Eskalations-Monitoring

(zoon politicon) Die Woche war hektisch: Die SVP stelle Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, ein Ultimatium, aus dem Bundesrat zurück- und aus der Partei auszutreten. Das geforderte SVP-Mitglied der Landesregierung gab zurück: Sie bleibe, im Bundesrat und in der Partei, hielt Bundesrätin Widmer kurz und knapp fest. Die SVP widerum liess ihren Zentralvorstand in der Sache entscheiden: 67 Stimmen für das Ultimatum gab es, 5 dagegen und 7 Enthaltungen.

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Ereignisanalyse durch Monitoring – in der Physik schon längst bekannt, zum Beispiel in der Lawinenforschung, in den Sozialwissenschaft erst in den Anfängen, jedoch mit vielversprechenden Anwendungsfeldern


Ereignis, Wende-Ereignis

Das war ohne Zweifel ein Ereignis: eine verdichtete Handlungsabfolge mit einer Konsequenzerwartung. Die Handlungsabfolge ist oben beschrieben. Die Verdichtung ergibt sich aus der Kadenz der Schritte. Und der offen ausgebrochene Zwist begründet die Konsequenzerwartung: Wer setzt sich schliesslich durch? Genau diese Frage ist es auch, die der gegenwärtigen Eskalation jene Aufmerksamkeit bescheret, welche aus dem Ereignis auch ein Wende-Ereignis machen könnte: Jenen Moment, von dem man im Nachhinein wenigstens sagen wird, nichts sei danach mehr gleich gewesen wie vorher.

Story-Fahrplan
Der Sonntagsblick hat heute schon mal das Tableau der Fahrplanes zum Kampf zwischen SVP und EWS erstellt und eine Schätzung zum Ausgang gemacht; mindestens bis zur Delegiertenversammlung vom 5. Juli 2008 scheint die Sache vorgezeichent zu sein. Zuerst bleibt Widmer-Schlumpf hart, und auch die Bündner SVP schliesst sie nicht wie verlangt aus. Das ist das Thema bis Ende Monat. Dann kommt die SVP in Zugzwang: Sie muss die ganze Kantonalpartei wie angekündigt ausschliessen, riskiert eine Rekurs und einen Entscheid der Delegiertenversammlung, der Mehr- aber nicht einheitlich ausfällt. Damit ist klar: Die story dreht sich, und sie wird weiter gedreht. Das verspricht eine fortgesetzte Eskalation mit unsicherem Ausgang.

Arenen, Akteure, Aufpasser
Für Polit- und Kommunikations-BeobachterInnen gibt es nichts Spannenderes als ein solches Live-Experiment zu Machtfragen, politschem Stil und politischer Kultur. Die Massenmedien bilden die zentrale Arena der Auseinandersetzung. Sie können abbilden, aufladen, aufpassen. Auf jeden Fall setzten sie das Geschehen in Szene. Die KontrahentInnen in de Auseinandersetzung, ihre AnhängerInnen und deren Seilschaften sind die Akteure.

Doch wird es nicht bei ihnen bleiben. Bei jedem öffentlich ausgetragenen Konflikt gibt es Trittbrettfahrer, die von der Aufmerksamkeit profitieren wollen, Anheizer, die gerne zuspitzen und Abknaller, die als Parteien oder ähnliches ihren Nutzen aus der SVP-Auseinandersetzung ziehen wollen. Das Volk wiederum ist mindestens ein Teil des Echos, Pro-und-Kontra-DemonstrantInen, vielleicht auch der Schiedsrichter. Auf jeden Fall wird es sich lohnen, die Oeffentliche Meinung und ihre Dynamiken genau zu verfolgen. Das MINK-Schema, das auf diesem Blog schon vorgestellt worden ist, gibt eine erste Orientierungsmöglichkeit.

Lernfeld Blogosphäre
Spannender kann es nicht sein, gerade jetzt eine Kurs zu “Empirische Politikforschung in der Praxis” zu geben. Ein Eskalations-Monitoring wird hier – wie nur selten gehabt – möglich.
Eine Frage interessiert mich ganz besonders: In welchen Masse gelingt es der Blogosphäre, die Meinungsbildung darzustellen und die Entwicklung der Geschichte eigenständig zu vermitteln resp. verständlich zu machen. Es wäre ein Beweis dafür, dass es in diesem Bereich zwischenzeitlich genügend Rollenträger gäbe, die vernetzt eine eigene Oeffentlichkeitsplattform wären.

Claude Longchamp

Popularität von BundesrätInnen

(zoon politicon) Seit vielen Jahren vermisst die Zeitschrift “L’Illustré” unsere BundesrätInnen. Zweimal im Jahr werden die Mitglieder der Landesregierung einen Popularitätstest unterworfen. In den Medien find en die Repräsentativ-Befragungen regelmässig breiten Wiederhall: Zeit, sich die Resultate mal systematisch anzusehen.

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Der Bundesrat und das Volk: Motto auch auf dem offizielle Bild der Schweizer Landesregierung 2008.


Die Befragungsserie

Die aktuelle Befragung wurde Mitte März 2008 durchgeführt. 700 SchweizerInnen in der deutsch- resp. französischsprachigen Schweiz werden berücksichtigt. Leider können sich italienischsprachigen MitbürgerInnen ausdrücken. Immerhin, für die 18 bis 74jährigen SchweizerInnen in den beiden anderen Landesteile ist das Bundesratsbarometer vom MIS Trend in Lausanne ein brauchbarer Stimmungstest, der, über die Zeit konstant gemacht, gerade im Vergleich vertiefte Rückschlüsse zulässt.

