmungsforschung (meist aus der Soziologie) sowie Herangehensweisen, die sich in der Ökonomie respektive der Sozial- oder Kognitionspsychologie empfohlen haben. Auf der einen Seite werden die konzeptionellen Überlegungen, die meist in den USA entwickelt worden sind, vorgestellt – auf der anderen Seite werden exemplarische Tests im Schweizer Kontext besprochen. Das ist, für Schweizer Verhältnisse, innovativ und ein eindeutiger Mehrwert gegenüber dem bisherigen Stand der Dinge. Weil die Abstimmungsforschung vielleicht das einmaligste zur Schweizer Politik ist, gebührt den AutorInnen nur schon dafür ein grosser Dank.

Klassisch aufgebaut ist dagegen der Teil zu den Daten und Methoden, denn er unterscheidet zwischen meist amtlichen Aggregatsdaten und Individualdaten, die mittels Umfragen generiert wurden. Bei beiden Herangehensweisen mischten sich nach dem Urteil der BuchverfasserInnen Lob und Tadel, denn Fehlschlüsse seien bei Aggregatdatenanalysen nicht auszuschliessen und der Motivforschung mittels Umfragen hafte der Vorbehalt an, Rationalisierungen emotionaler und ambivalenter Entscheidungen zu liefern.

Erinnert wird im Handbuch daran, dass die sozialwissenschaftliche Abstimmungsforschung in der Schweiz erst seit den 70er Jahren systematisch betrieben werde. Vorher galt “vox populi, vox dei” bis weit in Kreise aus Politik und Wissenschaft hinein. Das hat sich mit dem Demokratiewandel der Gegenwart, aber auch mit dem Aufkommen der Politikwissenschaft in der Schweiz gründlich geändert.

Zu den offensichtlichen Stärken des neuen Handbuches gehört, dass erstmals eine Geschichte der (akademischen) Abstimmungsforschung mit den wichtigsten Meilensteinen geboten wird. Ausgesprochen wertvoll ist die Bilanz am Ende des Buches, die Ergebnisse und Erkenntnisse resümiert und einordnet. Berichtet wird dabei von positiven Effekten der Volksrechte auf die Bürgerschaft (Informiertheit, Kompetenz und Vertrauen), Gesellschaft (Sozialkapital, Demokratiezufriedenheit, Stabilität, Integration) und Ökonomie (Wirtschaftskraft, Effizienz öffentlicher Güter). Eine Schwachstelle der direkten Demokratie orten die AutorInnen in der paradoxen Wirkung. Denn anders als erwartet, führe sie nicht zur unorganisierten Bürgerschaft jenseits des Parteienstaates, sondern stärke (namentlich in der Schweiz) vor finanzkräftige Interessengruppen, die Kampagnen professionell betreiben. Keine eindeutigen Antworten liefere die empirische Abstimmungsforschung hingegen bei Fragen zum Status-Quo-Bias, aber auch zur Staatsquote, zur Zentralisierung und zur aussenpolitischen Integration. Denn diese Analysen seien ohne normative Rückgriffe mit Einflüssen auf die Antworten nicht machbar.

480 Seiten hat das Handbuch, vom NZZ Verlag unprätentiös und sauber aufgemacht. Gut 50 Seiten mit rund 750 Titeln umfasst alleine das Literaturverzeichnis. 35 Abbildungen, 25 Tabellen und 6 Infoboxen lockern den gut geschrieben, bisweilen aber etwas ausführlichen Text auf. Vermisst wird allerdings das obligate Sachregister, dass es der Leserschaft erlauben würde, jenseits des Inhaltsverzeichnisses gezielt spezifische Informationen zu orten.

