Präsidentschaftswahlen in Frankreich: Ergebnis wird in der Schweiz schneller bekannt sein als in Frankreich

In Frankreich schaut man gebannt auf den 22. April 2012. Punkt 20 Uhr soll das Ergebnis der ersten Runde in den Präsidentschaftswahlen vermeldet werden. Eine Neuigkeit wird es dann insbesondere für die Webcummunities kaum mehr sein.

Die Publikation der Wahlergebnisse ist in Frankreich gesetzlich geregelt. Verstösse französischer Medien dagegen können teuer werden. Doch was in Frankreich ein Muss ist, ist in der Schweiz nicht einmal ein Kann. Denn die juristischen Vorschriften aus Paris binden die Medien insbesondere in Genf nicht.

So kündigte Jean-Jacques Roth, Nachrichtenchef des französischsprachigen Radio- und Fernsehens der SRG, gestern abend an, Ergebnisse zu Wahlausgang zu vermelden, sobald sie greifbar und glaubwürdig seien. Das werde ab zirka 17 30 der Fall sein; auf der Website der Sender werde man die verschiedenen intern verfügbaren Hochrechnung veröffentlichen. Um 19 30 werde die französischsprachige Ausgabe der Tagesschau des Schweizer Fernsehens die vorläufigen Resultate der Fernsehnation bekannt geben.

Viel Spielraum haben seine Sender nicht. Denn auch 20min kündigt, wenigstens in der welschen Ausgabe an, die Informationen zu verbreiten, sobald sie verfügbar sei. Schliesslich habe man, angesichts der grossen Nachfrage 2007, viel in die Kapazitäten investiert.

So wird Frankreich punkt 20 00 erfahren, was es schon wissen kann.
A suivre …

Claude Longchamp

Wenn heute Bundestagswahlen wären …

6 deutsche Umfrageinstitute haben zwischen dem 21.3. und 4.4. 2012 die von ihnen ermittelten WählerInnen-Stärken publiziert. Wahlumfrage.de hat sie sauber dokumentiert – und ich mache hier einen kleinen Kommentar.

Wenn heute Bundestagswahlen wären, wäre die Piratenpartei nicht nur im Parlament; sie wäre mit einem Plus von 6,3 Prozentpunkten auch die eigentliche Wahlsiegerin. Gegenüber 2009 zulegen würden auch die SPD (+4.5%) und die Grünen/B90 (+3.3%). Ein kleines Plus von 1,8 Prozentpunkten gäbe es schliesslich für die CDU.

Eigentliche Verliererin der (unterstellten) Bundeswahl wäre die FDP, die 11,2 Prozentpunkte Wähleranteil verlieren und aus dem Bundestag fliegen würde. Ein beträchtliches Minus von 4.4 Prozentpunkten würde es auch für die Linke absetzen.

Mit anderen Worten: Die jetzige schwarz-gelbe Regierung würde abgelöst; ohne das sich eine eindeutige Alternative aufdrängen würde. Rot-grün würde zwar kräftig zulegen, bliebe aber klar unter der absoluten Mehrheit. Das hat vor allem damit zu tun, dass im 5 bis 6 Parteiensystem nur die grosse Koalition als Bündnis aus zwei Parteien mehrheitsfähig wäre.

Herausgegriffen habe ich hier nicht eine beliebige Umfrage, die morgen schon überholt sein könnte. Vielmehr handelt es sich um die Mittelwerte der Abweichungen aus den sechs jüngsten Wahlbefragungen in Deutschland. Dazu beigetragen haben die führenden Wahlforschungsinstitute Allensbach, GMS, Forschungsgruppe Wahlen, Forsa, Emnid und dimap.

Die Aussagen über Gewinner- und Verliererinnen sind bei allen sechs Umfragen genau gleich; das Ausmass der angegeben Veränderungen variiert – am wenigsten bei der FDP mit maximal 1 Prozentpunkt Streubereich, am meisten bei den Piraten, für die zwischen 3 und 9 Prozentpunkte Zuwachs resultieren. Das hat Konsequenzen auch für die SPD, bei der die verschiedenen Umfragen zwischen 2 und 7 Prozentpunkten Gewinne angeben. Bei den Grünen sind es zwischen 2 und 5.

Das spricht dafür, dass nebst der Hauptverliererin FDP auch die Sicherheit der Entscheidungen bei den ehemaligen WählerInnen von Rot-Grün volatil sind.

Wahlumfrage.de, eine unabhängige Plattform zur angewandten deutschen Wahlforschung, ermittelt im 2-3 Wochenrhythmus solche Mittelwerte. Das lässt auch gesichertere Trendaussagen zu: Demnach verlieren die Grünen seit Anfang Jahr an Wählerstärke. Das galt bis zu Beginn des Monats März 2012 auch für die SPD; seither schwanken die Werte – ohne eindeutigen Trend. Konstant, wenn auch nur leicht zulegen konnte die Linke, derweil der Anstieg der Piraten ein Phänomen der letzten Wochen ist. Oder anders gesagt: Die jetzige Regierung verspricht wegen des Einknickens der FDP wenig für die Zukunft, das bekannte Rot-Grün überzeugte als Alternative aber auch nicht wirklich.

In den Umfragen profitiert bis Ende Februar 2012 die CDU von den aktuellen Umwälzungen; neuerdings leidet auch sie unter Abwanderungen.

Nur bei der FDP ändert sich eigentlich nichts an der fast schon auswegslosen Lage.