Bei allen Zahlen die L’Illustré präsentiert, ist allerdings Vorsicht geboten. Dargestellt werden nur jene Befragten, die eine Bewertung abgeben. Leider erfährt man nur bruchstückhaft, wie viele der Befragten hierzu zählen. Weder das Umfrageinstitut noch die Zeitschrift legen alle Ergebnisse offen. Eine Randnotiz zur jüngsten Ausgabe lässt aufhorchen: Micheline Calmy-Rey scheint als Person und Aussenministerin die bekannteste von allen zu sein. Doris Leuthard wieder scheint als Personen bekannt zu sein, nicht aber als Volkswirtschaftsministerin.


Das Rating im Frühjahr 2008

Die aktuelle Reihenfolge lautet:

1. Doris Leuthard
2. Eveline Widmer-Schlumpf
3. Hans-Rudolf Merz
4. Micheline Calmy-Rey
5. Samuel Schmid
6. Moritz Leuenberger
7. Pascal Couchepin

Das hauptsächliche Interessen an der aktuellen Erhebung, die diese Woche veröffentlicht wurde, betrifft das Ergebnis der neuen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. Sie bringt es auf Anhieb auf den 2. Platz unter den 7 Mitgliedern des Landesregierung. 82 Prozent finden ihre (bisherige) Arbeit sehr oder eher gut, 18 Prozent nur beurteilen sie als eher oder sehr schlecht.

Vor ihr rangiert nur Doris Leuthard. 91 Prozent haben ein positives, 9 Prozent ein negatives Urteil. Damit erreicht sie das zweithöchste Ergebnis aller Zeit. Nur Adolf Ogi kam in seinem Präsidialjahr 2000 auf eine höheren Wert, als er angekündigt hatte, den Bundesrat zu verlassen.

Eveline Widmer-Schlumpfs Startergebnis lässt sich durchaus sehen. Mit 82 Prozent Zustimmung startet sie, auf die wahlberechtigte Bevölkerung bezogen, ausgesprochen gut. Nur Doris Leuthard hatte eine besseren Anfangswert; alle anderen lagen kurz nach ihrer Wahl weiter zurück. Das sollte man nicht vergessen, wenn man die in der SVP umstrittene Politikerin pauschal als “Lügnerin” tituliert. Und nicht übersehen sollte man, dass die Zustimmungswerte zu ihrem Vorgänger, Christoph Blocher in der Regel bei 50 Prozent lagen.

Generell schneiden die drei Frauen im Bundesrat gut ab. Die Zeiten, da man Frauen auf wichtigen Posten in der Politik nichts zutraute, sind längst vorbei. Denn nebst den Spitzenplätzen von Leuthard und Widmer-Schlumpf ist auch Micheline Calmy-Rey recht gut plaziert. Nur ein Mann ist vor ihr, und die drei hinteren Ränge gehen ausschliesslich an ihre männlichen Kollegen im Bundesrat.

Amtsdauer und Popularitätszyklen
Den meisten BundesrätInnen im Amt gelingt sich in den ersten Jahren zu verbessern. Das zeichnet sich bei Hans-Rudolf Merz, 4 Jahre nach seinem Amtantritt am deutlichsten ab. Der Effekt, scheint sich aber auch bei Doris Leuthard, seit knapp zwei Jahren im Bundesrat, abzuzeichnen. Bei Micheline Calmy-Rey, seit 5 Jahren im Amt, scheint ihren Popularitätshöhepunkt überschritten zu haben.

Bei Samuel Schmid, der nach drei Jahren Bundesrat den höchsten Wert verzeichnet, hat der Abstieg eingesetzt; er bleibt aber recht bescheiden. Genau gleiches gilt letztlich auch für Motiz Leuenberger. Spektakulärer war die Talfahrt von Pascal Couchepin, die 2003 mit dem Wechsel des Departementes einsetzte und bis 2006 dauerte; bisweilen beurteilten noch 20 Prozent seine Arbeit als Bundesrat vorteilhaft. Zwischenzeitlich erlebt er eine eigentliche Rückkehr, selbst wenn er damit das Schlusslicht nicht hat abgeben können.

Generell wird man festhalten können: Die BundesrätInnen starten, bezogen auf ihre Popularität unterschiedlich gut. Im 2.-4. Jahr ihrer Amtstätigkeit legen sie in der Regel zu; danach nehmen die negativen Werte zu. Das Amt als Bundesrat nagt an den Zustimmungswerten. Hat der Abstieg eingesetzt, ist die Rückkehr an die Spitze fast ausgeschlossen!

Claude Longchamp

Regiert Geld den politikwissenschaftlichen Geist?

(zoon politicon) Jüngst habe ich am IDHEAP in Lausanne über politische Kampagnen referiert. Und bin ich dabei auf ein wenig reflektiertes Phänomen gestossen.

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Der Olympische Geist verkommt mehr und mehr zum Geldgeschäft; verkommt jetzt auch der politikwissenschaftliche Geist zu zur unreflektierten Uebernahme von Marktkategorien in die Politikanalyse?

Das Phänomen
Nicht zum ersten Mal ist mir bei diesem oder einem mit ihm verwandten Thema aufgefallen, dass es dabei im studentischen Publikum nicht nur eine offizielle, sondern auch eine inoffizielle Leseweise gibt: Letztere lautet vereinfacht: Geld bestimmt Kampagnen, und Kampagne bestimmen die Politik. Also bestimmt Geld die Politik!