Aus meiner Sicht am wenigstens gelungen ist der Teil zu Medien im Abstimmungskampf. Das beginnt auf der konzeptionellen Ebene, denn die innovativsten Theorien zu Wahlen und Abstimmungen finden sich zu Stichworten wie “Mediengesellschaft” und “Mediendemokratie”. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie sich der offensichtliche Medienwandel hin zu einer hybriden Öffentlichkeit mit klassischer Medienarena und neuen Nebenbühnen auswirkt. Dabei geht es um Stimmungen und Emotionen, meist via Personen und Protesten, die verstärkt oder erzeugt werden, um jenseits der Rationalität Angebote zu schaffen, wie man sich entscheiden solle. Erste Forschungsergebnisse hierzu werden leider ausgeblendet, obwohl der Theorieansatz des Buches ansonsten sozialwissenschaftlich und multidisziplinär ist. Das setzt sich darin fort, dass eigentliche Fallstudien zu Abstimmungskämpfen, die seit einigen Jahren rasch an Bedeutung gewinnen, weitgehend unerwähnt bleiben. Irritierend wirkt in diesem Zusammenhang, dass der umfangreiche Sammelband von Kamps/Scholten, anfangs 2014 erschienen, ganz ausgelassen wird. Meine Vermutung ist, dass das Dynamische in der Meinungsbildung zu Volksentscheidungen wesentlich höher ist, als diese aufgrund von Strukturanalysen erscheint, aber auch Ansätzen der rationalen oder weltanschaulichen Entscheidung vorgestellt wird.

Die besprochenen Anwendungsfälle der Schweizer Abstimmungsforschung kreisen denn auch schwerpunktmässig rund um Fragen des Kompetenz- und Kognitionsniveaus der Stimmberechtigten, um die Bedeutung von Parteien und Behörden bei der Steuerung der Meinungsbildung, die Käuflichkeit von Abstimmungen und um Diskriminierungen bestimmter Minderheiten durch Mehrheiten. Das, was Spezialistinnen und Spezialisten weitgehend kennen, aber bisher verstreut in Fachzeitschriften und Sammelbänden diskutiert wird respektive wurde, kommt hier in geraffter Form zur Sprache. Das Bild, das gezeichnet wird, ist eher optimistisch. Wenn es Konflikt gibt, reicht die Information um sich korrekt zu entscheiden. Wenn Entscheidungen knapp sind, kann das Kampagnengeld auf das Ja oder Nein bestimmend sein, aber nur dann. Wenn die Behörden zentrierte Kompromisse anbieten, setzen sie sich in aller Regel durch. Selbstredend hätte man sich hier mehr gewünscht, mehr Informationen zur Frage zu erhalten, ob es heute eine Initiativflut gibt. Oder eine Bilanz, was die Gründe dafür sein mögen, dass Volksinitiativen in den letzten zehn Jahren offensichtlich mehr Annahmechancen hatten. Mindestens aus meiner Erfahrung sind das die am gegenwärtig häufigsten diskutierten Themen in der politischen Öffentlichkeit.

Trotz solcher Einwände: Thomas Milic, Bianca Rousselot und Adrian Vatter legen mit dem Band 2 der Reihe “Politik und Gesellschaft in der Schweiz” ein neues Werk der Schweizer Politikwissenschaft vor, das sich schnell zum Standardwerk entwickeln dürfte. Das Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern festigt hiermit seinen Ruf, Zentrum der Schweizer Politik- und Abstimmungsforschung in der Schweiz zu sein. Denn nach dem Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen von Wolf Linder und seinen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, das historisch-politologisch vorging, folgt nun eine neue, umfassende Übersicht zur direkten Demokratie und zu Volksabstimmungen in der Schweiz. Forschenden im In- und Ausland, aber auch Studierende, die Formen und Konsequenzen etablierter Bürgerpartizipation untersuchen wollen, ist der Gebrauch des Handbuchs der Abstimmungsforschung dringen zu empfehlen. Ob es das Buch weit darüber hinaus ein Publikum findet, ist unsicher. Denn von der Aufmachung und dem Inhalt ist es akademisch ausgerichtet.

So oder so, das Handbuch Schweizer Politik erführt mit dem neuen Manual ein wertvolle Erweiterung. Zu hoffen ist, dass es nicht nur eine Art Bilanz nach knapp 50 Jahren Abstimmungsforschung in der Schweiz darstellt, sondern auch die Forschung im kommenden halben Jahrhundert anregt, theoretisch fundierte und empirisch gehaltvolle Analysen zum wichtigsten und originellsten Bestandteil des Schweizer Politsystems vorzulegen respektive sich neuen Anwendungsfeldern anzunehmen.