Claude Longchamp

Sarkozy oder Hollande?

In knapp 3 Wochen wählt Frankreich den Präsidenten – wenigens “au pre- mier tour”. Dabei wird höchstwahrscheinlich nur bestimmt, wer sich “au deuxième tour” gegenüber stehen werden. Sarkozy vor Hollande im ersten, umgekehrtes im zweiten bilanzieren die Umfragen die Absichten der Wahlberechtigten.

In Frankreich verfügen Medien, Parteien, je selbst der Staat ausgiebtig über Umfragen. In Wahlkampfzeiten erscheinen mehrere die Woche im Fernsehen, in den Magazinen und in den Zeitungen. So ist es üblich geworden, nicht nur zu schauen, welches Institut welche Resultate liefert, sondern alle Resultate in eine Serie zu bringen (selbst wenn sie von der Erhebungsart unterschiedlich sind). Zudem simuliert man schon früh nicht nur, was wäre, wenn heute schon der erste Wahlgang wäre, sondern auch, wer in welcher Konstellation für den zweite welche Chancen hat. Die besten Uebersichten über all diese Informationen bieten die Websites www.sondages-en-france.fr und sondage2012.

Die jüngste der so dokumentierten Umfragen gibt Präsident Nicolas Sarkozy die leicht grösseren Chancen als seinem Herausforderer François Hollande; indes, nur für den ersten, nicht für den zweiten Umgang.

Denn in der ersten Runde spielt viel Taktik mit. KandidatInnen, die sich für den zweiten Wahlgang zurückziehen müssen, taktieren um die Plätze innerhalb der Lager, um sich oder ihre Partei zu empfehlen. So sind, für die Wahlen vom 22. April nicht weniger als 15 BewerberInnen im Spiel.

Die beiden Favoriten für das Endspiel anfangs Mai stehen eigentlich seit Beginn des Wahlkampfes eigentlich fest: Es sind dies Nicolas Sarkozy, der jetzige Präsident, und Françopis Hollande, der Konkurrent aus den Reihen der SP. Drei weitere BewerberInnen sind noch einigermassen dabei: Marine Le Pen vom rechten Front national, François Bayrou für die Zentristen und Jean-Luc Mélenchon für die Linke. Alle anderen 10, die angetreten sind, sind aussichtslose MitbewerberInnen.

Seit den stark medialisierten Vorwahlen, erstmals von der Sozialistischen Partei durchgeführt, um die Kandidatur fürs Elysée zu bestimmen, ist François Hollande der Favorite links der Mitte. Lange zeit führte er mit seinem Programm für einen neues soziales Projekt auch landesweit bei den WählerInnen. Immerhin, Präsident Nicolas Sarkozy, der auf nationale Werte setzt, hat sich mit dem Attentat in Toulouse im rechten Elektorat empfehlen können.

Bezogen auf den ersten Wahlgang liegen Sarkozy und Hollande zwischenzeitlich praktisch gleich auf; aktuell hat der amtierende Präsident einen minimalen Vorsprung, knapp unter der 30 Prozent Grenze. Le Pen und Mélenchon kommen je auf knappe 15 Prozent, wobei beim linken Zusatzbewerber die Kurve nach oben geht, bei der rechten umgekehrt nach unten verweist. Bayrou liegt seit längerem knapp über 10 Prozent. Was den zweiten Wahlgang betrifft, sind die Verhältnisse umgekehrt. Da liegt Herausforderer Hollande unverändert vor dem Präsidenten. Mittet man die Tagesschwankungen ein, kann man aktuell von einem Vorteil für den Sozialisten im Verhältnis von 55 zu 45 ausgehen. Hauptgrund: Den ZentrumswählerInnen ist und bleibt das Taktieren des Präsidenten um die Macht verdächtig.

Sarkozys Handicap ist seine chronische Unpopularität, die er sich schon kurz nach der Wahl eingehandelt hat; keiner der bisherigen Präsidenten kannte während seiner Amtszeit dauerhaft so tiefe Zustimmungswerte wie er. François Hollande wiederum erscheint im Vergleich volksnaher und eher fähig, die Franzosen zu einigen. Sarkozy hat seine Stärke als Staatsmann, und ihm traut man eher zu, unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Auch wenn der Medienwahlkampf stark personalisiert ist, die Franzosen sagen von sich selber, dass die Themen für sie wichtiger sind als die Kandidaten und Parteien. Da liegt denn auch der Schlüssel für die Vorteile von Hollande in der zweiten Runde. Arbeitslosigkeit, soziale Sicherheit und Stärkung der Kaufkraft gehören traditionellerweise zu den von links besetzten Themen, und der SP-Bewerber kann in den prioritären Problemfeldern punkten. Ganz anders Sarkozy, der in Wirtschafts- und Sicherheitsfragen vor seinem Widersacher liegt, damit jedoch nicht die Hauptthemen der WählerInnen besetzt.

Bleibt abzuwarten, wer in den zweihalb Wochen, die noch folgen, besser mobilisiert. Denn es zeichnet sich keine besondere Beteiligung ab. Gut 70 Prozent gegeben im Moment an, an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen zu wollen. Da bleibt noch einiger Spielraum für Veränderungen.

Claude Longchamp

Der Schweiz mangelt es an einer ausgebauten politischen Partizipationskultur

“Politische Kultur und Wahlbeteiligung” war das Thema meiner jüngsten Vorlesung zur Wahlforschung an der Universität Zürich. Ein Plädoyer für mehr Partizipationskultur, gerade zugunsten kommender Generationen.