Ich muss da immer gleich nachfragen: Haben nicht die Grünen bei den jüngsten Parlamentswahlen in der Schweiz klar zugelegt, mit der Klimapolitik ein neues Thema gesetzt und den Anspruch angemeldet zu haben, nach den zahlreichen Erfolgen in den Städte, Kantonen und auch im Bund Teil der Regierungsparteien zu werden? Und wares es nicht sie, die – mangels Geld – auf eine nationale Kampagne “im gekauften Raum” verzichtet haben? – Ist nicht die Annahme der Verwahrungsinitiative in der Volksabstimmung gegen den fast einhelligen Willen von Regierung und Parlament – und ohne eigentlichen Abstimmungskampf – ein deutlicher Gegenbeleg dafür, dass man auch ohne Geld politische Mehrheiten für sich gewinnen kann?

Zu den Forschungsergebnissen
Die Wahl- und Abstimmungsforschung weltweit und auch in der Schweiz hat sich des Zusammenhangs angenommen. In den USA lassen sich positive Korrelationen nachweisen zwischen dem finanziellen Mitteleinsatz einerseits, und dem Wahlerfolg andererseits. Doch da hat das System: Die Geldbeschaffung ist eine Teil der Kampagnen. Sie ist ein Teil der vorherrschenden Kultur, auch in der Politik, die sich am rationalen Marktverhalten der Anbieter und Nachfrager ausrichtet. In der Schweiz sind die Belege für die Käuflichkeit von Wahlen und Abstimmungen deutlicher geringer. Unverändert gilt das sibyllinische Bonmont des Berner Politologen Wolf Linder: “Dass Wahlen und Abstimmungen in Schweiz käuflich seien, ist bisher nicht bewiesen worden, – allerdings ist auch das Gegenteil nicht bewiesen worden.”

Zur Analyse
Ich habe eine andere These, für die hidden agenda in der Wissenschaft, wenn es um den Einfluss von Geld in der Politik geht: Die Ansätze der politischen Oekonomie, die ein rationales Verhalten von Akteure annehmen, das sich auf materielle, sprich finanzielle Interessen reduzieren lasse, sind auch in der Politikwissenschaft zu vorherrschenden Deutungsmacht aufgesteigen. Der Vorgang verläuft mittlerweile kritiklos. Dabei übersieht man die Konsequenzen, die sich aus der Uebertragung von Vorstellungen ergeben, die für das Marktverhalten, das durch Angebot und Nachfrage resp. durch Geld als Kommunikationsmittel gesteuert wird, typisch sind.

Sozialphilosophisch inspirierte Theoretiker der europäischen Gegenwart – und zwar Jürgen Habermas bis Niklas Luhmann – haben letztlich immer darauf bestanden, Politik und Wirtschaft, als Teilsysteme wie auch als Lebenswelten, in eigenen Termini zu denken und zu untersuchen. Denn sie folgen unterschiedlichen Logiken, die aus der Geschichte der Demokratie, auch auch aus der Differenzierung von Funktionen hergeleitet werden können.

Mein Wunsch
Das würde dafür sprechen, bewusster mit Analysekategorien umzugehen. Geld ist das unbestrittene Steuerungsmittel der Wirtschaft, Macht jenes der Politik. Das sollte man auch in der Politikwissenschaft noch unreflektiert aufgeben, werde in den sichtbar-offiziellen, wie auch in den versteckt-inoffiziellen Deutungen!

Claude Longchamp

Unterstellte Auswirkungen von Umfragen auf Wahlen und Abstimmung nicht belegt

(zoon politicon) Für PolitikerInnen scheint bisweilen alles schnell klar: Umfragen, vor politischen Entscheidungen veröffentlicht, beeinflussen das Ergebnis. Sie können deshalb gezielt eingesetzt werden, um das Resultat der Entscheidung zu manipulieren.

Es ist Aufgabe der empirischen Sozialwissenschaften, Annahmen zur sozialen Realität, die auf dem common sense basieren, zu überprüfen. Dabei gehen sie wie immer in solchen Situationen nach der Logik der Forschung vor, die von Subjekt unabhängige, eben: intersubjektive gütlige Ergebnisse lieferen sollen.

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Alexander Gallus, Demoskopieforscher, kommt zu einem ernüchternden Schluss für PolitikerInnen, die sich gerne als KritikerInnen aufspielen


Eine nützliche Uebersicht zum Forschungsstand

Eine Zusammenstellung der diesbezüglichen Forschungsresultate hat jüngst Alexander Gallus, Politikwissenschafter und Professor an der Universität Rostok, der sich auf Demoskopiewirkungen spezialisiert hat, geliefert und sie auf der website der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht.

Zunächst unterscheidet Gallus mögliche Beeinflussungsfelder; namentlich sind das die Beteiligung und die Entscheidung selber. Dann sichtet er Hypothesen, die hierzu entwickelt wurden. Speziell erwähnt er bei den Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung:

. Mobilisierungs-Effekte: Demnach förderten Umfragen, speziell bei unsicherem Ausgang, die Beteiligung an der Entscheidung.
. Defätismus-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Mobilisierung der veraussichtlichen Verlierer.
. Lethargie-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Beteiligung der angenommenen Gewinner.
. Bequemlichkeits-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Beteiligung von Unschlüssigen.

Bezogen auf die Auswirkungen auf die Entscheidfindung selber unterscheidet der Autor zwei Effekte:

. Bandwagon-Effekt: Demnach kommt es zu einem Meinungwandel zugunsten des voraussichtlichen Gewinners.
. Underdog-Effekt: Demnach kommt es zu einem Meinungwandel zugunsten des voraussichtlichen Verlierers.