Claude Longchamp

Wahlkampf statt Blindflug – meine Buchbesprechung

Eva Heller, Autorin des Beststellers „Beim nächsten Mann wird alles anders“, war nebenberuflich Kommunikationswissenschaftlerin. Ihre Doktorarbeit, 1985 veröffentlicht, trägt den Titel: “Wie Werbung wirkt: Theorien und Tatsachen”. Entwickelt hat sie damit eine Typologie, wie man Studien zur persuasiven Kommunikation klassieren kann: Zuerst nennt sie die, die auf den Theorien der Theoretiker basieren. Dann folgen die aus der Praxis der Praktiker. Zwei Mischverhältnisse erkannte sie darüber hinaus: Studien von Theoretikern mit Praxis und solche von Praktikern mit Theorien.

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Als ich Mark Balsigers “Wahlkampf statt Blindflug” las, wurde ich unweigerlich an Hellers Buch erinnert. Nicht nur, weil das Thema verwandt ist, vor allem, weil ich mich fragte, wie man das Buch Balsigers in der Hellerschen Typologie charakterisieren könnte.

(…)

Was nun ist das Buch, das Mark Balsiger hier vorlegt? Zuerst, es ist zum Thema der Schweizer Wahlkampf-Kommunikation ziemlich einzigartig. Zu Recht hat es der Stämpfli-Verlag in sein Pro-gramm aufgenommen. Wohltuend wirkt das Lektorat, das sicherlich zum fadengraden Text beigetragen hat. Und gegenüber früheren Handbüchern des Autors wirkt die grafische Erscheinung klar verbessert!

Ohne Zweifel: “Wahlkampf statt Blindflug” ist ein weitestgehend professionell gemachtes Werk, im Lehrbuchformat auf Hoch-glanzpapier. Abwechslungsreich wendet es sich an ein gezieltes Publikum, das im Kern aus Kandidierenden und Kampagnenstäben bestehen dürfte.

Klar ist, dass es im Hellerschen Sinne keine Theorie eines Theoretikers bietet. Dafür hätte es wissenschaftlicher aufgebaut und ge-schrieben werden müssen. Es zeigt aber auch nicht einfach die Praxis eines Praktikers; davon setzt es sich mit einem mittleren Anspruchsniveau wohltuend ab.

“Wahlkampf in der Schweiz”, der Erstling von Mark Balsiger aus dem Jahre 2007, war ein eigentlicher Beitrag zur Wahlkampffor-schung in der Schweiz. Die 26 Erfolgsfaktoren sind unverändert das Beste, was es hierzulande dazu gibt. Heller hätte gesagt, da habe ein theoretisch Interessierter mit den Erfahrungen anderer eine Vorbildstudie verfasst. Von dem hat sich Balsiger heute ent-fernt. Die Hellerschen Tatsachen sind in den Vordergrund gerückt. Am klarsten zeigt sich das, dass er seine sechs Thesen aus dem Startkapitel am Ziel vergessen hat. Eine kritische Würdigung der Vorgaben mindestens aufgrund der gewonnen Einsichten hätte das Werk sicherlich abgerundet. Denn alles, was am Anfang postuliert wurde, wird in diesem Buch nicht eingelöst. So kann man meines Erachtens mit gutem Gewissen bei der Entpolitisierung von Wahlkämpfen im Zeitalter der Repolitisierung genau das Gegenteil vertreten.

Würde Eva Heller noch leben, hätte sie wohl geschrieben: ein Buch eines erfahrenen Praktikers, mit Anspruch auf reflektierte Systematik. Es böte die Basis, weiter gedacht zu werden, um auch für Wahlkämpfe von Parteien unter verschiedensten institu-tionellen und kulturellen Bedingungen dienlich zu werden.

Meine ganze Buchbesprechung hier.

Claude Longchamp

Was für und was gegen eine Annahme der Ecopop-Initiative spricht

Manch einer oder eine erschrak diese Woche, als er oder sie las, 53 Prozent hätten am 15. Oktober 2014 der Ecopop-Vorlage zugestimmt. Dabei war nicht einmal diese Zahl das Sensationelle. Vielmehr wäre es der Trend gewesen: 20 Minuten machte schon im Frühjahr eine Umfrage zur Ecopop-Initiative und diese ergab damals einen Ja-Stimmenanteil von 40 Prozent, während 56 Prozent dagegen waren. Das entspricht einem satten Meinungsumschwung von 13 -14 Prozentpunkten innert sechs Monaten. Extrapoliert auf den Abstimmungstag spricht dies für ein Ja in der Grössenordnung von 55 Prozent und mehr.