Quelle: Gabriel/Plasser (Hg.): Deutschland, Oesterreich und die Schweiz im neuen Europa. Bürger und Politik. Studien zur Wahl- und Einstellungsforschung, Baden-Baden 2010, eigene Darstellung

“Musterhafte Einstellung, wie Politik und Staat geführt werden sollen”, ist eine der gängigen Definitionen von politischer Kultur. Relevant ist, was dem politischen Handeln vorausgeht, ohne dass dieses selbst zur politischen Kultur gehört.

Es zählt zu den Eigenheiten des Kulturellen, dass man nur im Vergleich über die eigene Kultur differenziert genug sprechen kann. Denn ohne das tappt man gerne in der Falle der Selbstbilder, ohne die Fremdbilder zu gehen, hält man das Selbstverständliche für unumgänglich, ohne es als Möglichkeit zu durchschauen.

So sind wir in der Schweiz gewohnt, uns als Musterdemokratie zu sehen, was nicht ganz falsch, aber auch nicht einfach richtig ist. Denn die politische Kultur der Schweiz ist, gerade im internationalen Vergleich, stark auf Fragen der Demokratie in Verfassungs- und Gesetzesrevisionen ausgerichtet, die den Staat betreffen, was uns geläufig ist. Dagegen übersehen wir gerne, dass es Bereiche wie die Demokratie in der Wirtschaft gibt, die bei uns fast ganz ausgeblendet werden.

Ein Projekt zur politischen Kultur Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz im Vergleich, an dem ich vor wenigen Jahren mitgewirkt habe, stellt der Schweiz eine durchaus etablierte und gereifte demokratische politische Kultur aus. Sie ist, im oben definierten Sinne entwickelter und, besser ausgebaut als in vielen Nachbarstaaten.

Indes, sie ist mit einem deftigen Mangel behaftet. Denn die politische Involvierung in die Breite bleibt in der Schweiz zurück: Das gilt nicht nur für das Stimmrecht von AusländerIn, beispielsweise auf lokaler Ebene. Die Einschätzung trifft auch nicht einfach, wegen dem Frauen-Stimm- und Wahlrecht, Nein, zur dieser Einschätzung kommt man insbesondere, wenn man sich die Wahlbeteiligungswerte nach Alter ansieht.

Wenn die allgemeine Wahlbeteiligung mit knapp 50 Prozent international tief ist, gilt das ganz besonders für die Teilnahme an nationalen Wahlen in den jüngeren Gesellschaftsgruppen. Werte von drei Viertel Abwesenden sind keine Seltenheit. Typisch dafür, bis jetzt fehlt es an einer gesamtschweizerischen Statistik, die uns sagen würde, wie tief der Wert bei den Parlamentswahlen 2011 gewesen ist.

Was der Schweiz fehlt, ist eine Kultur der politischen Involvierung junger Menschen in die Politik. Klar, es gibt Jugendparteien, die etwas mehr Zulauf haben als auch schon. Sicher, in den Medien findet man Jugendkulte, sei es im Sport, der Unterhaltung oder der Mode. Doch bleibt das alles ohne grosse Wirkung auf die Politik. Selbst der Staatskunde-Unterricht, vielerorts versorgt in Gesellschaftsfächern, befördert die politische Partizipation Jugendlicher kaum.

Vor einem Viertel Jahrhundert galt es, ähnliche Defizite bei der politischen Aktivierung der Frauen in der Schweiz zu machen. Da ist seither einiges in Gang gekommen. Der Wertwandel hat die Aufteilung in Männeröffentlichkeit und Frauenprivatraum fraglich erscheinen lassen. Der Frauenstreik von 1991 hat Ansprüche der Frauen auf gelebte Gleichstellung erhoben. Zahlreiche Programme in Städte und Kantonen, die Zahl politisierender Frauen zu erhöhen, haben einiges in Veränderung gebracht. Diesbezüglich ranigert die Schweiz heute im oberen Mittelfeld moderner Demokratien.

Genau eine solche Kultur fehlt uns aber, wenn es um den politischen Nachwuchs insgesamt geht. Es scheint, als verteidigten die Inhaber der politischen Pfründe diese so heftig, dass sie selbst die Probleme, die dabei entstehen, übersehen.

Dem sollte etwas gegenüber gestellt werden: Als Erstes müssten wir uns bewusster werden, dass die Schweizer Demorkatie hier gefodert ist, und dass es ohne regelmässige Programme in diesem Bereich keine Besserung gibt. Als Zweites bräucht es auch ein klares Signal der jungen Menschen, dass sie in die Politik wollen. Und drittens wäre eine breite Debatte angezeigt, wie etablierte und neuen Vorstellungen politischer Partizipation in Uebereinstimmung gebracht werden können.

Natürlich, man kann auch einfach warten, bis sich die politischen Beteiligung als Gewohnheit einstellt. Erfahrungsgemäss nimmt das ab dem 30. Altersjahr in der Schweiz zu, und erreicht es mit 70 den Höhepunkt. Doch nur darauf zu zählen heisst, Rekrutierungsprobleme in lokalen Behörden, in Parteivorständen und Vereinsgremien, wie sie heute verbreitet vorkommen, als gegeben in die Zukunft zu verlängern. Gerade angesichts der ausgebauten Mitsprachemöglichkeiten darf man solche Defizite nicht einfach übersehen und hinnehmen.