Erstaunliche Bilanz des Forschungsstandes
Die Arbeitshypothesen sind plausibel; sie lassen sich mit den Theorien des rationalen Wählens resp. mit Identifikationstheorien auch begründen. Doch, und das ist nach Ansicht von Gallus massgeblich, hat die Forschung keine stichhaltigen Beweise für für die Trifftigkeit der Hypothesen liefern können. “Handfeste Belege für die Richtigkeit dieser Vermutungen konnten bislang freilich nicht erbracht werden.” Das gelte, so der Autor, sowohl für die Beteiligung wie auch für die Entscheidungen selber.

Mein Schlussfolgerung
Das lässt aufhorchen; – und trifft sich mit meiner Erfahrung im Umgang mit diesere Frage: Höchstwahrscheinlich gilt, dass die Erwartungen, was geschieht, beeinflusst wird. Ob das allerdings die individuellen Entscheidungen beeinflusst, ist mehr als strittig; es ist schlicht nicht belegt.

Der veröffentlichten Demoskopie vor Wahlen und Abstimmungen ein eindeutig erkennbares Mass und eine klar bestimmbare Richtung zu unterstellen, ist unlauter. Wenn PolitikerInnen da mehr rasche Gewissheit entwicklen als die teilweise aufwendige Forschung hierzu, hat dies in erster Linie mit ihren Interessen bei Wahlen und Abstimmungen zu tun, indessen wenig mit rationaler Beweisführung!

Claude Longchamp

Ueber die akademische Hintertreppe auf die wissenschaftliche Dachterrasse

(zoon politicon) Ueber dieses Buch eine Rezension zu schreiben, ist fast schon ein Ding der Unmöglichkeit. Denn es enthält selber einen geistreichen Artikel über Rezensionen. Der ist schon fast ein Lehrbuch im Dreispringen; auf Buchbesprechungen gemüntzt, geht es um die Fragen: Was steht drin? – Was ist neu? Was gibt es auszusetzten?

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Die neue Form der Leichtathletik sei nicht ohne, wird festgehalten: “Denn das meiste, was Wissenschafterler über Bücher sagen, haben sie nicht durch ausführliche Lektüre, sondern durch eine Querschnitt der Besprechungen herausgefunden.” Zudem wird die Krise der Rezension in Zeitschriften beklagt. Sie werde heute von der online-Besprechung abgelöst, die schneller erscheint, einfacher mit Bestellmöglichkeiten verbunden werden könne und höhere Reichweiten erziele. Buchverlage seien dabei, ihre anfängliche Zurückhaltung aufzugeben, bedienten Redaktionen von e-Portalen genauso wie die Zeitschrift einer Universität.

Doch das ist nur einer der 177 Kurzbeiträge, die Clause Leggewie und Elke Mühlleitner als KulturwissenschaftlerInnen über das wissenschaftlichen Kommunizieren der Gegenwart geschrieben und zum Buch unter dem Titel “Die akademische Hintertreppe” vereinigt haben. Besprochen werden die Eigenheiten von Tagungen und Vorlesungen, von Zettelkästen und Fussnoten, vom Vorsingen und Klatsch. Und weil sich alles ein wenig skurril entwickelt, lebt das Buch durchs Band weg von der Selbstironie, die das Lesen zum Genuss macht. Wer die Wissenschaft von Innen her erlebt, oder wer sie von Aussen her verstehen will, dem sei dringend empfohlen, dieses kleine Lexikon des gelehrten Kommunizierens von A (wie Abstract) bis Z (wie Zunft) zu lesen. Ich garantiere: Ein jeder der Artikel in diesem Buch trifft und erhellt.

Mehr noch: Das Buch bildet seine LeserInnen, denn es stellt sich wichtige Fragen, zum Beispiel, ob die moderne Wissenschaft, im Gutenberg-Zeitalter mit dem Buch und der Bibliothek entstanden, heute nicht einem fundamentalen Wandel unterliege. Die Mensch-zu-Mensch-Kommunikation in der Wissenschaft, die durch die Verbindung des Wissenschafters mit dem Buch abgelöst worden sei, tendiere heute zur Anschlussfähigkeit des Forschers an die weltweiten Computer-Netze, die zum einen visueller und performativer seien, zum anderen mehr Kooperation erlaubten und erforderten.

Na, denn, wohl auf, zum Sturm auf die wissenschaftliche Dachterrasse!

Claude Longchamp

Claus Leggewie, Elke Mühlleitner: Die akademische Hintertreppe. Kleines Lexikon des wissenschaftlichen Kommunizierens, Frankfurt am Main/New York 2007

Direct Democracy and Environmental Policy

(zoon politicon) Direct democracy is fascinating, even intriguing. More and more foreign
delegations who are interested in popular rights and their possibilities
visit Switzerland these days in order to get better informed.

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This week, a delegation of Greenpeace international came to Switzerland from
all corners of the world in order to talk about the impact of direct
democracy on environmental policy.

Claude Longchamp, head of gfs.berne, and Bianca Rousselot, formerly project
manager at gfs.berne and now doctoral student under Prof. Adrian Vatter at
the University of Zurich, were invited to plan an information day for the
environmental activists. Discussing direct democracy and environmental
policy from a political-science perspective, they talked about

… the Swiss polity, i.e. the cultural and structural conditions for
democracy,

… Swiss politics, i.e. the decision-making processes in a direct
democracy,

… and Swiss environmental policy and the influence of direct democracy on
it.