Für den Trend hin zu mehr Ja-Stimmen gibt es sogar Gründe: Mit seiner Positionierung in Sachen Ecopop diskutierte das Parlament zugleich auch die Ungültigkeitserklärung eben dieser Initiative – und nur kurz darauf empfahl die zuständige Kommission des Ständerats, die Hürden für die Lancierung eines Volksbegehrens zu erhöhen. Beides rüttelte an der tiefen Überzeugung der SchweizerInnen, dass es ihr Recht sei, über alles zu diskutieren und in sämtliche Entscheide mit einbezogen zu werden. Einen Gefallen getan haben sich die GegnerInnen der Initiative mit diesem doppelten Vorgehen nicht.

Ohne jetzt schon einen Trend aufzuzeigen, ergibt die SRG-Umfrage, die heute publiziert worden ist, ein anderes Bild: 35 Prozent votieren für Ecopop und 58 Prozent dagegen. Dies bei einer Beteiligung von 47 Prozent. Die vertiefende Analyse der Daten zeigt Unterschiede entlang der Parteibindungen, des Regierungsvertrauens, der sozialen Stellung und der Siedlungsart. Am meisten BefürworterInnen hat es an der SVP-Basis, bei Personen, die der Regierung misstrauen, in den unteren Bevölkerungsschichten und auf dem Land.

Allerdings zeigt die SRG-Befragung auch, dass die Parteiwählerschaft von GPS bis FDP.Die Liberalen klar gegen das Anliegen ist. Letzteres ist entscheidend: Denn selbst wenn die SVP-Basis gegen ihre Parteispitze stimmt, hängt ein hoher Zustimmungswert in erster Linie von der FDP.Die Liberalen-Wählerschaft ab. Und für ein vermehrtes Ja zu Ecopop in diesen Kreisen gibt es derzeit weder in Umfragen noch unter Mandatsträgern sichtbare Hinweise.

cluster Die Cluster-Methode zeigt, wie abstimmt würde, falls alleine aufgrund von Argumenten entschieden würde. Bei der parteipolitisch ungebunden Stimmenden ist eine Mehrheit möglich.

Ein beliebtes Argument der Anhänger von Online-Umfragen besagt nun, dass im Internet die Meinungen, anders als am Telefon, ungefiltert zum Ausdruck kommen: Soziale Erwünschtheit, die das direkte Gespräch zwischen Befragten und Befragern prägen könnte, gäbe es online nicht. Das stimmt – solange es sich um ein tabuisiertes Thema handelt. Die Migrationsfrage jedoch, gehört seit längerem nicht dazu. So zählt das Sorgenbarometer beispielsweise, diesen Issue seit Jahren zu den nachgewiesenen Top-Problemen aus Sicht der Bürgerinnen und Bürgern.

Allerdings wäre es ebenso täuschend, alleine auf die Parteiparolen zu schauen, denn die sind unisono im Nein und bisher wich keine einzige Kantonalpartei davon ab. Bekannt ist, dass es – gerade in Migrationsfragen – zu einem Elite/Basis-Konflikt kommt. Denn die Bedeutung gewisser Probleme wird “oben” und “unten” unterschiedlich eingeschätzt. Die massgebliche Frage ist nun: Wie gross ist diese Differenz in der Wahrnehmung.

Meine Auffassung hierzu ist, dass sie nicht fix ist, sondern vielmehr davon abhängt, wie sich die Meinungen unter Eindruck des Abstimmungskampfes bilden. Dazu kennen wir im Zusammenhang mit der Migrationsfrage zwei Referenzen, die zu betrachten es sich lohnt: Zum einen die 18-Prozent-Initiative aus dem Jahr 2000, zum anderen die Initiative gegen die Masseneinwanderung vom 9. Februar.

18prozent

Bei der 18-Prozent-Initiative, der radikalsten in der jüngeren Abstimmungsgeschichte in Sachen Zuwanderung, zeigte die erste SRG-Umfrage 40 Prozent Zustimmungsbereitschaft. Am Abstimmungssonntag waren es dann 36.2 Prozent. Das entspricht dem Normalfall bei einem Volksbegehren, denn aus Unschlüssigen werden in der Regel Gegner der Vorlage und selbst ein Teil der anfänglichen BefürworterInnen stimmt am Ende dagegen. Von einem ausgedehnten Elite/Basis-Konflikt konnte man nicht sprechen.

mei

Anders entwickelten sich die Stimmabsichten bei der Masseneinwanderungsinitiative. Die erste Befragung startete bei 37 Prozent Zustimmung und 55 Prozent Ablehnung. Dann aber kam Dynamik in die Sache, bis schliesslich ein Abstimmungsergebnis von 49,7 zu 50,3 für die Initiative resultierte. Das geschah allerdings nicht ohne einen massiven Mobilisierungsschub zugunsten der BefürworterInnen: Die effektive Stimmbeteiligung lag schlussendlich bei hohen 57 Prozent. Profitiert hatten hiervon eben vor allem die Initiantinnen.