Das kann meines Erachtens nicht die Absicht einer zukunftsträchtigen Demokratie sein, maximal ein Missverständnis, dessen man sich kulturell zu wenig bewusst ist und es deshalb auch nicht aktiv beseitigt.

Claude Longchamp

Die Piratenpartei entert in Berlin – und in Bern?

Sicher, der Aufstieg der Piratenpartei in Berlin gehört zu den Besonderheiten der Wahl von gestern. Fast 9 Prozent aus dem Stand sind viel. Die entscheidende Frage dazu ist: Zeichnet sich ein neuer Trend über Berlin oder gar die deutschen Grenzen hinaus ab?

Piratenpartei-Berlin

2006 gegründet, profitierte die deutsche Piratenpartei anfänglich von Debatten im Internet, welche den freien und sicheren Zugang zu e-Infomationen betrafen. 2008 beteiligte man sich an den Bundestagswahlen, blieb aber unter 2 Prozent Wählendenanteil stehen. Schon damals zeigte sich, was Kollege Gero Neugebauer aus Berlin heute mehrfach sagte: Die Piraten sind ein Grossstadtphänomen. Denn auch 2008 erreichten sind verschiedenen Berliner Stadtbezirken einen Anteil von rund 10 Prozent.

Ausgehend von den Berliner Piraten hat die Partei ihr ursprüngliches Profil verändert. Sie hat verschiedene gesellschaftspolitischen Forderungen in ihr Parteiprogramm übernommen. So das Grundeinkommen für alle, so auch die Gratisfahrten im öffentlichen Nahverkehr. Das hat sie bei linken WählerInnen empfohlen.

Die heute präsentierte Wählerwandungsanalyse bestätigt das. Zur Berliner Piratenpartei gibt es vier Zugänge: Man war bisherige(r) NichtwählerInnen, man stimmte das letzte Mal für die SPD, die Linke oder die Grünen. Andere Wanderungsgewinne sind in Berlin deutlich geringer.

Jörg Schönenborn, der Wahlkommentator von ARD, analysierte die gestrige Wahltagsbefragung auf seinem Blog so, dass die Wahl der Piratenpartei in erster Linie altersabhängig ist. Bei den unter 35jährigen machten sie jede 6. Stimme. Je älter die Wählenden sind, desto kleiner wurde der Anteil Piraten unter ihnen. Uebervertreten sind die Piraten auch bei selbständig Erwerbenden und bei Männern. Selbstredend ist eine hohe Internetaffinität die wichtigste Voraussetzung der Wahl.

Die eigentliche Kernwählerschaft der jungen Partei dürfte sehr klein sein. Denn noch im Juli war sie im Berliner Politbarometer kaum erkennbar, stieg dann aber von Woche zu Woche auf knapp 7 Prozent an, um schliesslich bei 8,9 Prozent zu enden.

Und in der Schweiz? Ja, es gibt sie auch, die Piratenpartei. Sie entstand 2009 in der Stadt Zürich. In Winterthur eroberte sie ihren ersten Sitz in einem Stadtparlament. In Bern, wo sie bei den letzten Grossratswahlen antrat, haperte es indessen. Die neue Partei blieb bei 0.7 Prozent der Stimmen stehen.

Programmatisch entspricht man in der Schweiz eher noch der Ursprungsidee der Piraten, die ihren Anfang in Schweden hatten: Unzensurierter Zugang zu Daten, Informationen und Wissen steht in der Schweiz im Zentrum der Forderungen. Förderung der Bürger- und Menschenrechte ergänzt das ganze zaghaft.

Zu den Problemen der Partei zählt, dass sie nur gering ausgeprägte Parteistrukturen hat. Das unterscheidet sie zwar nicht von neuen Parteien. Es erschwert jedoch eine verbindliche programmatische Diskussion und den gezielten Aufbau des politischen Personals.

In der Schweiz kommt hinzu, dass sich mit den Grünliberalen in den letzten 5 Jahren eine neue Partei in zahlreichen Kantonen am etablieren ist, die ebenfalls von der parteipolitisch wenig gebundenen urbanen Wählerschaft lebt. Für Neuwählende ist sie genau so interessant wie für enttäuschte WählerInnen von SP bis FDP. Das macht jeder weiteren Partei, die von vergleichbaren Potenzialen leben könnte, das Leben schwer.

So wäre es meines Erachtens eine Ueberraschung, wenn die Piraten auch im Bundeshaus entern würden, wie man heute auf dem neu eröffneten “Treffpunkt Bundesplatz” spekuliert hat.

Claude Longchamp

Wer in der Schweiz ist heute die Wirtschaftspartei?

Keine Partei mehr hat das Monopol, die Wirtschaft zu vertreten. Denn unter den zahlreichen Akteuren, die heute für Wirtschaftsinteressen lobbyieren und kommunizieren, herrscht ein harter Wettbewerb.

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Ulrich Bremi, Unternehmer und Nationalrat, FDP-Mitglied

Lange was alles klar. Die FDP war die Wirtschaftspartei. Das Volkswirtschftsministerium war Sache der Freisinnigen. In den grossen Unternehmungen sassen Mitglieder dieser Partei in der Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen. Zahlreiche Gewerbetreibende politisierten für die liberale Sache in den Gemeinderäten. Auch im Verbandswesen gab man sich die Hand. Die Frage, wer in der Schweiz die Wirtschaftspartei sei, beantwortete sich damit von alleine.