What was different about the day was that – upon special request of
Greenpeace – the whole event took place on board a ship cruising on Lake
Lucerne, as well as on the famous “Rütli”-meadow, the legendary heart of
Switzerland. This was the perfect location for thinking about the
differences between the traditional and revolutionary understanding of
democracy, which led to the creation of the system of direct democracy we
have in Switzerland today.

For a summary of the presentations, click here (in english).

For the report on the day, click here (in german).

Die Zitierung amerikanischer Think Tanks in Massenmedien nimmt dramatisch ab

(zoon politicon) Think Tanks haben in den USA seit dem 1. Weltkrieg in der Politik Tradition. Seit dem 2. Weltkrieg sind sie ein Teil der Verbreitung des American Way of Politics. Und seit den 90er Jahren gehören sie zu den wichtigen Stimmen in der medialen Oeffentlichkeit.

Der jährliche erstellte Fair-Report betont, nach 2005 und 2006 zum dritten Mal, dass die Verbreitung von Expertenmeinungen aus amerikanischen Denkfabriken in den amerikanischen Massenmedien rückläufig ist.

Das Phänomen betrifft mehr oder minder alle bedeutenden Think Tanks. Stellt man auf die 25 Top Denkfabriken ab, ist ihre Zitierquote inner Jahresfrist um 17 Prozent zurückgegangen.

Der Bericht ist ein wenig ratlos, erwähnt das Fehlen von nationalen Wahlen, aber auch grosser Issues. Das grösste Thema, der Irak-Krieg, traditionellerweise eine Profilierungsmöglichkeit für Denkfabriken, habe zu einer Ernüchterung in der Verwendung von Expertenmeinungen geführt.

Die aktuelle Top-Liste sieht wie folgt aus:

1. Brookings Institution (Centrist, 2380 Zitierungen, -7 %)
2. Council on Foreign Relations (Centrist, 1191, -24 %)
3. American Enterprise Institute (Conservative, 1171, -18 %)
4. Heritage Foundation (Conservative, 1168, -16%)
5. Center for Strategic and International Studies (Conservative, 1068, -23%)
6. RAND Corporation (Centrist, 740, -20%)
7. Kaiser Family Foundation (Centrist, 706, -31%)
8. Center for American Progress (Center-Left, 673, -2%)
9. Cato Institute (Libertarian, 640, -18%)
10. Urban Institute (Center-Left, 558, +18%)

Da der Rückgang alle politischen Richtung betrifft, dominieren die Denkfabriken, die im Zentrum angesiedelt werden können, immer noch (47% aller Zitierungen), gefolgt von den konservativen (37%) resp. den progressiven (16%) Instituten.

Claude Longchamp

Beyond Lijphart: Vatters Analyse der schweizerischen Konkordanz von heute

(zoon politicon) Arend Lijphart’s bahnbrechende Analyse von Demokratie-Muster habe ich hier ja schon gebührend vorgestellt. Seine Einteilung der Schweiz als extremer Fall einer Konsensdemokratie ist bei mir und ersten Kommentatoren nicht unbestritten geblieben. Jetzt liefert Adrian Vatter, seit Februar 2008 neuer Politologie-Professor an der Universität Zürich, eine empirisch gehaltvolle Re-Analyse von Lijphart’s Ueberlegungen, die zu einer vergleichbaren Relativierung gelangt.

Neue Zeit – neues Material

Wertvoll ist Vatters Studie, weil sie sich streng an der neue Konzept der international vergleichenden Demokratieforschung hält, dieses aber mit neuen Daten füllt, welche den Zeitraum 1997-2007 betreffen.

Das empirische Material bezieht Vatter aus 10 Veränderungen und Reformen, welche die Institutionenpolitik der Schweiz in den letzten Jahre bestimmt haben. Namentlich sind das

. die Wählergewinne der SVP,
. die Veränderungen im Wahlmodus für den Bundesrat und
. das erstmalige Eintreffen des Kantonsreferendums

als die zentralen Prozesse der Gegenwart, dann aber

. die Totalrevision der Bundesverfassung,
. die Bilateralen Abkommen I und II mit der EU,
. die Justizreform,
. der Beitritt der Schweiz zur UNO,
. die Reform der Volksrechte und
. der neue Finanzausgleich als die wichtigsten Reformen.

Bestehendes Konzept – veränderte Positionierung
Bezogen auf die Zeiträume, die Lijphart untersucht hatte (vor allem 1945-96, speziell aber auch 1971-96) bewertet Vatter seine neuen Beobachtungen nun wie folgt:

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Quelle: Vatter (2008)

Erstens, das Verhältnis von Exekutive und Parteien, in der Schweiz typischerweise zugunsten der Regierungen geregelt, verändert sich in Richtung politische Parteien. Das gilt als Zeichen dafür, dass Wettbewerbs- gegenüber Verhandlungsmuster gestärkt wurden. Ins Gewicht fallen die Veränderungen im Wahlrecht, die Stärkung der Legislativen und der vermehrte Pluralismus unter den Interessengruppen, die alle in Richtung majoritärem Typ wirken.

Zweitens, das Verhältnis von Bund und Kantonen beurteilt Vatter insgesamt stabiler; die Veränderungen halten sich in Grenzen, bei der Suprematie Dritter über den Gesetzgebungsprozess entwickeln sich die Schweiz sogar eher in Richtung gemischter Strukturen.