Dieses zweite Szenario ist der Ausnahmefall. Es kommt vor, wenn eine Initiative einen klaren Themenführer hat (SVP), der im Abstimmungskampf klotzen kann und von unerwarteter Seite her Unterstützung findet. Das beginnt heute in den sozialen Medien, insbesondere auf Facebook, und übersetzt sich von da in die Boulevard-Medien respektive in die Sonntagspresse, um so zu einer Art Mainstream zu werden.

Nun ist nicht auszuschliessen, dass dies in den kommenden Wochen noch passieren wird. Momentan findet sich aber wenig Evidenz für eine solche Dynamik. Die Ecopop-Initianten sind keine breit anerkannten thematischen Vorreiter und Anführer in der Zuwanderungsdebatte und die SVP als Partei verweigert der Initiative den Sukkurs. Die Werbung zugunsten der Masseneinwanderungsinitiative dürfte jene bei der Ecopop-Vorlage zudem um mehr als das zehnfache übertreffen. Für ein Szenario wie vor dem 9. Februar spricht einzig, dass die InitiantInnen  auf Facebook und in den Online-Kommentaren den Ton angeben – mit beschränkter Gefolgschaft in den Massenmedien.

Seit vier Jahren machen wir in den SRG-Umfragen einen Test zur Messung von Entscheidungsambivalenz. Statt auf die bekundeten Stimmabsichten schauen wir auf die Systematik der Antworten zu den Argumenten. Diese wird mittels einer Cluster-Analyse ermittelt. Im Fall der Masseneinwanderungsinitiative ergab sie zum selben Zeitpunkt wie jetzt vor der Abstimmung ein 50:50. Bei der Ecopop-Initiative liegt der Wert bei 44:56. Das ist höher als bei der Stimmabsicht, die Mehrheit bleibt jedoch weiterhin im Nein.

Die Abstimmungsforschung kennt für solche Befunde sogar die Gründe. Die Sonntagsfrage spiegelt die Heuristik, also die rasche Annahme, wie man stimmen würde. In den Bewertungen der Argumente dagegen kommt die längerfristige Meinung einer Person zu einem Thema zu Ausdruck. Im aktuellen Fall reflektiert sich darin die Kritik an den herrschenden Zuständen, aber auch die Erfahrungen, die die Schweiz seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative gemacht hat. Das Migrations-Problem besteht, für viele genau gleich wie im Februar dieses Jahres. Das Zeichen dazu jedoch ist, ebenfalls für viele, bereits gesetzt.

Es ist denkbar, dass bei der Ecopop-Initiative hinsichtlich der Dynamik in der Meinungsbildung nicht der Normalfall eines sicheren Neins eintrifft, sondern dass es zum Ausnahmefall kommt – mit einem steigenden Ja-Anteil in der Gegend um die 40 Prozent.

Claude Longchamp

Rückblick auf 20 Jahre Lobbying-Analysen

Seit 20 Jahren unterrichte ich am Verbandsmanagement-Institut der Universität Fribourg “Lobbying”. 5 Thesen, wie sich der Begriff und das Phänomen in der Analyse verändert haben.

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Neues Lehrbuch zum Marketing für Verbände, zu dem auch mein Modul Lobbying gehört

Gestern war ein spezieller Tag. Ich unterrichtete am Verbandsmanagement-Institut der Universität Fribourg. TeilnehmerInnen waren Verbandsspitzen aus der Schweiz, Deutschland und Grossbritannien, die sich in Fragen des Marketings weiterbildeten. Mein Thema war das Lobbying – wie seit 20 Jahren einmal im Jahr.

Das kleine Jubiläum nahm ich zum Anlass, über die Entwicklung des Kurses in den letzten zwei Dezennien nachzudenken. Fünf Thesen sind daraus entstanden.