Heute ist das alles nicht mehr so: Eine diese Woche veröffentlichte Studie zeigt, dass sie CVP-PolitikerInnen die höchste Affinität zum Grosskapital hat. Die FDP ist noch gut vernetzt, häufig aber nur noch in der zweiten Klasse. Hinzu kommt, dass es zwischenzeitlich in vielen Parteien ausgeprochene Wirtschaftsvertreter hat: Peter Spuhler bei der SVP, Claude Janiak bei der SP und Luc Recordon bei den Grünen, um nur einige Namen zu nennen.

Auch bei den Funktionären der Spitzenverbände tut sich einiges: Manager mit Leistungsausweis, verschiedenartigsten Werthaltung, aber ohne Parteibindungen werden immer häufiger. Das gilt sogar als Vorteil, denn es ebent einem den Weg zu mehreren Parteien. Angesichts internationaler Vernetzungen, voller Agenden und persönlicher Anfeindungen bei zu exponierter Haltung scheint das der Zukunftstyp zu sein.

Aehnliches gibt es bei den Medienschaffenden: Nicht einmal mehr der Chef der wirtschaftsnahe Denkfabrik economiesuisse ist parteipolitisch eindeutig einzuordnen. Er steht zwischen FDP und SVP. Bei der NZZ ist das noch klarer, aber man bemüht sich gerade da, vom Image der Parteienbindung weg zu kommen.

Nur beim Bauern- oder Gewerbeverband ist alles anders. Parteien mit stark ländlichen und kleinstädtischem Elektorat wie die SVP oder die CVP buhlen da um Stimmen, Verbandsmandate und Präsidien, weil sie wirkungsvoll in die mediale Debatte eingebracht werden können.

Man kann die Frage aber auch zuspitzen: Gibt es überhaupt noch einen eindeutigen Wirtschaftsvertreter in der Oeffentlichkeit? Ein Nein liegt auf der Hand: zu zahlreich sind die Konflikte innerhalb der Wirtschaft, die nicht mehr, wie noch zu Ulrich Bremis Zeiten voraus denkt, Divergenzen im Hintergrund regelt, und nach Aussen mit einer Stimme spricht, sondern zahlreiche Lobbyisten und Oeffentlichkeitsarbeiter hat, die ihre Sache kommunizieren.

Das merkt man, wenn man es mit Vertretern der Binnen- und der Aussenwirtschaft zu tun hat. Man wird sich Gewahr, wie jeder Verband, bisweilen jede Firma keine Vision der Schweiz mehr, dafür die eigene Kosten/Nutzen-Rechnung vor Augen hat. In diesem Konzert mischen heute zudem VertreterInnen von Gewerkschaften bis Ich-AGs mit, und reklamieren, ein relevanter Teil der Wirtschaft zu sein. Um die Bedeutung der international tätigen Unternehmungen, die sich schwer tun, mit dem Kleinräumigen in der Schweiz, dem Milizsystem in der lokalen Politik und den Volksabstimmungen, wenn es um Weichenstellungen geht.

So fällt es immer schwerer zu erkennen, ob es noch die Wirtschaftspartei gibt. Die FDP hat ihr Monopol verloren, ohne das eine andere Partei in die wirklich führende Rolle schlüpfen konnte. Die SVP nicht, weil sie weitgehend binnenwirtschaftlich ausgerichtet und mit ihrer vorwiegend verbreiteten Emotionalisierungsstrategie politischer Fragen weit ab von rational-wirtschaftlichen Ueberlegungen ist. Die CVP nicht, weil sie regonal zu viele Teil-Schweizen repräsentiert. Und die rotgrünen Parteien nicht, weil sie zu etatistisch sind, und die ihnen nahestehenden Interessengruppen wie Gewerkschaft, Umweltverbände oder Frauenorganisationen die Wirtschaft regelmässig herausfordern.

Die Wirtschaft, so mein Fazit, spricht heute durch zahlreiche VertreterInnen mit unterschiedlichsten Interessen, politischen Richtungen und Stilen im öffentlichen Auftritt. Spitzenverbände bleiben zentral, ohne Ausschliesslichkeit herstellen zu können. Und die FDP bleibt interessant, auch wenn sich kaum mehr jemand auf sie konzentrieren würde.

Oder noch deutlicher: Um die politische Vertretung der Oekonomie ist eine regelrechter Wettbewerb der Akteure entbrannt.

Wider die grassierenden Rezepte für Parteifusionen

Viel ist dieser Tage von Parteifusionen die Rede. Ich halte wenig davon – genauso wie von unbestimmten Holdingstrukturen für Fraktionen. Wenn man die Regierungsbildung stabilisieren will, sieht das Politsystem-Schweiz nur Fraktionsgemeinschaften vor, die unter der Bundeskuppel mindestens so stark sein müssen, dass sie den Gang der Dinge nachhaltig beeinflussen können.

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Der grosse Moment für Parteifusionen waren die frühen 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Wäre man damals bei den Volksparteien dem deutschen Vorbild gefolgt, wäre aus der KK, der Katholisch-konservativen Partei, und der BGB, der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, ein konfessionsübergreifende konservative Partei wie seinerzeit die CDU entstanden. Doch nahm die Geschichte hierzulande einen anderen Verlauf. Entstanden sind mit der CVP und SVP konfessionell getrennte Volksparteien, die sich seit den Wahlen 1995 in den Haaren liegen, weil die eine in den Stammlanden der andern Erfolge verbucht, während die andere in urbanen Wählermarkt der modernen Parteien nicht anzukommen scheint.