Beides zusammen hat zur Folge, dass die Schweiz, auf der Landkarte der Demokratien weiterhin im Süden angesiedelt wird, das heisst ausgesprochen föderalistisch bleibt. Bezogen auf die Ost/West-Achse kommt jedoch eine Abbau der weltweit extremen West-Position hinzu.

Bewertungen für Theorie und Praxis
Vatter stellt sich die Frage, ob die Schweiz unverändert eine akzentuiert machtteilende Verhandlungsdemokratie sei oder nicht. Er beantwortet sie mit einem vorsichtigen “Nicht-mehr-ganz-so-stark”. Er spricht von einem zunehmenden Normalfall einer Verhandlungsdemokratie. Von einer Wettbewerbsdemokratie sei die Schweiz noch weit entfernt, die Extremposition bei der Konsenssuche sei aber aufgeweicht.

Das lässt Adrian Vatter auch einige Folgerungen zur aktuell laufenden Debatte ziehen: Aller Normalisierungstendenzen zum Trotz befinde sich die Schweiz im Demokratienvergleich immer noch klar auf der Seite der Konkordanz. Sie sei “noch weit entfernt” von einen Regierungs/Oppositionssystem, wie es von der SVP aufgrund ihrer inneren Befindlichkeit diagnostiere. Zudem gäbe es erhebliche “Hindernisse für einen Systemwechsel zu einem Konkorrenzsystem in der Schweizerischen Referendumsdemokratie.”

Offen ist aber für Vatter, wie die Schweiz mit den beiden unterschiedlichen Tendenzen umgehen wird: der Polarisierung innerhalb des Parteienlogik einerseits, der weitgehend Stabilität im Verhältnis von Bund und Kanton andererseits.

Weshalb ich die Lektüre empfehle
Was mir an der Studie besonders gefällt? Erstens ist sie knapp gehalten und ausgesprochen lesbar verfasst. Zweitens ist sie materialreich und dieses ist konsequent verarbeitet. Und drittens werden die Befunden, die in der Binnensicht der Schweiz gerne dramatisiert werden, durch das international vergleichende Vorgehen in das Licht gerückt, in das sie gehören.

Allein schon damit ist Adrian Vatter über Arend Lijpharts Grundlagenwerk hinaus gegangen. Dass es dabei zu Schlüssen zwischen politikwissenschaftlicher Theorie und politischer Praxis kommt, ist für mich umso erfreulicher.

Claude Longchamp

Adrian Vatter: Vom Extremtyp zum Normalfall?, in: Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 14/2008, pp. 1 ff.

Erstanalyse des Fahrplanwechslers

(zoon politicon) Der Dokumentarfilm von Schweizer Fernsehen über die Abwahl von Christoph Blocher als Bundesrat mischte die Geschichte neu auf. Nun meldet sich einer der Wortführer des Fahrplanwechsels direkt zu Wort. Andi Gross, selber Politikwissenschafter, Publizist und Politiker, macht seine Diagnose zum wichtigsten Ereignis der jüngsten Zeitgeschichte in der “Berner Zeitung” deutlich. Ich fasse hier die vier Thesen von Andi Gross zu Ursachen und Folgen der Abwahl zusammen, lasse aber die eher parteipolitisch gefärbte Analyse der Parteien des SP-Nationalrates ganz weg.

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Gemeinsam mit KollegInnen untersuchte Andi Gross Ende August 2007 die Möglichkeit der Abwahl von Christoph Blocher als Bundesrat, und lancierte damit als Nationalrat die Kampagne gegen das Regierungsmitglied. Heute analysiert er als Politikwissenschafter, was wie die Abwahl zustande kam und was bisher daraus wurde.

1. These: Die Erklärungsebenen der Abwahl vob Bundesrat Blocher
Die Abwahl von Bundesrat Blocher hat nach Gross hat drei Erklärungsebenen: erstens, den persönlichen Umgang mit ParlamentarierInnen, der beleidigend und erniedrigend war; zweitens, das Kippen von ParlamentarierInnen, die 2003 Blocher gewählt hatten, um ihn zu zähmen und die SVP zu bändigen, bei den Parlamentswahlen 2007 aber enttäuscht wurden, und drittens, der politische Widerspruch zu Blocher und zur SVP, der Verfassungs- und Völkerrecht zum Gegenstand parteipolitischer Gefechte mit Blocher als Schiedrichter machen wollten.

2. These: Die Motivation von Bundesrätin Widmer-Schlumpf
Ueber seine Rolle bei der Suche nach einer Alternative zu Blocher, schweigt sich Gross jedoch aus. Die Wahlannahme durch Eveline Widmer-Schlumpf sieht er doppelt begründet: Sie habe das höchste der irdischen Güter, die man als PolitikerIn anstreben können, angenommen; Kollege Schmid habe ihr auch klar gemacht, dass der Sitz sonst an die CVP gehe.

3. These: Der selbstverschuldete Trugschluss der SVP
Den Aerger der SVP nach der Abwahl versteht Gross; andere Parteien hätten mit vergleichbaren Situationen auch schon umgehen müssen. Die SVP sei nach den erneut gewonnenen Parlamentswahlen übermütig geworden. Sie sei Opfer ihres eigenen Trugbildes, ihrer eigenen Rhetorik und ihrer unscharfen Analyse geworden. Zudem habe sie auf das Erfolgsrezept von 2003 vertraut: «Blocher oder Opposition».