Erstens, was ist Lobbying? – In den 90er Jahren dominierte die Kurszielsetzung, ein adäquates Verständnis für Lobbying zu entwickeln. Entstanden ist eine Definition, wonach Lobbying die Interessenvertretung gegenüber den Behörden darstellt und zwar durch Nicht-Behörden. Präzisiert wurde diese Definition durch den Gedanken, dass strategisch eingesetzte Information zur Einflussnahme entscheidend sei. Die richtige Information, am richtigen Ort, im richtigen Moment und in richtiger Form ist die vielleicht kürzeste Umschreibung der Lobby-Tätigkeit.

Zweitens, gibt es Rezepte für gutes/gegen schlechtes Lobbying? – Einmal gesetzt, dominierte die Erwartung der KursteilnehmerInnen, best and worst practice kennen zu lernen. Die Marketing-Forschung am VMI hat hierzu einen wesentlichen Beitrag geleistet: Ohne dass es zur Ausbildung einer stand-by-Organisation in einem Verband kommt, misslingt Lobbying häufig. Stand-by meint, dass man bisherige Lobby-Aktivitäten evaluiert, die relevanten Austauschpartner bestimmt und zu ihnen Beziehungen aufbaut sowie ein Monitoring der Entscheidungen erstellt, um rechtzeitig und gezielt handeln zu können. Zur stand-by-Organisation gehört auch, dass die Vorstände von Verbänden Lageanalysen periodisch bewerten und entscheiden, wo operativer Handlungsbedarf besteht.

Drittens, wie hängt Lobbying mit anderen Kommunikationstätigkeiten eines Verbandes zusammen? – Zahlreiche Verbände haben in den letzten Jahren ihre Marketingaktivität erweitert: Sei es, um Mitglieder zu gewinnen, sei es um in der Öffentlichkeit bekannter zu werden oder eben, um an Einfluss zu gewinnen. Verschiedene Verbände sind dabei zu einem systematischen Campaigning übergegangen, mit dem ihre Kommunikation nach Aussen und Innen integrieren. Verhandlungen mit anderen Interessenorganisationen, Medienarbeit und politisches Lobbying rücken deshalb immer näher zusammen, meist als Stabstelle(n) der Direktion.

Viertens; inwiefern determiniert das politischen System die Ausprägung des Lobbyings vor Ort? – Je mehr man das konkrete Lobbying analysiert, umso mehr merkt man, wie Strukturen und Kulturen eines politischen Systems das Lobbying bestimmen. Generell kann man zwischen einem angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Verständnis unterscheiden, das mit den Vorstellungen des Pluralismus respektive des demokratischen Korporatismus zusammenhängt. Im ersten Fall wird Lobbying optimistisch beurteilt, im zweiten skeptisch. Die Schweiz gehört dem zweiten Typ an; Lobbying hat sich dennoch entwickelt und zwar im Sinne einer professionellen Ergänzung der Tätigkeiten im Milizsystem.

Und fünftens, wie reagiert die Öffentlichkeit auf die Ausdehnung des Lobbyings? – Die aktuelle Debatte um Lobbying in der Schweiz ist durch aufkeimende Kontroversen gekennzeichnet: Nicht mehr nur die LobbyistInnen sprechen über Lobbying und auch die wissenschaftliche Analyse reicht nicht mehr, um zu vermitteln, was Lobbying bewirkt. Entstanden ist eine kritische Öffentlichkeit – durch die Politik alimentiert und durch die Massenmedien befördert. Die Kontroversen zum Pro und Kontra nehmen rasch zu. Zu erwarten ist, dass damit nicht nur das Bewusstsein zu dem, was Lobbying ist und macht, wächst – vielmehr ist davon auszugehen, dass die Schweiz dem Beispiel anderer Länder folgen wird und Lobbying institutionalisieren, gleichzeitig aber auch reglementieren wird.

Claude Longchamp

Analysen, Analysen, Analysen

Gestern Abend erschien das SRG-Wahlbarometer des Forschungsinstituts gfs.bern. Entfacht wurde damit auch die Prognose-Diskussion. (M)eine Standortbestimmung.

Das Wort “Analyse” beinhaltet (mindestens) drei Arten von Abklärungen: die Beschreibung, die Erklärung und die Prognose von Sachverhalten, Ereignissen oder Entwicklungen. Alle drei Operationen basieren auf Analysen. Indes, nicht jede Analyse eignet sich für alle drei Operationen gleichermassen.