Das Thema der Parteienfusionen jedoch ist geblieben. Meist wird es von Intellektuellen hochgehalten, gelegentlich stossen auch einige Parteispitzen hinzu. Urs Altermatt, der emerierte Freiburger Geschichtsprofessor, und Urs Schwaller, der Freiburger Fraktionschef der CVP, sind gegenwärtig ihre Wortführer: Mal empfiehlt man der CVP einen Zusammenschluss mit der BDP, mal versucht man, aus CVP und FDP eine neue Mittepartei zu formieren. Hintergrund ist die Ambition, dass die CVP den verlorenen zweiten Bundesratssitz zurück erhält: Entweder via Nachfolge von BDP-Bundesrätin Schlumpf, oder dann im Tausch zwischen FDP und CVP, die einen je einen eigenen und gemeinsam einen weiteren imTurnus haben sollten.

Das belebt den medialen Diskurs im Wahljahr jenseits der etwas professoralen Konkordanzdiskussion in der NZZ. Doch riecht es für meinen Geschmack zu sehr nach Machterhalt oder Machterwerb, ohne dass dabei geklärt wird, ob es auch sachpolitisch Sinn stiftet. Denn das ist angesichts der organisatorischen Hindernisse eine unabdingbare Voraussetzung.

In den 90er Jahren gehörte auch ich zu jenen, die über neue Parteinformationen in der Schweiz nachdachten, weil die WählerInnen in Bewegung gerieten. Die damalige Analyse sprach für eine Tripolarisierung der Wählerschaft, die meiner Ansicht nach durch drei starke Parteilager hätte repräsentiert sein müssen: durch einen pro-europäisch-linken Pol, durch einen Pol aus weltoffenen Schweizer ModernistInnen, und durch einen nationakonservativen Pol.

Nach den Wahlen 1995 wäre der Moment zum Handeln gewesen, um eine Basis für einen gesicherten Support zu schaffen, der namentlich in der Europa-Frage über den bilateralen Weg hinaus führen sollte. Die damaligen Diskussionen zeigten mir indes klar, dass die Schweizer Parteien dazu ohne grösste Not nicht in der Lage waren – und es wohl auch heute noch nicht sind. Denn sie werden weder durch die nationalen Parteipräsidien, noch durch die Fraktionen geführt, wie die viele JournalistInnen meinen. Vielmehr werden die relevanten Entscheidungen in den Kantonalparteien getroffen und so auf der nationalen Ebene aggregiert.

Der Föderalismus in den Schweizer Parteien ist zwar historisch begründbar, er lebt heute aber vor allem wegen den Karrierplanungen der kantonalen PolitikerInnen, die RegierungsrätInnen werden oder bleiben wollen weiter, tatkräftig weiter. Die sind für Allianzen von Fall zu Fall zu haben; Parteifusionen stehen sie aber sehr distanziert gegenüber. Die einzige Neuformierung bestehender Parteien seit Mitte der 90er Jahre die SVP, die PolitikerInnen von Kleinparteien unter ihrer eigenen Aegide Platz bot, ansonsten auf WählerInnen-Gewinne, nicht Parteifusionen setzte, um stärker zu werden.

Was heisst das alles in der gegenwärtigen Situation?

Erstens, Parteifusionen nach deutschen Vorbild scheitern in der Schweiz, oder sie bereiten den Fusionierten während Jahren Verdauungsprobleme, was sie nur vorübergehend artihmetisch stärkt, nicht aber politisch.
Zweitens, Sinn machen Fraktionsgemeinschaften auf nationaler Ebene – vielleicht nach französischem Muster. Denn nur sie gewähren in der Schweiz der föderalistsichen Vielfalt von Interessen genügend Spielraum.
Drittens, Holding-Spekulationen fehlt das Element der Stabilität, die für eine Regierungssystem unabdingbar ist. Als thematische Allianzen dürften sie taugen, als machtpolitische Pfeiler im Wettbewerb und Exekutivsitze sind sie kaum von Dauer.

Denn eines darf man nicht vergessen: Voraussetzung für eine neues Regierungssystem sind stabile Parteien, die je für sich elektoral Erfolg haben. Selbst eine Fraktionsgemeinschaft aus FDP, CVP, GLP, BDP und EVP nach den Wahlen 2011 kann nicht mit Sicherheit darauf aufbauen, in der Vereinigten Bundesversammlung eine Merheit zu haben. Das spricht dafür, siich soweit in neuen Fraktionen zu einigen, dass genügend innere Kraft entsteht, mit der man Verbündete in anderen Fraktionen sucht.

Claude Longchamp

Das bestgehütetste Parteiengeheimnis.

Innenpolitisch ist das Geld der Parteien kaum ein Thema. Jetzt erhöht der Europarat den Druck auf die Schweiz in dieser Sache.

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Quelle: L’Hébdo via Wahlkampfblog

Vor 5 Jahren ratifizierte die Schweiz das Anti-Korruptions-Abkommen des Europarates. Zwei Länderexamen hat unser Land seither bestanden. Beim dritten dürfte es jedoch scheitern.
Das jedenfalls berichtet die heutige “NZZamSonntag” unter Berufung auf ExpertInnen des Bundes. Denn seit Februar dieses Jahres überprüft der Europarat nicht die Wirkungen des hochgehaltenen Bankgeheimnisses, sondern … des bestgehüteten Parteiengeheimnisses.