4. These: Die Herausforderung der republikanischen Mehrheit gegen Blocher
Die republikanische Mehrheit, welche Blocher abgewählt hat, steht nach Auffassung von Gross nun in der Verantwortung. Sie müsse verhindern, dass die SVP zu einer Partei mit einem Wähleranteil von 35 Prozent werde. Sie habe ihre Aufgabe noch nicht begriffen und handle aufgrund innerparteilicher Ueberlegungen nicht koordinert. In zentralen Fragen werde sie das aber tun müssen, selbst wenn sie keine Koalition der Sieger werde; vielmehr sieht Gross kleine Konkordanzen kommen, die angesichts des Referendumsdruckes situativ geschlossen werden und ein fallweises Ausscheren auch weiterhin erlauben.

Mein Kommentar
Andi Gross hat seine Fähigkeit bewiesen, sowohl als Politikwissenschafter zu denken, als auch als Politiker zu handeln. Das gilt, was die Abwahl betrifft, und es gilt auch, was die Herausforderungen angeht.

Dabei vertritt Gross seit Jahren eine Position, die in der Politikwissenschaft nicht unbestritten ist. Es geht um das Verhältnis von politischer Konkordanz und direkte Demokratie, das er, anders als die Mehrheit der hiesigen Politikwissenschafter, stets recht flexibel interpretiert hat. Institutionell hat er gute Argumente auf seiner Seite, gegen die kleinen Konkordanzen, gibt es aber auch erhebliche Einwände.

Richtig ist an der Diagnose von Gross, dass es in der Schweiz keine Tradition gibt, in Mehr- und Minderheiten zu denken. Ohne diese Ueberlegungen wäre aber die Abwahl von Blocher nicht möglich gewesen. Sie hat sich hier, fallweise, personenbezogen und als Negativ-Allianz ergeben. Als Positiv-Allianz, die auch thematisch und strategisch denken würde, existiert sie indessen nicht, und ist das Bewusstsein dafür, eine solche zu schaffen, nur schwach entwickelt.

Claude Longchamp

Das Interview in der vollen Länge

Die sieben Schweizen

(zoon politicon) Mitten im turbulenten Wahlkampf 2007 sind Roger de Weck und Kurt Imhof durch eine historisch inspirierte, auf die Gegenwart zielende Kurzfassung der neuesten Schweizer Gesichte aufgefallen. Hier ihre Thesen, die nicht nur geschichtlich gelesen werden können, sondern auch einiges zur politischen Kultur der Schweiz erzählen in meiner eigenen Zusammenfassung.

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“Wir waren/sind viele”, analysieren die beiden Publizisten Roger de Weck und Kurt Imhof das Selbstbewusstsein der Schweiz in Geschichte und Gegenwart; doch arbeite kaum mehr jemand am “Projekt Schweiz” suggerieren sie in ihrem Beitrag für “Das Magazin” im Wahljahr 2007 (Foto: cal)

1. Die Kuh-Schweiz
Die Kuh-Schweiz hatte ihr Herz in den Voralpen. Sie lebt von der Erinnerung an die vorindustrielle Zeit des Ancien Régimes. Diese Schweiz korrespondiert mit dem Bild, das die intellektuellen Eliten namentlich im 18. Jahrhundert von ihrem Land, ihrer Natur und ihren Menschen entwarfen, bevor es die Schweiz als gemeinsamen Staat gab. 13 Orte waren souverän; sie waren patrizisch, zünftisch oder in Form von Landsgemeinden verfasst. Allesamt hatten sie einen oligarchischen Charakter, der in den minderberechtigten Untertanengebieten kritisiert wurd. Dort fasste die Aufklärung am stärksten Fuss und verabschiedete sich von der Kuh-Schweiz.

2. Die Revolutions-Schweiz
Napoléon Bonaparte war der General der Revolutions-Schweiz. Doch seine Revolution von oben scheitertr an der Kraft des Föderalismus. Diese wiederum hatte angesichts der beginnenden Industrialisierung nur in einem weiter gefassten Bundesstaat eine Zukunft. Die meisten Revolutionen von 1848 misslangen; jene in der Schweiz brachte eine neue fortschrittlich Republik hervor, umgeben von konservativen Monarchien. Die Willensnation Schweiz hatte ihre eigene Verfassung, ihre eigenen Organe: den Bundesrat, die Bundesversammlung mit National- und Ständerat, das Bundesgericht, das Volk und die Kantone. Sie waren nach den Prinzipien der repräsentativen Demokratie aufgebaut, machten aber Konzessionen an die demokratische Bewegung gegen die neuen Bundesbarone: die Einführung der Volksrechte komplettierte die Führung des Staates auf mehreren Ebenen, durch mehrere Treiber und Behörden nach dem Muster der Gewaltentrennung. Die kulturellen Spaltungen des Landes, seit der Reformation dominant, wurden endlich überwunden. Das eröffnete Spielräume für den vorbildlichen Gotthard-Tunnel, die Eisenbahnen, die Hochschulen, das Banken- und Versicherungswesen.

3. Die Bürgerblock-Schweiz
“Belle Epoque oder Klassenkampf?2, das ist die Frage für die Zeit von 1874 bis 1919. Das Bürgertum, bisher regional und konfessionell gespalten, bemühte sich angesichts des Aufstiegs der Arbeiterbewegung um Einheit. Die Geburt der Nation Schweiz, gerade mal 43 Jahre zurückliegend, wurde ins Jahr “1291” zurückdatiert, und sie wurde gebührend gefeiert. Die Linke war gespalten zwischen Internationalismus und Nationalismus, zwischen revolutionärer und bürgerlicher Demokratie. Der Generalstreik am Ende des Ersten Weltkrieges spaltete das Land in Sprachgruppen und soziale Klassen. Angesichts der bolschewistischen Gegenposition zum Kapitalismus musste das Bürgertum nunkonfessionelle und interessenmässig unterschiedliche politische Parteien auf eine Linie bringen; die Linke diente ihr dabei als inneres Feindbild. Doch die Stabilität stellte sich nicht ein; die bürgerliche Demokratie stürzte in ihre tiefste Krise.