Umfragen sind unbestrittenermassen Bestandesaufnahmen. Je nach Machart liefern sie auch Erklärungen, oder haben sie prognostischen Wert.
Das gilt auch für das gestern veröffentliche Wahlbarometer: Es benennt den Ist-Zustand beispielsweise bei den Parteistärken. Das ist in beschreibbaren Grenzen machbar. Es versucht zudem, Erklärungen zu geben, warum eine Partei gewählt wird, beispielsweise aufgrund von Themen- und Personenorientierungen oder der Positionierung auf der Links/Rechts-Achse, dem Regierungsvertrauen und den kommunizierten Werthaltungen.
Prognostische Absichten verfolgt das Wahlbarometer dagegen nicht, denn der Weg hierzu ist steinig. Die grössten Brocken können aus dem Weg geräumt werden, wenn man Bestandesaufnahmen identisch gemacht wiederholt, sich daraus ein Trend ergibt, den man dann auf den Abstimmungstag hin extrapoliert. Je mehr Umfragen man hat und je mehr man dem Wahltermin näher rückt, desto eher wird das möglich. Aufgrund einer Umfrage ein Jahr vor den Wahlen macht das keinen Sinn. Und schon gar nicht weit im Voraus-
Hauptgrund: Die Erklärung von Veränderungen in den Wahlabsichten über die Zeit hinweg erfolgt in erster Linie aufgrund des Wahlkampfes, dessen Funktion es ist, Meinungen zu bilden und zu mobilisieren. Solange man aber die zentralen Ereignisse in einem Wahlkampf nicht kennt, kann man beide Wirkungen eines bestimmten Wahlkampfes nicht vorhersagen, maximal mit Szenarien antizipieren.
Die meisten Parteien haben das zwischenzeitlich begriffen. Sie nehmen Wahlbefragungen als Tendenzen, als Orientierungsgrössen, ob der Trend stimmt oder nicht. Klar, gute Umfragewerte zu Parteistärke, Themenkompetenz oder Personenglaubwürdigkeit hat man lieber als schlechte. Entscheidend ist das alles nicht, denn die Reaktionsart ist massgeblich: Man kann sich in Sicherheit fühlen, in Angstzustände verfallen, oder Analysen als Anlass nehmen, etwas inskünftig besser zu machen.

Interessant zu sehen war gestern und heute, wie anders gewisse Massenmedien auf eine Wahlumfrage reagieren: Je zugespitzer die Aussage, umso eher verfällt man in die Prognose-Routine. Am schlimmsten war die Südostschweiz. Auf der Frontseite prangte: “Prognose: SVP verliert die Wahlen 2015.” Dabei konnten wir im Vorfeld der Veröffentlichung noch einiges verbessern: “Wer gewinnt in einem Jahr, wer verliert? Und was heisst das für den Bundesrat?”, waren die meist gestellten Fragen. Einige änderten nach Gesprächen das Thema, und legten, von uns aus zurecht auf die Erklärung, was ist, und warum es ist.

Aus meiner Sicht ist heute nichts anderes angezeigt, wenn man Umfragen liesst. Das heisst indessen nicht, dass es keine Nachfrage nach Prognosen gibt, auf die man eintreten kann. Mitunter zu diesem Zweck habe ich vor einem Jahr an der Uni Bern auf der Masterstufe ein Forschungsseminar zu Wahlprognosen angeboten: zum Versuch, mit oder ohne Umfragedaten, Vorhersagen von Wahlen zu machen. Vom bestehenden Wahlbarometer unterscheiden sie sich in verschiedener Hinsicht: Entweder werden Analysetools aller Art, also auch Wahlbörsen, Prognosemärkte, Expertenpanels und Modellrechnungen systematisch genutzt, um Fehlerquellen, die überall bestehen können, zu vermeiden, oder aber es werden, über die hier genannten Erklärungsgründe hinaus, weitere wie die Einflüsse der Medienberichterstattung, Wahlwerbung, politisches Klima, Wirtschaftslage etc. beigezogen, um Prognosen machen zu können.
Am Ziel sind wir alle nicht. Entscheidend ist aber, dass wir Willens sind dazuzulernen. Am besten im herrschaftsfreien Diskurs mit weiteren Interessierten.

Claude Longchamp