“Wer finanziert die Parteien in der Schweiz? Sind es die Mitglieder? Sind es die Lobbyisten, die im Gegenzug verlangen, dass die Parteien ihre Interessen vertreten? Sind es die Schwerreichen, welche in ihrem Sinn steuern?”, sind drei nachollziehbare Erwägungen, die man zwischenzeitlich auch am Zürcher Falkenplatz macht.
Hilmar Gernet, vormals CVP-Generalsekretär und seit neuestem Buchautor in dieser Sache, versuchte den Schleier des Schweigens mit seiner Doktorarbeit ein wenig zu heben, ohne allzu konkret zu werden. Interna auszuplaudern, sei nicht seine Sache, eine Diskussion zu lancieren schon, fasst er seine Absicht zusammen. Selbst das bekam ihm nicht gut: Vor zwei Wochen wurde er aus dem Luzerner Grossen Rat abgewählt – und danach hing er seine Politkarriere ganz an den Nagel.

Die Schweiz hat als eines der wenigen europäischen Länder kein Parteiengesetz. Da sind internationale Diskussionen, europäische Vereinbarungen und unterschriebene Abkommen umso wichtiger. Das weiss auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die Ende letzten Jahres das federführende Justiz- und Polizeidepartement übernahm. Sie will gar nicht warten, bis die ExpertInnen des Europarates ihren Bericht fertig haben. Noch vor der heissen Phase des diesjährigen Wahlkampfes will sie mit einer eigenen Stellung den Boden für eine schweizerische Regelung vorbereiten.

Um es klar zu sagen: Ich mache mir keine Illusionen, das Parteien kein Geld brauchen würden. Doch gerade deshalb finde ich Transparenz in dieser Sache umso wichtiger. Denn nur das würde zeigen, ob Wahlergebnisse unabhängig vom eingesetzten Geld entstehen. Denn das ist demokratiepolitisch das Entscheidende.

Die Mentalität in der Romandie ist da schon etwas weiter als die übrigen Schweiz. Das Wochenmagazin L’Hébdo publizierte kürzlich ein Dossier über das “Geld der Parteien“; in den deutschsprachigen Massenmedien wurden nicht nur die Ueberlegungen hierzu, nein selbst die grundlegendsten Statistiken totgeschwiegen. Schön, dass es da mit polithink, Wahlkampfblog und zoonpoliticon wenigstens eine kleine Gegenöffentichkeit gibt.

A suivre!

Claude Longchamp

Wahlversprechen dieser und jener Art

Dieser Artikel dürfte “rehcolb”, einer meiner treuen Leser und Kommentatoren, ansprechen: Denn er beschäftigt sich mit einer Untersuchung zu Wahlversprechen und -verhalten unserer NationalrätInnen. Ich hoffe, er regt auch zum Nachdenken an. Denn es ist alles ist komplizierter, als man auf Anhieb denkt.

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Erinnern Sie sich noch an Christian Lüscher, dem FDP-Kandidaten bei den Bundesratswahlen 2009? Die Medien eroberte der liberale Sunnyboy im Sturmlauf: souveräner Auftritt, galantes Aeusseres und gewinnender Humor empfahlen ihn schnell einmal für das höchste Amt im Bundesstaat.

“Weit gefehlt!”, kommt die junge Berner Politikwissenschafterin Lisa Schädel in ihrem Bericht “Ist vor der Wahl auch nach der Wahl?” zum Schluss. Denn sie zählte nach, wer was versprach, und wer wie stimmte. Und bei keinem/keiner anderem/r PolitikerIn unter der Bundeskuppel fand so viel Positions-Inkongruenz wie bei Lüscher.

2003 resp. 2007 wurden die KandidatInnen für den Nationalrat gebeten, vor der Wahl den Fragebogen von smartvote auszufüllen und sich damit in aktuellen Streitfrage zu positionieren. In 34 Fällen stimmten die Gewählten danach über das ab, was gefragt wurde, was den Vergleich vor und nach der Wahl erlaubt.

Ergebnis: 86 Prozent der Entscheidungen stimmen überein!

Allerdings: Bei 14 Prozent der Getesteten gibt es eine vollständige Uebereinstimmung, bei einem Zehntel weichen mindestens 3 von 10 Entscheidungen ab. ParlamentarierInen ist eben nicht ParlamentarierIn!

Hat das mit einem schlechten Charakter einiger PolitikerInnen zu tun? Ausschliessen kann man das nicht. Die Untersuchung verweist auf tieferliegende Ursachen für Positionsinkongruenz:

Erstens: Probleme der Neulinge.
Zweitens: Problem Fraktionsdruck
Drittens: Problem Zentrumsposition.

Wer neu ist, muss sich einarbeiten, was zur Meinungsbildung beträgt und auch andere Einsichten aufkommen lässt. Wer mit seinen Positionen mit der Fraktionsmehrheit übereinstimmt, hat es einfacher. Wer nicht, kommt zunehmend unter Druck. Und wer im Zentrum politisiert, muss sich heute bewegen, um zu gewinnen!

So erstaunt es nicht, dass die SP-ParlamentarierInnen zu 94 Prozent positionskongruent stimmen, die Grünen zu 92 Prozent – beides überdurchschnittlicher Werte. Positiv gemüntzt heisst das, die linken ParlamentarierInnen halten ihre individuellen Wahlversprechen. Negativ ausgedrückt, stimmt das mit der höchsten Verliererrate im Nationalrat überein. Bei der SVP bewegt sich beides im Mittel. Ihren smartvote-Positionen am untreuesten sind die CVP- (74% Uebereinstimmung) und FDP-NationalrätInnen (81%). Dafür kommt es auf sie am meisten an, was im Parlament durchgeht – und was nicht.