4. Die Geistige-Landesverteidigung-Schweiz
Die äussere Bedrohung durch Nationalsozialismus und Faschismus einigte die Schweiz. Die Demokratie wurde im Zweiten Weltkrieg durch ein autokratisches Vollmachtenregime ausser Kraft gesetzt. Wahlen und Volksabstimmungen wurden ausgesetzt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren jetzt Sozialpartner der blühenden Exportwirtschaft. Die Spitzen der Parteien arbeiteten unter der Führung der Armee zusammen. Das Reduit und das Rütli avancierte zum Sinnbild für die Befindlichkeit. In den Voralpen zelebrierte man Neutralität, in den Städten arbeitete die Wirtschaft für den Export. An der Grenze half man Flüchtlingen, die die Politiker am liebsten gar nicht gehabt hätten. Die Rückkehr zur Demokratie nach dem Krieg verlief nicht reibungslos: Der Bundesrat wollte ein repräsentatives System. Das Volk wiederum machte seine Rechts geltend. Zur versöhnung wurde die AHV geboren; die Gleichberechtigung der Geschlechter musste nochmals warten.

5. Die Musterschüler-Lehrmeister-Schweiz
1959 wurde das Konkordanzsystem in Wirtschaft und Politik vollendet. Die Zauberformel wurde geboren. Jetzt wird die politische Macht numerisch, nicht ideologisch geteilt: 4 Parteien, allesamt gezähmt, regieren seither das Land gemeinsam. Das Wirtschaftswunder folgtr auf den Fuss. Die Autobahnen liessen das Land zusammenwachsen. Der Service Public befriedigte die Interessen der Konsumenten. Die Schweiz wurde zum friedfertigen Paradies, und man erzählt es liebend gerne allen auf der Welt. Doch die Idylle bekam Kratzer: Die Intellektuellen beklagten die Denkblockade und das helvetische Malais. Es beschäftigte sie die schwindende Partipation im entideologisiert Land; sie riefen nach den Frauen, die in die Politik miteinabezogen wurden.

6. Die Anti-Schweiz
Die Ueberfremdung ist das Gegenstück zum ökonomischen Aufstieg. Die nationale Rechte machte Ende der 60er Jahre gegen die Wirtschaft mobil. Die studentische 68er Linke erklärte das Private zum Oeffentlichen und rebellierte gegen die Kleinbürgergesellschaft. Dissonanz statt Konkordanz war angesagt. Selbst die FDP, die staatstragende Partei, machte rechtsumkehrt und begründete ihren epochalen Slogan: “Mehr Freiheit, weniger Staat”. Die Anti-Schweizer aller Lager wurden zur neuen Norm: Die Feministinnen sagten PorNo, die Oekologen Nein zu Atomkraftwerke, und die Autoparteiler waren gegen Tempolimiten. Das Volk, vereint im berühmten Nein-Sager, war schliesslich massiv gegen die UNO.

7. Die Weniger-Schweiz
Die vorläufig letzte Wende kam 1989. Der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum und zur EU misslang schon in den Anfängen. Die siegreiche nationalkonservative Bewegung stärkte die SVP. Das geschwächte Zentrum wollte statt des Alleingangs die Oeffnung via Bilateralismus, war dabei aber auf die Unterstützung der aufstrebenden SP und Grünen in den linksliberalen, urbanen Schichten angewiesen. Die wiederum setzten den UNO-Beitritt durch. Damit grifg Bi-Polarisierung der Parteienlandschaft endgültig um sich und blockierte weitere innere Reformen. Die neue Bundesverfassung geriet in Vergessenheit, bevor sie in Kraft gesetzt wurde. Die Wirtschaft wiederum denkt in den Kategorien der globalen Funktionssysteme, die lokale Politik kümmert sie nicht mehr gross um die Politik. Sie will stabile Verhältnisse. Und Geld, als die Swissair abstürzte. Sonst präfereiert sie Steuersenkungen, und verlangt sie Liberalisierungen der Wirtschaft. Doch die Kantone rebellieren, haben Angst, immer mehr Lasten übernehmen zu müssen. Das alles ist widersprüchlich, “Uebervater” Christoph Blocher soll das mit seinem Kommunikationstalent zusammenhalten. Dafür wird er Bundesrat, doch er lässt sich nicht bändigen. A suivre!


Kommentar

Kurz vor den Parlamentswahlen vom 21. Oktober 2007 fassen die beiden Publizisten die Lage der Nation wie folgt zusammen: “Die Verkürzung der Debatte um die Erneuerung der Eidgenossenschaft auf Steuern, Staatsdefizit und Standort verrät ein Desinteresse am Projekt Schweiz. Dahinter steht eine staatspolitische Null-Bock-Haltung, deren Sinnbild das Maskottchen der SVP ist, der kastrierte Geissbock.”

Die Analyse der beiden herausragenden Publizisten der Gegenwart ist geistreich, witzig. Sie ist aber auch massiv verkürzt, und wohl etwas elitär gehalten.

Claude Longchamp

Der Originaltext
Mein Gespräch mit Roger de Weck zum “Projekt Schweiz” in der Sternstunde Philosophie von Schweizer Fernsehen