Die Ergebnisse sind typisch für den Charakter – nicht der PolitikerInnen, jedoch der heutigen politischen Situation. Ohne Polarisierung repräsentierten die 4 Regierungsparteien mindestens drei Viertel der VolksvertreterInnen. Da mochte es individuelle Abweichungen nicht leiden. Heute ist alles anders: Sammlungen der Regierungspartner ohne SVP oder bürgerliche Schulterschlüsse sind zur Regel geworden, und sie sind auf geschlossene Fraktionen angewiesen. Wer an den Polen politisiert und im entscheidenden Moment ausscheren kann, hat es da einfacher als PolitikerInnen, die mehrheitsfähige Positionen suchen.

Denn auch das ist eine Art Wahlversprechen – selbst wenn es schwieriger ist, das klar zu machen!

Claude Longchamp

Kanton Luzern: Stabilität in Regierung, Einbruch des Zentrums im Parlament

Nun liegen die vorläufig amtlichen Endergebnisse im Kanton Luzern vor: In der Regierung sieht es nach einer parteipolitisch stabilen Zusammensetzung aus, selbst wenn ein zweiter Wahlgang nötig wird; im Grossen Rat legen GLP, SVP und SP zu, derweil CVP und FDP einbrechen.

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7 ihrer 46 Parlamentssitze verliert die CVP gemäss vorläufig amtlichen Ergebnissen. 6 von 29 sind es bei der FDP. Rechts von CVP/FDP legt die SVP 4 Sitze zu, während die BDP im Kanton Luzern leer ausgeht. Links von Zentrum zieht die GLP mit gleich 6 Sitzen ins Parlament ein, und es gewinnen die SP/Juso mit 3 zusätzlichen Mandaten, während die GP unverändert bleibt.

Parteistärken lassen sich in Luzern am Wahltag nur schwer bestimmen, denn selbst die offiziellen Prozentangaben stellen nur auf Sitzanteile ab. Deshalb weiss man nicht, wie stark die BDP bei dieser Wahl war.
Dennoch zeigt die Sitzverteilung eine Unterscheidung zwischen städtischen und ländlichen Wahlkreisen. In den ruralen Wahlkreisen wie Entlebuch und Willisau wählt man konservativ; da liegt die CVP noch knapp vor SVP und FDP, während die Linken kaum Stimmen machen. Im Wahlkreis Luzern hat sich die SP an die Spitze der Parteien gesetzt, und rotgrüne Parteien kommen auf 12 Sitze, nur noch ein Mandat hinter den bürgerlichen Parteien. IN Luzern-Land, Hochdorf und Sursee liegen CVP, SVP und FDP vorne, es legen aber die Parteien mitte/links leicht zu.

Ueber Stadt-Land-Unterschiede hinweg haben Frauen Sitze gut gemacht. 6 PolitikerInnen mehr zählt der neue Grosse Rat. 31 Prozent beträgt der Anteil weiblicher Mitglieder neu. Am höchsten ist er bei der SP, am tiefsten bei der SVP.

Dass die grüne Euphorie nach den Erfolgen in Basellandschaft und Zürich nicht in den Himmel wächst, zeigt das Resultat der Regierungsratswahlen. Adrian Borgula, der Kandidat der Grünen, liegt auf dem 8. und letzten Platz. 7. und vorletzter wird der SVP-Bewerber Urs Dickerhof. Die Rückkehr in die Luzerner Regierung fällt der Partei schwer – selbst wenn man Sitze gewinnt, bleibt man ohne Partner isoliert.
Vorne sind die drei Bisherigen, wobei Guido Graf von der CVP über dem absoluten Mehr liegt. Hinter ihm reihen sich Yvonne Schärli von der SP und der parteilose Marcel Schwerzmann ein. Neu in die Luzerner Kantonsregierung einziehen könnten Robert Küng von der FDP und Reto Wyss von der CVP; letzter liegt nur knapp vor Esther Schönenberger, ebenfalls CVP. Entscheiden wird ein zweiter Wahlgang.

Die Wahlbeteiligung ist so tief wie noch nie bei Luzerner Wahlen. Der vorläufig amtliche Wert liegt bei 43,5 Prozent – nochmals weniger als vor vier Jahren. Der flaue Wahlkampf, indem es vor allem die Regierungszusammensetzung, weniger um das Parteienprofil ging, wird als Hauptgrund angesehen. Anders als in Zürich gab es in der Innerschweiz auch kaum eine medial angeheizte Diskussion über einen Fukushima-Effekte. Sie wäre auch kaum angebracht gewesen. Darüber hinaus kann man sagen: Seit 1991 sinkt die Wahlbeteiligung in Luzern (ausser dem Zwischenhoch 1999), was mit der geringeren Bindungsfähigkeit der politischen Parteien zu tun hat.

Die Bilanz zu Luzern ist einfach: Wie im Kanton Zürich ist die Schwächung des traditionellen Zentrums das eigentiche Charakteristikum der Wahl. Wie in Baselland und Zürich profitiert die GLP davon, anders in den beiden anderen jüngsten Wahlen kann die BDP in Luzern nicht punkten. Das Luzerner Parlament wird polarisierter sein, denn auch SVP und SP legten zu. Damit zeigt sich im Wahlergebnis ein Mix aus Umgruppierung der Mitte und Polarisierung zu Parteien rechts und links.

Claude Longchamp